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Das niedrigste Lebensgefühl

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In Gegenwirkung auf den kaiserlichen Revolutionär ist von dem Deutschland nach dem Freiheitskrieg die Trennung der gesellschaftlichen Stände streng eingehalten wie lange nicht. Die Bevorrechteten ergingen sich mit ihren märchenhaft überlebten Befugnissen in einer Atmosphäre, die selbst unlebendig war. Daher war sie ihnen günstiger als, vor allen Ereignissen, die geistig bewegte Zeit der Aufklärung. Keine Fortführung der Reformen natürlich, angenommen, sie hätten ernstlich begonnen. Ob das richtige Wort im Gebrauch war, deutsche Bauern waren Leibeigene.

Die geistige Atmosphäre nach dem Freiheitskrieg wird beschönigt, wenn sie »Romantik« heißt. Romantisch denken und dichten bedeutet nicht jedesmal, nicht überall die Abkehr vom Gegenwärtigen und ein ermüdetes Lebensgefühl. Mit langer, maßloser Überanstrengung konnten damals allein die Franzosen das Nachlassen ihrer Geister entschuldigen. Dennoch sind in ihrer Literatur der Zeit die dunklen Erscheinungen die selteneren – auch die nur vorläufigen, wie sich versteht. Victor Hugo tritt auf, alsbald verbreitet sich Helligkeit, Jugendfreude, eine sieghafte Energie. In dem einen hat sie angehalten bis an sein spätes Ende: da hatte er alle, die er haßte, begraben, auch den letzten Despoten seines Landes.

Hier ist romantisch ein besonders hohes Herz und sein unfehlbarer Ausdruck. Romantisch die abgekürzte Psychologie in Figuren, die um sich schlagen wie auf Gemälden, oder aus einem Stück dastehen, Bildwerke, kaum dem Stein erst abgewonnen. Genau so hat Rodin den Dichter selbst wiedergegeben. Das ist er, dieser moderne Mensch. Romantischer Stil, die großen Gefühle, mitsamt Erfindungen, die nach dem Rechenbuch zu weit gehen, das alles hat ihn nicht gehindert, klar und scharf zu sehen.

Wenn seinesgleichen ins Exil wandert, ist es, weil er zu viel gesehen hat, dafür muß er noch mehr sehen. Die drei Bände, vor, während, nach dem Exil, zeigen Hugo im Straßenrock, Hugo auf der Ebene der Passanten; – und einem anderen halben Jahrhundert wäre diese Darstellung zu wünschen: Exakt, aber bestrahlt die Wirklichkeit selbst, unmittelbar und ewig, wie der Genius. Nicht im Wissen, nicht in der universalen Persönlichkeit, aber kraft seines standhaften Lebensgefühls finde ich den alten Sänger, den Kämpfer, der immer strebend sich bemühte, herangewachsen bis zu Goetheschen Maßen. Von keinem der deutschen Romantiker ist das gleiche zu sagen.

Die deutsche Nachkriegsliteratur ist sichtlich der Befreiung von Napoleon zu danken; daher wird an der Romantik nichts derart wahrgenommen, als folgte sie zeitlich auf die große Dichtung des 18. Jahrhunderts. Die Klassiker haben befestigt und erhalten, was den Deutschen je zu eigen war an Form und Vernunft. Sie fassen Deutschland zusammen, will meinen: aus seiner Geschichte, dem Leben der Nation in allen Zeiten erwecken sie die guten Momente, bei ihnen sieht Deutschland normal, edel sogar sieht es aus; man erfährt, so könnte es sein. Wäre nicht jeder dieser Autoren eine erlesene, einmalige Blüte des Bodens, und nicht dieses Bodens allein, alle zusammen würden verführen, das Beste zu erwarten von Deutschland.

Die Romantiker haben den Tatbestand richtiggestellt. Ungestalt und das Unterbewußte herrschen vor – nicht aus innerem Zwang allein, auch gewollt, in Flucht aus äußerer Not. Man hält es ja nicht aus, unter staatlichen, gesellschaftlichen Umständen, die von den Schlägen der Französischen Revolution schon niedergebrochen, nachher zurechtgekramt und einer schwachen Nation doch wieder aufgehalst sind. Um die Ehre der besser unterrichteten Intelligenz zu retten, spielt man verrückt oder ist es wirklich. Man tut mystisch, mit dem Tod auf du und du, – um vor dem Sterben aufzuschreien: nur leben!

Man erzählt Märchen, lustig leichtflüssig, aber die Laune ist erheuchelt, die Verlegenheit wäre schrecklich, müßte man ein einziges Mal die unverblümte Wirklichkeit hinschreiben – noch schlimmer: ein wahres Wort über Dinge, die da kommen. Die deutschen Romantiker sind keine Analytiker (bis auf einen) und werden niemals Propheten. Die Atmosphäre der Zeit ist ihnen zu dick, um hindurchzublicken. Sie wissen sich nicht zu helfen gegen all die Heuchelei, sind selbst auch eingefangen.

Ein Zeugnis der Selbsthilfe, ganz fern der deutschen Romantik, ist Le Rouge et le Noir. Da empört sich einer gegen die übermächtigen Lügen des Zeitalters, er überbietet sie in feindlicher Absicht, macht angestrengt seinen ehrgeizigen Weg, und der endet am Richtplatz. Aber Julien Sorel hatte als innere Stütze den General Bonaparte, – er war da gewesen, nicht nur für seinen Augenblick der hochgespannten Wahrheiten: sie müssen immer wieder siegen. Als Stendhal, vordem kaiserlicher Offizier, das Buch schrieb, entblößte er, höchst nüchtern, den Zustand seiner jüngeren Zeitgenossen, sofern sie Geist und Herz besaßen. Für seinen Teil hatte er gehabt, was sie unbekannt beklagten. Bis zuletzt fühlte er sich als den Gefährten des Siegers der Freiheit. Ihn sollte nichts anfechten.

Er trug den Kopf hoch, legte ein ungedrucktes Werk nach dem anderen fort und sagte auf das Jahr genau voraus, wann man sie lesen werde. Er war nicht mehr dabei. Seine Berechnungen beruhen zweifellos auf der Kenntnis Frankreichs, seiner Zukunft, sie gehen nur dieses Land an. Unerforschlich blieb ihm, daß ein anderes, entferntes Reich den Sinn und Gehalt seiner revolutionären Jugendtage erneuern werde, und daß ihm dort, erst dort die unbemessene Zahl von Lesern bestimmt sei.

Die armen deutschen Romantiker, die Gabe voraus zu wissen haben sie sich nicht beigelegt; sie zogen ein Halbdunkel vor, sogar über ihre Lage bei Lebzeiten. Die Weltflucht ist bedingt durch ein fragwürdiges Gewissen. Preußische Offiziere sind unter diesen Schriftstellern. Sie und ihre Generation hätten gegen Napoleon, wenn sie ihn schon zum Teufel wünschten, nicht ein Wesen veranstalten dürfen, als erfüllten sie die höchsten sittlichen Gebote. Die waren wohl eher auf seiner Seite, und als praktischer Vorwand, ihn zu bekämpfen, konnte nur dienen, daß er ein Fremder war. Der Erfolg seiner Feinde hatte sie enttäuscht: jeder öffentlich Denkende muß es empfunden haben – in höherem Grad als die sich still verhalten.

Das Lebensgefühl der deutschen Romantiker ist das niedrigste, das eine Literatur haben kann. Das kommt nur vor, wo, mit oder ohne Nötigung, falsch gehandelt wurde. Eine Mannschaft von Romanciers, die soziale Tatsachen darstellt, kann meinen, die nächste équipe werde für ihre Zeit dasselbe tun. Hundert Jahre ist dies wahr gewesen, in Frankreich wie in Rußland. Aber Zaubermärchen, altdeutsche Maskierung, künstliche Verzückung, ein grundloser Tiefsinn, wer soll das fortsetzen. Diese Dichter schreiben wie die letzten Menschen.

Goethe, der große Liebhaber des Lebens, mochte die ganze Gesellschaft nicht. Er nannte sie krank. Sie standen aber für ein Land, das nicht gesund war, es auch nie wieder ganz geworden ist. Ihrerseits haben sie Goethe wenig verkannt; die Hauptsache, sein hohes und einfaches Lebensgefühl, überzeugte die meisten. Es ergriff ohne Zweifel den Lebensfähigsten, E. T. A. Hoffmann: verstreut in seinen Werken sind Liebeserklärungen an Goethe, – der keine Kenntnis davon nahm. Nach den ersten von Hoffmanns Erzählungen hat er zu Eckermann gesprochen: In den gewöhnlichen Alltag das Wunderbare einzuführen überrasche, und für einmal möge es hingehen, aber nicht oft. Der arme Hoffmann starb zu früh, um hiervon noch zu erfahren.

Der wirkliche Zustand Deutschlands erklärt sich offen, wenn ich von den Schöngeistern übergehe zu den Philosophen und Gymnasten. Politik kommt nicht in Betracht; in eine Sackgasse verrannt, ist man mit der Frage, wie es unmittelbar weitergehen soll, fertig. Als Ersatz hat man Geschichte. Zur Tröstung züchtet man einen verhängnisvollen Fanatismus nationaler Geltung. Je gedrückter die Nation bei sich zu Haus ist, um so gewisser muß ihr Beruf in der Welt ohne Grenzen sein.

Weltherrschaft – der deutsche Traum hat angefangen mit Leuten, die den großen Kaiser, als es seine Bestimmung war, denn auch besiegt hatten, sie selbst aber konnte jeder Profos durchprügeln. Die Anfänger der deutschen Weltherrschaft verkleideten sich altdeutsch, schlugen die Bauchwelle und kamen oft auf Festung. Den überkommenen Mächten im Staat waren Umwälzungen verdächtig, auch wenn sie auf erweiterte Grenzen Deutschlands abzielten und nur in großen Worten vollzogen wurden. Die Herrscher witterten richtig. Weltherrschaft – war ihre Konkurrenz. Wer von ihr schwärmte, die Turner, die Denker, meinte auch, meinte vor allem die versäumte deutsche Freiheit. Ehrenhalber und um der Wahrheit willen sei es vermerkt.

Der königliche Rat am Kammergericht Berlin, Hoffmann, auf seinem anderen Gebiet als der »Gespensterhoffmann« namhaft, rettete einen der »Demagogen« – so hießen sie –, den sein König, der König der nicht gegebenen Verfassung, durchaus fangen wollte. Desgleichen stand es um Arndt, Jahn, Fichte, deren ausgelassenes Deutschtum heute überall beweisen muß, daß die Deutschen von jeher wie Hitler waren. Ihre übelsten Sätze werden jetzt den feindlichen Völkern zu lesen gegeben; sie haben gegen das Deutschland aller Zeiten eine gewagte Propaganda gemacht.

Auch das Bekenntnis zur Freiheit wäre zu finden bei diesen Patrioten, die national ausschweiften und um so eher als Demagogen büßen mußten. Aber wenn von vergessenen menschlichen Zeugnissen eines wieder auftaucht, noch dazu weit draußen, wo man es nie gekannt hatte, dann ist es das übelste, und die Völker sind im Krieg. Sätze von Ernst Moritz Arndt, die jetzt englisch zu lesen sind, würden allerdings »Mein Kampf« zieren. Gewiß, die Anfänger der deutschen Weltherrschaft nehmen das Buch und seinen Verfasser vorweg, schon 1815. Wer weiß indessen, wenn sie zu wählen gehabt hätten? Laßt die Welt sich selbst, macht vielmehr aus eurem Land das Bestmögliche! Die Wahl war nicht gegeben.

Ein Zeitalter wird besichtig

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