Читать книгу Braun & Hammer ...im Wahn - Heinz-Gerhard Witte - Страница 10

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Karl hat morgens, noch bevor die Anderen aufgestanden sind, schon eine Stunde hingebungsvoll gebetet. Dann ist er, als alle aus der Wohnung waren, zur Sicherheit auch noch zur Frühmesse gegangen.

Schließlich hat nicht er, Karl, es so entschieden! Und nicht er hat Gott, sondern Gott hat ihn auserwählt, schießt ihm auf dem Weg zur Messe wieder durch den Kopf. Und dieser Gedanke ist nicht nur wahr, weiß er, selbiger fühlt sich auch unmittelbar wahr an. Nie zuvor im Leben hat er so eine tiefe und unumstößliche Gewissheit empfunden. Ganz im Gegenteil war er früher immer der grüblerische, unentschlossene und hadernde Typ gewesen. Ja, einerseits birgt diese Wahrheit, dieser Auftrag, auch eine erhebliche Last in sich, die Last einer enormen Verantwortung. Und manchmal befürchtet er, darunter zusammenzubrechen, regelrecht davon zerquetscht zu werden. Auf der anderen Seite fühlt sich all das absolut erhebend an, dieses plötzliche Empfinden des ganz großen Sinns in seinem Dasein, als sei sein ganzes Leben zwangsläufig auf diesen Punkt zugelaufen.

Umso mehr richtet Karl sich unwillkürlich beim Gehen auf, strebt zielgerichtet, mit schwungvollem Schritt, auf das Kirchenportal zu. Wie viel Energie er in letzter Zeit hat, seitdem er seine wahre Bestimmung gefunden hat!

Lass mich ein gutes Werkzeug in deiner Hand sein, oh Herr, und wirke du durch mich hindurch! Dein Wille ist auch mein Wille. Lange hast du der Menschheit ihre Chance gegeben, ihren eigenen Weg zu finden. Mit Grausen musstest du mit ansehen, wie die Menschen für ihre selbstsüchtigen Ziele deine Schöpfung schändeten. Jetzt zeigst du Gnade und bringst kurz vor der drohenden Apokalypse alles wieder in Ordnung. Und da du dich selber nicht materialisieren, nicht körperlich sichtbar werden kannst, bewirkst du alles über deine Auserwählten. Durch dich erfahre ich diese nicht für möglich gehaltene Erfüllung! Das ist wahres Glück und reinste Liebe, die Liebe zu dir, in Einem.

Karl ist alles so klar, aber er muss noch eine Lösung für seine Therapie finden, in der er nun mal ist. Wie kann er selbige zusätzlich in den Dienst der großen Sache stellen, ohne Gefahr zu laufen, in einer geschlossenen Abteilung zu landen? Mit nichts Geringerem hatte Herr Hammer schließlich gedroht! Da wird ihm schon noch was einfallen, beruhigt er sich.

Denn Herr Hammer ist mit Sicherheit nicht sein größtes Problem.

Und so macht er sich nach dem Gottesdienst noch auf einen anderen Weg. Auch wenn seine Frau von seinen Kontrollgängen nichts wissen darf, muss er sich einfach vergewissern, dass es seinen Kindern jetzt wirklich gut geht. Man kann sich doch nie ganz sicher sein. Bestimmt ziehen die guten Kräfte und Menschen auf der Welt automatisch die bösen an, wie eine draußen in tiefer Dunkelheit stehende Kerze die Motten. Darüber macht er sich in den letzten Wochen mehr und mehr Gedanken. Sicher hält der Herr seine Hand schützend über Karl, aber tut er es mit letzter Gewissheit auch bei seinen Kindern?

»Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!«, murmelt Karl vor sich hin, während er sich dem Gelände der Heilig-Geist-Schule nähert, welches nicht weit von der Kirche entfernt liegt.

Mit seiner Größe von unter einem Meter achtzig fällt Karl zwischen den anderen Fußgängern nicht auf. „Unauffälligkeit“ könnte in der Tat auch heute wieder sein zweiter Vorname lauten, was einmal mehr durch seine schlichte Kleidung bestätigt wird. Das ist kein Zufall: Farbenfrohe und erst recht schrille Kleidung, aber auch Markenklamotten sind in seinen Augen pure Sünde, Mittel zum Zweck des Antichristen.

Der Antichrist will uns alle beherrschen, und dafür ist ihm jedes Mittel recht!

Schon während der Messe hatte Karl angestrengt darüber nachgedacht, in welcher Gestalt sich der Antichrist Sarah und David gegenüber zeigen würde: vielleicht als neuer, besonders charmanter Referendar, der sie missbrauchen und damit ihre Unschuld rauben will? Ja, das Böse setzt viele Masken auf, aber Karl wird es herausfinden.

»Feigling!«, entfährt es ihm. »Aber nicht mit mir, du Elender!«

Karl ist selten so entschieden gewesen wie jetzt und ballt im Gehen die Fäuste. Die letzte gewonnene Schlacht gegenüber Marianne hat ihm weiteren Auftrieb gegeben. Unglaublich, wie fassungslos sie über seine Reaktion auf ihren Faustschlag war! Zugegeben, er war ja selber überrascht gewesen über sein eigenes Handeln, ihr einfach die andere Wange hinzuhalten! Nun, da war er eben einer wahrhaft göttlichen Eingebung gefolgt, weiß er jetzt.

Aber er muss auf seiner Mission heute zugleich vorsichtig sein, ermahnt er sich. Bei aller Liebe zu göttlicher Führung will er einen weiteren schlimmen Streit mit seiner Frau möglichst vermeiden. Wüsste sie, dass er, statt auf Jobsuche zu sein, diese Art von Kontrollgängen durchführt, würde sie ihm mit steigender Heftigkeit vorwerfen, er sei nun endgültig verrückt geworden, ein Versager sowieso, ein Nichtsnutz, ein Schlappschwanz und so weiter. So klingt ihre Stimme gerade sehr aufdringlich in seiner Vorstellung.

Unvermittelt flucht er ins Nirgendwo: »Halt doch einmal deine dämliche Fresse!«

Ein junger Skinhead, mit im Mundwinkel hängender Zigarette und zwei vollen Einkaufstüten beladen, kreuzt in diesem Moment Karls Weg. An der letzten Straßenecke vor der Schule bleibt er fassungslos stehen, seine kalten Augen zu Schlitzen verengt: »Was war das? Du kriegst gleich was auf die Fresse, aber so richtig!«

Noch irritierter ist er jedoch über die spontane Antwort des murmelnden Mannes in der Zopfmusterstrickjacke, der sich ihm nicht einmal eingeschüchtert zuwendet: »Der Herr segne dich und sei mit dir«, sagt dieser gedankenverloren und wirkt vollkommen in sich versunken.

Dem verwirrten Skinhead fällt die glimmende Zigarette aus dem Mundwinkel, ausgerechnet knöchelseits in das Innere seines zu locker geschnürten linken Ledertreters. »Aua! Verdammte Scheiße … Du dämliches Arschloch, na warte!«

Und dann lässt er, ein Unglück kommt selten allein, die Tüte mit den fünfzehn Herforder-Flaschen los, dass es nur so scheppert und knirscht. Aber wenigstens löscht die schäumende Bierfontäne die Zigarette in seinem Schnürstiefel. In einer wilden Mischung aus ebenso schäumender Wut und Konfusion schaut er die Straße hinunter, aber nichts mehr zu sehen von dem seltsamen Typen mit der spitzen Nase. Die mutete ihn schon verdächtig jüdisch an.

Soll er noch hinterher rennen und dem mit seinen arischen Fäusten mal zeigen, wo der Hammer hängt? Er beginnt, sich innerlich aufzupumpen, hält dann aber inne. Nein, beschließt er, wahre germanische Überlegenheit zeigt sich, indem man auch mal einen Untermenschen laufen lässt! Aber verdient hätte der es schon. Unschlüssig steht er noch einen Moment da, in dem Arrangement aus Plastiktüte, Scherben und sich ausbreitender Bierlache.

»Heil Hitler!«, ruft er dann urplötzlich, weil er nicht einfach gar nichts machen kann. Automatisch will er dazu den rechten Arm hochreißen, was grotesk wirkt, da er hier die andere Einkaufstüte in der Hand hat.

Nie wieder will er einkaufen gehen, schwört er sich, das sei eh Frauensache und unter seiner Würde, ab heute sowieso. Fluchend trollt er sich.

Karl, der diese Begegnung nur am Rande wahrgenommen hat, sitzt fünf Minuten später unmittelbar gegenüber des Pausenhofs der Heilig-Geist-Schule und ist derweil in ganz andere gedankliche Dramen vertieft. Gerade treibt es ihn um, alles zwischen Marianne und ihm könnte soweit eskalieren, dass sie sich am Ende womöglich von ihm scheiden ließe und die Kinder mitnähme. Um diese schreckliche Vorstellung nicht weiter bohren zu lassen, bekreuzigt er sich, faltet dann die Hände zu einem kurzen, aber intensiven Gebet. Danach ist er sich sicher, wenn Marianne ihn heute Abend nicht mitsamt der Kinder verließe, so hätten seine Gebete Wirkung gezeigt.

Mit der beruhigenden Wirkung des Gebets fällt ihm auch wieder ein, warum er hier eigentlich sitzt. Von einer gut durch Büsche und Bäume getarnten Ecke des Schulhofs beobachtet er nun von außen, es herrscht reges Pausengetümmel, seine Kinder beim Spielen. Sie spielen zusammen ganz nahe dem Klettergerüst und vor allem der Schaukel. Sarah und David scheinen schweigend mit ihren Füßen Sand von A nach B zu verschieben, genau kann er es nicht erkennen.

Aber da, Karl reißt schockiert die Augen auf, sein Herz rast, nimmt sich ein kleiner Junge mit dunklem Teint und schwarzen Haaren die Schaukel, zieht sie hoch und grinst hämisch zu seinen Kindern rüber.

Diese Ausgeburt der Hölle, denkt Karl, denn „kleiner Satansbraten“ trifft es in seinen Augen nicht mehr, haut doch gleich seinen Kindern mit voller Absicht die Schaukel in den Rücken, um sie in die Querschnittslähmung und den Rollstuhl zu befördern! Er muss sie retten!!!

Karl ist versucht zu schreien, weiß aber, dass er gegen die Lautstärke der Kinder nicht ankommt. Panisch stürzt er los und will das Unmögliche möglich machen. Doch um auf den Schulhof zu kommen, müsste er zunächst um den hohen Zaun herumlaufen, dann durch das Tor und die Menge der vielen Kinder hindurch. Wird er es noch rechtzeitig schaffen?

Mit Gottes Hilfe!

Ganz außer sich rennt er weiter, ungeachtet dessen, dass er andere Passanten und dann die Kinder auf dem Schulhof anrempeln würde. Egal, er muss dem Antichristen Einhalt gebieten!

In diesem Moment erschallt ein schrilles Klingeln aus den Lautsprechern und das Ende der Pause ist gekommen. Die Kinder hören, mehr oder weniger enttäuscht, auf zu spielen und schlendern in Richtung ihrer Klassenräume zurück. Auch Sarah und David gehen schweigend nebeneinander zurück in ihre Klassenräume. Der dunkelhäutige Junge mit den schwarzen Haaren hingegen bleibt noch bei den Spielgeräten und ergreift seine Chance. Endlich stören ihn die anderen nicht mehr und er hat die Schaukel für sich alleine. Mit Schwung schmeißt er sich bäuchlings auf die Schaukel, pendelt lachend hin und her und träumt mit wehendem Afrolook vom Fliegen.

Karl bleibt unvermittelt stehen, ist außer Atem, hustet und fühlt sich nur noch verwirrt. Endlich war sein Einsatz gefordert, wollte er seine Fähigkeiten zeigen und dann löst sich die Situation so banal auf? Er ist tief enttäuscht, schnauft, steht erschöpft an das Eingangstor zum Schulhof gelehnt.

Dann kommt ihm der erlösende Gedanke! Ja, ganz klar – manchmal sieht er ja den Wald vor lauter Bäumen nicht: Nur weil er in der Kirche war und eben noch gebetet hat, klingelte es rechtzeitig und seinen Kindern ist nichts passiert!

Selten war er so erleichtert. Er will sich gerade auf den Heimweg machen, als der Junge mit dem Afrolook, unmelodisch pfeifend, in seinem Gesichtsfeld auftaucht, um sich verspätet zu seinem Klassenraum zu begeben.

Karl kann nicht an sich halten und raunt: »Aber mit dir elender Teufelsbrut bin ich noch lange nicht fertig, falls du das denken solltest! Wir fangen nämlich gerade erst an!« Tief schaut er dem Jungen, der erschrocken stehen bleibt und aufhört zu pfeifen, in die großen braunen Augen.

»Und ich erkenne das Böse, wenn es mir begegnet, also nimm dich in Acht!«

Dann erst wendet Karl sich zum Gehen und ist zufrieden. Endlich hat er dem Bösen die Stirn geboten!

Der Junge bleibt reglos stehen, angewurzelt, wie es ihm seine Mutter im Kongo beigebracht hat, wenn sie die Stimmen der Männer von der anderen Seite des Flusses hörten. Ich bin unsichtbar … bin unsichtbar … unsichtbar, denkt er mit klopfendem Herzen.

Braun & Hammer ...im Wahn

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