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Dharma und das Muster der Gesellschaft

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Mit dem Aufkommen des frühen Hinduismus beobachten wir eine zunehmende Bedeutung des Dharma. Der Dharma ist ein Begriff, der ursprünglich zur Bezeichnung der kosmischen Ordnung verwendet wurde. Diese Ordnung spiegelte sich in der Gesellschaft und im Leben jedes Lebewesens wieder. Viele Konzepte flossen in dieses Paket ein. Dharma kann Harmonie, Wahrheit, Richtigkeit bedeuten, es kann die Naturgesetze meinen, und auf das menschliche Verhalten angewandt ist es die Macht, welche Menschen an ihre Position in der Gesellschaft bindet. Indem er den Pflichten seiner Klasse folgt, unterstützt jeder Hindu den Dharma, durch Verletzung der gesellschaftlichen Gesetze wird der Dharma bedroht. Dharma durchdringt den ganzen Korpus der hinduistischen Religion. Er ermöglicht Verbindungen, die in anderen Philosophien nicht existieren. Eine Sünde oder ein Verbrechen kann, weil es den menschlichen Dharma verletzt, Rückwirkungen in der natürlichen Welt haben. Ein sündiger König, ein Herrscher, der die Riten missachtet oder ein religiöses Tabu bricht, verletzt den Dharma, und dies kann zu Unwettern, Seuchen oder dem Einfall von Feinden führen. Korrupte Priester, Könige und Minister können eine Bedrohung der Ordnung auf allen Ebenen darstellen. Die soziale Welt, die natürliche Welt und die göttliche sind nicht getrennt, sie sind ein Dharma, und eine Beschädigung vom Dharma kann sie alle erschüttern. Natürlich war Dharma mehr als nur ein Prinzip, er war auch eine Kraft und wurde auch als eine Gottheit betrachtet. Der wichtigste Aspekt des Dharma im täglichen Leben war die Aufgabe jedes Wesens, seine natürlichen Verpflichtungen zu erfüllen. Pflanzen folgten dem Dharma, Tiere folgten dem Dharma, Götter folgten dem Dharma, und den Menschen oblag es, dasselbe zu tun. Das alles wäre wunderschön, wenn es nicht die soziale Ordnung so extrem belastet hätte. Betrachte einfach mal das eng verwandte chinesische Konzept des Dao. In vieler Hinsicht sind der Dharma und das Dao identisch. Beide Ideen beschreiben eine Weltordnung, in der Wesen und Dinge ihrem natürlichen Wesen folgen und sich alle Ebenen des Seins gegenseitig beeinflussen. Die Chinesen verzichteten nur darauf, aus dem Dao ein gesellschaftliches, zwanghaftes Regelwerk zu machen, und gerade deshalb ist das Dao so erfrischend lebendig, während der Dharma immer wieder zur einem Mittel der Unterdrückung wurde. Im Laufe dieses Prozesses wurde das Klassensystem immer komplexer. Während sich die späten Veden mit drei oberen Klassen und einer unteren zufrieden gaben (plus einer ganzen Menge klassenloser Bevölkerung), entwickelte der frühe Hinduismus immer mehr Klassen. Gleichzeitig wurden die Trennungen zwischen den Klassen immer rigider. Späte vedische Texte erwähnen noch einen guten Anteil von Klassenwechsel durch Vorzüge, Verdienste und Heirat (insbesondere zwischen Brahmanen und Kriegern). Die frühe Hindu-Literatur hielt nichts von Derartigem. Wir beobachten eine Ausuferung der Klassenunterschiede. Dies kam durch die Einbeziehung weiterer Segmente der Gesellschaft, dem Bedürfnis nach einem Platz für neue Berufe und ethnische Gruppen in der Hackordnung usw. Bis zum heutigen Tag streiten die Gelehrten darüber, wieso das Klassensystem so übertrieben und repressiv wurde. Angeblich gab es zur Zeit von Manu (einem von ihnen – in jedem Weltzeitalter wurde ein Manu geboren) schon mehr als fünfzig Klassen. Das Klassensystem funktionierte, indem es jeder Person ihren Dharma und damit eine Aufgabe und Verpflichtung in der Welt gab. Es funktionierte auch deshalb, weil es allen Neuankömmlingen eine Nische in der Gesellschaft zuerkannte. Dies ist wichtig: Jeder neue Einfluss konnte integriert werden. In einer Packung mit Klassen und Dharma waren Karman, Reinkarnation und Reinheitsgebote.

Nun hängt der Status des Einzelnen in der Gesellschaft nicht nur von dem Varṇa (Farbe, soziale Klasse, Wesen, Art) ab, sondern auch von Jāti. Die Jāti ist ein für Nichtinder extrem schwieriges Konzept. Sie ist keine vedische Idee, sondern eine, die sich mit dem frühen Hinduismus zusammen entwickelte. Jāti beschreibt, grob gesagt, welchen speziellen Gruppen in der Gesellschaft eine Person angehört. Die Jāti kann Geburt, Herkunft, Verwandtschaft, Clan oder Familienverhältnis sein. Sie kann auch die Verbindung zu speziellen religiösen Gruppen sein, zu Provinzen, Land, Beruf, ethnischem Hintergrund usw. Dies sind die feinen Details, die den persönlichen Status spezifizieren, der durch den Varṇa gegeben ist. Jāti kann den Varṇa auch transzendieren. Leute mit einem hohen Einkommen können gut einen Status erlangen, der viel höher ist als ihr Varṇa. Brahmanen, obwohl theoretisch die Köpfe der Gesellschaft, haben oft ein minimales Einkommen und sind froh, einen Job als Lehrer, Buchhalter oder Koch zu bekommen. Krieger und Brahmanen sind oft von Geldverleihern abhängig, um ihren Platz in der Gesellschaft zu bewahren, und Kaufleute machen mitunter mehr Geld als beide zusammen. Ärzte wurden oft als unrein betrachtet, weil sie mit Ausscheidungen, Blut, Leichen und anderen schmutzigen Substanzen in Berührung kamen. Heutzutage hat sich ihr Status dank ihrer hohen Gehälter erstaunlich verbessert. Dazu kommt die weitverbreitete Vorliebe, die eigene Vergangenheit aufzubessern.

Es gibt in Indien jede Menge Leute niederer Klassen, die fest darauf beharren, dass sie ursprünglich von brahmanischer Abstammung waren, aber ihren Namen und Beruf ändern mussten, um einer Verfolgung zu entgehen. Das Ergebnis davon ist, dass viele Leute ihren Varṇa aufzubessern versuchen und nur wenige das glauben, was ihre Nachbarn über den ihrigen behaupten. Die hinduistische Gesellschaft, die heutzutage (inoffiziell) in mehr als 3.000 Klassen unterteilt ist, sieht theoretisch wie eine wohlgeordnete Hierarchie aus, aber die Dinge sind weniger rigide als es scheint. Dies macht die Heirat zu einer echt komplizierten Angelegenheit. In der Theorie sind alle Klassen dazu angehalten, untereinander zu heiraten oder, falls machbar, mit höher Stehenden. In der Praxis sind viele Überlegungen mit im Spiel, etwa um Besitz und Macht, und die Suche nach einem angemessenen Partner liefert Unterhaltung für den ganzen Clan. Nach Möglichkeit versuchen Familien, ihre Töchter in eine Klasse von höherem Status zu verheiraten, und üblicherweise verlangt die Familie des Bräutigams viel für diese Ehre. Wenn es viele Töchter gibt, dann können zu viele Hochzeiten die Familie ruinieren. Die Heirat von Männern in höhere Klassen wird mit Stirnrunzeln betrachtet und geschieht selten. Das macht es für eine Frau der oberen Klassen schwer, einen Partner zu finden. Zwischen den zahllosen Klassen kommt es nach wie vor zu Konflikten, die gerne gewaltsam ausgetragen werden. Obwohl die Klassendiskriminierung und überhaupt das Klassensystem von den Briten theoretisch abgeschafft wurden und von der modernen indischen Regierung nicht gern erwähnt werden, existieren beide weiter. Für die Fundamentalisten ist das ganz einfach: Die Existenz von Klassen zu verneinen bedeutet, die Struktur des Dharma in der menschlichen Welt zu verneinen. Hier hat sich in den letzten hundert Jahren viel getan. Zuerst haben die Briten das Klassensystem offiziell abgeschafft.

Als Indien unabhängig wurde, gab es intensive Bestrebungen, ein neues, demokratisches Denken einzuführen. Manche Angehörigen der untersten Schichten machten unter Gandhi erstaunliche Karrieren; ein ehemaliger Unberührbarer, Dr. Ambedkar, gehört zu den bedeutendsten Autoren der indischen Verfassung. Es wurde also, unter gebildeten Städtern, zunehmend politisch korrekt, die Klasse anderer zu ignorieren. Hieran waren auch viele Politiker interessiert, denn die Gunst der unteren Klassen brachte immens viele Wählerstimmen. Heute schlägt das Pendel wieder in die andere Richtung aus. Die indische Regierung hat Förderungsprogramme für die unteren Klassen verabschiedet, nach denen eine bestimmte Zahl an Studienplätzen und privilegierten Stellungen nur für diese reserviert sind. Entsprechend attraktiv wurde es für viele arme Inder, sich auf ihre niedrige Klassenzugehörigkeit zu besinnen und daraus Vorzüge zu gewinnen. So sehen wir im heutigen Indien im städtischen Leben sowohl hochgebildete und gut verdienende Unterklassen-Angehörige als auch Menschen, die ohne irgendwelche Schutzkleidung in der Kanalisation tauchen, um verstopfte Rohre frei zu kriegen. Auf dem Land sind die Konflikte oft ausgeprägter. Wer, denkst Du, wird dafür geschlagen, dass er Selbstachtung zeigt? Wer baut kostenlos Häuser und bestellt die Felder der Grundbesitzer? Auf dem Land verkaufen die Großgrundbesitzer oft die Stimmen der einfachen Leute an die meistbietenden Politiker. Jedes Jahr kommt es vor, das Klassenlose von sozial besser Gestellten gesteinigt werden. In den Städten schwächt sich dieser Trend deutlich ab, aber auf dem Land ist manches so schlimm wie eh und je. Gelegentlich werden Menschen nur dafür getötet, dass ihr Schatten einen Oberklassen-Fanatiker gestreift hat. Doch hier sollte auch auf die Informationssituation geachtet werden. Wenn eine Gruppe religiöser Fanatiker ein paar Menschen aus den unteren Klassen tötet, erscheint dies sofort in der Presse. Doch solche Fälle werden seltener. Im Großen und Ganzen ist es erstaunlich, wie viele Inder es trotz unterschiedlichster Religionen, Sprachen, Kulturen und Einkommensverhältnissen schaffen, friedlich mit einander zu leben. Gäbe es in Europa eine vergleichbare religiöse, ethnische und soziale Vielfalt, wären die Unruhen und Zwischenfälle deutlich häufiger. Ich erwähne diese Zustände nicht, um hier die indische Bevölkerung schlecht zu machen. Das wäre zutiefst unangemessen, denn in jedem Land und in jeder Kultur gibt es gute Menschen, die Respekt, Freundschaft und Anerkennung verdienen. Ich erwähne sie, weil ich viele Inder getroffen habe, die über die Zustände in ihrer Heimat entsetzt sind und für die es mehr als peinlich ist, wenn schlecht informierte New-Age-Freunde ihre Heimat als spirituelles Wunderland preisen.

Kālī Kaula

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