Читать книгу Braun & Hammer ...im Wahn - Heinz-Gerhard Witte - Страница 5

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Es ist dieses ewige Spiel, das ihn reizt. Und dieses Spiel entspricht voll und ganz Tilmanns Lebensphilosophie: Herausforderungen zu suchen und sich hohe Ziele zu setzen, begleitet von der kribbelnden Ungewissheit über den Ausgang seiner jeweiligen Anstrengungen. Und auch bei nur teilweisem Erreichen von Erfolgen nach hartem Kampf verspürt er eine tiefe Zufriedenheit, die er schon fast als Glückszustand definieren möchte. Hanna, seine Frau und ihres Zeichens Lehrerin, kommentiert das gerne süffisant, er sei ihr Held und letzter verbliebener Jäger und Sammler überhaupt.

Sich Herausforderungen zu stellen bedeutet für ihn aber auch, über den Tellerrand zu schauen, neue Dinge zu lernen und noch spannendere zu entdecken. Das ist etwas, das er speziell seinen depressiven Patienten in der Behandlung versucht, wieder nahe zu bringen: Die Neugier. Manchmal fehlt diesen nur der zündende Funke oder ein emotional inspirierender Plan von dem, was sie langfristig erreichen wollen. Arbeitet er dann konsequent mit ihnen in Richtung dieser persönlichen Herausforderungen, löst das nicht selten diese leicht euphorische Stimmung aus, die er versucht, als Wasser auf die Mühlen auch langfristiger Veränderungen zu leiten.

Jetzt, vor dem Start, als alle Fahrer im Startblock stehen und nur noch auf den Startschuss warten, herrscht eine fast schon unheimliche Ruhe. In diesen letzten Momenten, die Fahrer stehen mit den Händen auf dem Lenker gestützt und jeweils ein Fuß ist schon in ein Pedal geklickt, ist die Furcht groß, den Startschuss zu verpassen.

Es hat etwas von der Ruhe vor dem großen Sturm, schießt es Tilmann durch den Kopf.

Er geht noch einmal die Strecke im Kopf durch, verdeutlicht sich vor seinem inneren Auge deren markante Punkte. Gleich im ersten Drittel gilt es, den anspruchsvollsten Anstieg zu bewältigen. An diesem Punkt könnten, bei zu viel Engagement und Übermut, die Muskeln ausbrennen. Damit würde der Rest des Rennens zu einer einzigen Qual werden.

Nach diesem Anstieg kommt wiederum eine lange Abfahrt. Auch wenn die keine hohen Geschwindigkeiten zulässt, führt sie aber durch kleine Orte mit engen Straßen und Kurven. Dort ist das Unfallrisiko besonders hoch, denn alle Fahrer werden nach der letzten Kurve wie von der Tarantel gestochen wieder lossprinten, um den Windschatten des Feldes nicht zu verlieren. Das bedeutet, sich sofort aus dem Sattel heben und Vollgas geben zu müssen. Verhaken sich hier auch nur beispielsweise das Schaltwerk eines Rades mit dem Pedal eines anderen, und sind ausgerechnet zwei Fahrer an der Spitze eines Pulkes betroffen, ist der dramatische Dominoeffekt fast schon vorprogrammiert. Unwillkürlich tauchen Bilder einer besonders üblen Massenkarambolage vor einigen Jahren in Tilmanns Erinnerung auf. Er selber hatte den Unfall zwar gerade noch um Haaresbreite umfahren können, sieht aber wieder das Knäuel teils verbogener Räder vor sich. Zwischen und vor allem unter denen lagen die hilflosen Fahrer. Niemand war, Helm sei Dank, schwer oder gar tödlich verletzt, aber es hatte hässliche und schmerzhafte Abschürfungen und Prellungen gegeben. Gerade an den ungeschützten Knien und Ellbogen mischte sich heraussickerndes Blut mit Rollsplit, Staub, Erde oder Resten von Gras. Tilmann hatte, wo er konnte, den gestürzten, vor Schmerz stöhnenden Männern geholfen. Manche waren einfach starr vor Schock, andere fluchten lautstark. Einige weinten still, fast verschämt, vor sich hin.

Nicht weniger gefährlich ist allerdings wiederum das Ende des Rennens, wenn die Fahrer wieder in die Stadt einfahren und viele Kilometer in den Muskeln haben. Dann ist erfahrungsgemäß die Kondition im roten Bereich und die Konzentrationsfähigkeit ein Schatten ihrer selbst. Gleichzeitig wird der Körper von Adrenalin und Endorphinen förmlich durchströmt. Alle Fahrer sind also mehr oder weniger aufgeputscht, während sie durch die Stresshormone ihr Leistungsvermögen überschätzen. Die Gefahr, in diesem Zustand fatale Fehler zu begehen und ausgerechnet noch auf der Zielgerade zu stürzen, ist nicht unbedingt eine der geringsten.

Tilmann schaut seinem Kumpel, seit Jahren sind sie ein eingespieltes Team, in die Augen. Viel und ambitioniert hatten sie für dieses Rennen trainiert: bei gemeinsamen Ausfahrten am Wochenende, dem Training alleine zu Hause auf der Rolle oder beim ausgleichenden „Kacheln zählen“ im Schwimmbad.

Jetzt wird sich zeigen, wie viel all dieses Rackern und Trainieren bringt, denkt Tilmann. Mal wieder zählt für den Erfolg heute nicht, wie viel sie in den Jahren davor schon zusammen gefahren sind, die zurückgelegten Kilometer nicht mehr zählen können. Heute zählt für den Erfolg nur, wie fit und konzentriert sie jetzt sind.

Das intensive Training führt nicht nur zu körperlicher Fitness. Es hilft Tilmann auch, den notwendigen, professionellen Abstand zu den belastenderen Patientengeschichten zu bekommen. Wenn er einen anstrengenden Tag hatte, setzt er sich gerne, wenn es Zeit und Familie erlauben, auf sein Velo und strampelt los.

Tilmann erkennt im Blick seines Partners die gleiche Anspannung, die er bei sich spürt, aber auch den Kampfgeist, das Feuer für den Wettstreit und den Drang, sich endlich der Herausforderung zu stellen.

Sie klopfen sich gegenseitig auf die Schulter und wünschen sich viel Glück.

Dann ist der Sprecher der Veranstaltung zu hören: Er ruft alle Sportler zu einem fairen Wettkampf auf und zählt die letzten Sekunden rückwärts bis zum Startschuss runter. Das beeindruckende Feld setzt sich in Bewegung, zunächst noch langsam: Die Fahrer treten anfangs mit weniger Widerstand in die Pedale, um ihre Muskeln allmählich warm zu fahren und keine Verletzungen zu riskieren.

Die ersten Kilometer führen aus der Großstadt heraus und es gilt, einige Kreisverkehre hinter sich zu lassen. Dann bildet sich ein größeres Fahrerfeld, in dem sich auch Tilmann und sein Kumpel Michael befinden.

»Tilmann, lass uns jetzt einfach die Strecke und die Landschaft genießen, später ist es leider nicht mehr so schön …« Michael hatte bis zum Beginn seines Studiums hier gelebt und kennt sich aus.

Auch bei Tilmann hat sich die erste Anspannung gelegt. Ihm ist ebenfalls nach Plaudern zumute, aber zugleich beginnt sein Ehrgeiz aufzukommen.

»Ja, die Landschaft ist total ansprechend, aber sag mir lieber, wie für dich die Geschwindigkeit ist.«

»Die ist nahezu ideal und wir sollten die nächsten Kilometer so weiterfahren. Dann kommt allerdings bei Kilometer zweiundzwanzig der Anstieg mit fünfzehn Prozent!«

»Aber bis dahin sind unsere Muskeln schön warm gefahren, um es am Berg so richtig krachen zu lassen!«, erwidert Tilmann in Vorfreude grinsend.

»Hey hey … ganz ruhig Brauner!« Michael lacht, weil er Tilmanns Hang zum Übermut kennt. »Pass lieber auf, dass nicht wieder dein Meniskus kracht! Ich hab keine Lust, dich zu den Paralympics zu begleiten, okay?«

Dank viel Windschattens und immer noch ebener Strecke gleiten die beiden relativ locker dahin. Sie kommen zu ernsteren Themen. Michael hatte sich gestern Abend in eine Dokumentation über Entführungen vertieft. Jetzt will er von Tilmann wissen, was bei einem Menschen passieren muss, damit er zum Straftäter wird. Prompt muss Tilmann an seinen unsäglichen Narzissten Theodor Konrad Wolf denken. Der begleitet ihn also sogar bei einem Radrennen, das doch reines Vergnügen bedeuten soll. Er schweigt aber zu dieser unangenehmen Assoziation. Stattdessen versucht er, Michael mit möglichst wenigen Worten zu erklären, wie Menschen unter Umständen kriminell werden können. Mit Erschrecken stellt er dabei fest, wie er das übliche Potpourri bio-psycho-sozialer Erklärungsmodelle herunterleiert: genetischer Einfluss, Lernerfahrungen in der Kindheit, Bildungsaspekte, mangelnde Lebensperspektiven und so weiter. Er war auch schon begeisterter bei der Sache, muss sich Tilmann eingestehen.

Er sträubt sich, das Thema weiter ausführen: Dann wäre er noch im Ziel am Dozieren. Er möchte sich jetzt ganz auf das Radeln konzentrieren und ist gespannt auf den angepriesenen Anstieg, der jetzt unmittelbar bevorsteht.

Dafür sind sie schließlich hier.

Doch dann sind es nur enttäuschende neun Prozent! Am höchsten Punkt der Strecke angekommen, schauen sich Michael und Tilmann nur kurz und wortlos an. Nach all den Jahren wissen sie, was der jeweils andere denkt: Wo soll hier ein Berg gewesen sein?

Jetzt aber steht eine lange Abfahrt mit engen Straßen und Kurven bevor. So bleibt keine Zeit, sich darüber auszutauschen. Stattdessen stürzen sich die beiden ins Getümmel, müssen aber höllisch aufpassen, genügend Abstand zum jeweils vorausfahrenden Fahrer zu halten. Sie sind bis in die letzte Muskelzelle hinein angespannt. Eine Abfahrt mit Höchstgeschwindigkeiten von bis zu siebzig Kilometern in der Stunde hat es mehr als in sich.

Bei Kilometer fünfzig sucht Tilmann erneut Kontakt zu Michael, um festzustellen, wie es ihm geht. Auch wenn der Anstieg weniger Kraft gekostet hat, als sie es sich ausgerechnet hatten, waren die letzten zwanzig Kilometer insgesamt sehr anstrengend gewesen. Immer wieder hatte das Feld die Geschwindigkeit erhöht und sie mussten ihre Zähne zusammenbeißen, um nicht den Windschatten zu verlieren.

»Ich frag mich, wer sich da heute so beweisen muss …«, keucht Tilmann.

»Weißt du doch … irgendein bescheuerter Superalpha ist immer dabei …«

Michael versucht, spaßig zu klingen, aber sein Gesicht wirkt verkrampft. Und offenbar hat er Sitzprobleme: Immer wieder verändert er seine Position.

Bei Tilmann kommen Zweifel auf. Sind sie zu schnell gefahren? Haben sie sich überschätzt? Vielleicht sind sie doch nur noch zwei lahme alte Herren, die das eigene Alter nicht akzeptieren wollen? Er fühlt sich deutlich weniger euphorisch als noch am Anfang. Er hasst diesen berüchtigten toten Punkt eines Rennens von ganzem Herzen. Jedes Mal gibt er sich wieder der Illusion hin, er könne da drum herum kommen. Aber das wird wohl niemals geschehen, konstatiert er innerlich resigniert.

Genau in diesem Moment liest Michael förmlich die Zweifel aus Tilmanns Mimik, grinst ihn an und zeigt nach vorne. »Gleich kommt die Stadt und dann haben wir es geschafft, alter Junge! Und dann haben wir auch keinen beschissenen Seitenwind mehr.«

»Alter Junge? Pass bloß auf!«, blafft Tilmann zurück. »Sag lieber, was machen deine Beine? Ist bestimmt ungewohnt, so ohne Stützstrümpfe …« Er will nicht alleine im Jammertal der ausgelaugten Radfahrer sein.

»Bis zum Ziel wird es bei mir jedenfalls wohl noch reichen«, erwidert Michael mit einem leicht spöttischen Lächeln.

»Tu nicht so, als wäre das Ganze für dich eine Spazierfahrt! Das bringt mich auf die Palme!«

»Tut mir furchtbar leid, Tilmann, nach all den Jahren weiß ich aber, dass dir der Ärger auf mich mehr Energie gibt als dein gepflegtes Selbstmitleid«

Michael hebt sich direkt aus dem Sattel und zieht das Tempo ein letztes Mal an.

Fluchend zieht Tilmann nach.

»Na warte, wer danach schreit, bekommt es auch!«

Im Zielbereich stehen sie mit auf die Lenker gestützten Unterarmen und versuchen, ihre Lungen mit Luft vollzupumpen. Aber es fühlt sich so an, als wenn es nicht genug davon in der katholischen Nachbarstadt gibt. Sie haben definitiv das Maximum aus ihren Körpern herausgeholt und stehen mit zittrigen Beinen vor dem Schloss der Universität. In ihren Köpfen rauscht es momentan. Das Gefühl des Triumphes wird sich erst zeitversetzt einstellen, wenn sie ihre Gedanken wieder sortiert haben werden. Das Hochgefühl wird kommen, wenn sie festgestellt haben werden, dass sie deutlich schneller gefahren sind, als sie sich hätten erträumen lassen.

An der körperlichen Grenze gewesen zu sein und dabei die eigene Leistungsfähigkeit richtig eingeschätzt zu haben, wird für tiefe Zufriedenheit sorgen. Und die wird Tilmann als Puffer im Alltag brauchen. Denn schon bald soll er am eigenen Leib erfahren, dass er nicht weniger als Nerven aus Stahlseilen benötigen wird.

Braun & Hammer ...im Wahn

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