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Napoleon

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Bis zu diesen Kriegen machte auf die Deutschen den nachhaltigsten Eindruck das Ereignis, das genau hundert Jahre hinter ihnen lag. 1914 – die Marne, 1815 – Waterloo. Das erste der Beginn der Niederlage; das zweite die letzte von Entscheidungen, die meistens im Innern Deutschlands ausgemacht worden waren. Schwere Niederlagen und eine lange Fremdherrschaft mußten hingenommen werden, bis Deutschland einen Freiheitskrieg haben konnte – auch dann nicht aus eigener Kraft allein. Bei Leipzig 1813 waren die Armeen der Militärstaaten gegen Napoleon aufgeboten. Ohne die russische wäre nicht über ihn gesiegt worden.

Der Freiheitskrieg der Deutschen hat sich bei ihnen, in ihnen, für ihr Gemüt und ihre Geschichte nachhaltig ausgewirkt: Seine Folgen halten bis zur Stunde an. Weder der dreißigjährige des 17. Jahrhunderts noch die zwanzigjährigen Kriege Friedrichs des Großen hinterließen vergleichbare Spuren.

Es blieb, beiläufig achtzig Jahre, der Respekt vor Rußland. Es wurde übernommen der Begriff Napoleon, als die sieghafte Macht schlechthin. Besiegt, gestürzt, wuchs er insgeheim und beständig, nistete sich ungenannt, kaum mehr bewußt, in Deutschland dennoch ein – bis zur Nachahmung, bis den Deutschen ihn zu wiederholen möglich schien. Ungeheuerlicherweise schien es ihnen auch erlaubt. Sie hatten inzwischen vergessen, moralische Werte mitzuzählen. Sie kannten nur technische, damit kann man siegen, aber nicht für lange. Man kann, eine bemessene Weile, Herr über geraubten Raum sein, niemals über seinen Bewohner.

Die Völker fallen dem sittlich befugten Eroberer zu, solange seine Legende stark ist. Enttäuscht sie, schüttelt man ihn ab. Napoleon kam über Europa als Exekutor einer tief menschenfreundlichen Revolution. Hitler hat es befallen als eine Seuche. Die Freiheit zog unter den Fahnen des Kaisers in die besiegten Länder ein. Er befahl ihnen keinen inneren Umsturz, so wenig er die größeren der staatlichen Gefüge zerstörte. Die Regierungen selbst begannen Reformen – unzulängliche, wenn es nicht bei Versprechungen blieb. Aber die Gegenwart des Befreiers klärte die Völker über ihre Knechtschaft auf, bedenklich wurden sogar die Inhaber der Vorrechte.

Die Sache ist, daß erst die körperliche Anwesenheit der Französischen Revolution in Gestalt der kaiserlichen Heere und ihres großen Mannes auch den Deutschen ihre überholte Lage zum Ekel machte. Ihr Abstand von Frankreich beschämte jede Nation. Vorher war die Revolution wechselvoll und spannend gewesen: da erregte sie draußen viele geistige Hoffnung – die Teilnahme der Massen kaum. Als die Revolution um Frankreich kämpfte, hatte sie alle Zustände durchlaufen von ihrem hochsinnigen Aufgang bis zur tragischen Dämmerung, der nichts mehr gefolgt wäre als bittere Nacht. Napoleon allein setzt sie fort. Wenn er mit seiner einzigen Person die ganze große Revolution ablöste, hat er sie auch erhalten: er trug sie durch die Lande. Er senkte sie in die Herzen.

Dies ist der Fall, wo ein Feldherr mehr vermag als Schlachten zu schlagen. Er kann eroberten Völkern ein Segen sein. Im Verlauf der menschlichen Dinge, durch den Druck des Alltags und die Gefühle, die wechseln wollen, kam es dennoch dahin, daß der Sieger lästig wurde. Die Deutschen haben sich gegen eine Last erhoben.

Die unbestreitbare Last sind immer unsere Gefühle, und keineswegs die Tatsachen, mit denen wir sie begründen. Die berühmte »Franzosenzeit« hat den Deutschen, Generationen von ihnen, die sittliche Rechtfertigung abgeben müssen für ihre eigenen Gastspiele in Frankreich und anderswo. Aber jede Fremdherrschaft bietet Einzelziele, die einander nicht gleichen, wie auch diese Fremdherrschaft nicht jener gleicht. In deutschen Häusern sind die einquartierten Sieger ebensooft wohlwollend empfangen als widerwillig geduldet worden. Man erkannte Gesinnungsfreunde, verständigte sich, man lebte am Rhein und im Süden mit ihnen intimer, als wären sie Preußen gewesen. Indessen waren sie, nach der heutigen Auffassung, die »Welteroberer«. Auch »Herrenrasse« hätte der Name sein können. Er war nicht erfunden.

Die Nationen müssen nicht unbedingt als totes Objekt behandelt werden, nur weil man einmal auf ihrem Boden steht. Das ist eine neuere Erfahrung, sie galt noch nicht. Keine Absicht bestand, Deutschland französisch zu besiedeln, niemals sind Massen von Einheimischen nach der Fremde verfrachtet worden wie jetzt. Es sind weder Geiseln getötet worden, noch Juden und Kommunisten, noch die bekannten 200 Zivilisten für einen überfallenen Mann der Besatzung. Den einzelnen Buchhändler Palm haben die Franzosen erschossen, dafür wußte bis zu meiner Zeit jeder ihn auswendig, die deutschen Schulen lehrten unermüdlich diesen Buchhändler – haben wohl wenig Auswahl gehabt.

Exaktionen betreffend hat der kaiserliche Heeresintendant Henry Beyle, M. de Stendhal als Autor, aus Braunschweig an Abgaben einiges über den verordneten Betrag herausgeholt. Für seinen Eifer lobte ihn der Kaiser. Nächste Folgerung: der Funktionär handelte ungewöhnlich. Warum überführten sie nicht die gesamte deutsche Wirtschaft in französische Hände. Wie? Sie hatten doch die Macht!

Die Deutschen erhoben sich gegen eine Last, – womit sie auch schon begeistert sein wollten für ihre Freiheit; aber es war keine. Nach beendetem Freiheitskrieg, der Deutschland räumte – von fremden Armeen, nicht von seinen überfälligen Machthabern –, trat in Deutschland die gründlichste Erschlaffung ein.

Wenn nicht das Auftreten des Völkerbefreiers, sondern seine Vertreibung das Ereignis unter allen gewesen wäre, hätte nach seinem Abgang das Lebensgefühl nicht dermaßen herabgesetzt sein dürfen. Das aber war es. Das deutsche Lebensgefühl ist damals nicht, wie das französische, angegriffen gewesen durch die Überanstrengung der Nation während eines Vierteljahrhunderts, durch Menschenverluste, proportionell unersetzlich. Der deutsche Freiheitskrieg war umsonst. Er hat nichts gekostet, außer der besseren Zukunft, die ohne ihn bestimmt schien. Der deutsche Sieg über Napoleon, insoweit er deutsch war, trug in sich seine Strafe. »Der Mann ist ihnen zu groß«, hatte Goethe gesagt, und er hat recht behalten.

Deutsche Zeitgenossen, die keine Freude an der vergeblichen Befreiung fanden, sind kaiserlich gesinnt gewesen. Sie taten sich weniger Zwang an als die anderen. Der Anschluß des kontinentalen Westens an Frankreich war als Gedanke vernünftig, als Unternehmen erträglich, um nicht beglückend zu sagen. Man hatte vor Augen, daß die Gegenwart der verkörperten Revolution, ihr Anblick, ihr Beispiel die Nationen nicht ausstrich, nicht schwächte. Im Gegenteil, erst der Kaiser hat sie verwirklicht. Das 19. Jahrhundert, wie es dann geworden ist, seinen mächtigsten Antrieb, die nationale Idee, hat es immer noch von ihm.

Ein Jahrhundert umdenken wollen ist müßig, vergebens vermißt man sich gegen das wirklich Geschehene. Wahr bleibt, daß die Vereinigten Staaten des Westens greifbar nahe, daß sie damals in freundlicherer Gestalt angeboten waren als sie es morgen sein werden nach dem Sieg über Hitlerdeutschland. Wenn die einen entmachtet sind, die Potenz der anderen gelitten hat und als Vermächtnis dieses Zeitalters nur Elend und Mißgefühle bleiben, dann soll ein friedlicheres, geeintes Europa nunmehr in Aussicht stehen. Leichter und schöner, um einen längst unmöglichen Gedanken dennoch zu fassen, war das Reich des Okzidents, da jemand von sich sagen konnte: »Ich setze nicht die Könige von Frankreich fort. Ich bin der Nachfolger Karls des Großen.«

Als für ihn alles schon vorbei war, hat derselbe, durchaus unvergleichliche Europäer vielmehr hingesprochen, was er nicht glauben konnte: »Einmal nach Indien gelangt, wäre ich Kaiser des Orients gewesen.« Man hält seine Bestimmung nicht jederzeit gegenwärtig, auch dieser nicht. Genau zu wissen, wer ich bin, ist schon mir das Unzugänglichste, und was wüßte ich damit viel. Der andere – l'autre, wie die Seinen ihn nach dem Ende geheimnisvoll nannten – hätte ein Universum, das er war, unbeirrt ermessen müssen.

Er beging Fehler. Er war, wie ein Mensch, der Furcht unterworfen. Seine schädlichen Kriege, Spanien, Rußland, haben als Ursache die Furcht. Wäre es der Übermut gewesen! Aber er zweifelte, um so sehr zu irren, an seinen eigenen Folgen überhaupt. Dies gerade haben die Völker gefühlt, und verließen ihn. Sie taten es nicht mit freiem Gewissen. Die deutschen Freiheitskämpfer versuchten sich, nicht ganz glaubwürdig, in Begeisterung. Den schwereren Fällen gelang allenfalls eine künstliche Rauschsucht. Sie wollten sich fanatisch, das entbindet vom Denken.

Mit voller innerer Aufrichtigkeit, aber wo ist sie in Kriegszeiten, hätten alle voraussehen können, was die Räumung des nationalen Bodens wirklich bringen werde anstatt der Freiheit der Nation. Als er den Herrn los war, brach der König von Preußen sein Versprechen, eine Verfassung zu geben. Erstaunlich wäre gewesen, wenn er es gehalten hätte. Der Betrug an einem Volk, das gekämpft hatte, ist der preußischen Monarchie vorbehalten worden, solange sie noch bestand, hundert Jahre. Das waren mithin hundert enttäuschende Jahre, ihre Erfolge und Mißerfolge beiseite.

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