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Auf und Ab der Gottheiten

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Götter sterben nicht, aber sie könne sich wandeln oder aus der Mode kommen. Göttliche Kräfte und Attribute können sich von einer Gottheit zur anderen verschieben, dasselbe gilt für Mythen, Titel und Funktionen. Manche vedischen Götter blieben im Geschäft, aber ihre relative Bedeutung veränderte sich stark. Eine weitere Neuerung war ein System von Attributen wie göttlichen Tieren, Farben, Waffen, Ritualobjekten usw. Wir wissen, dass die Ārya ursprünglich keine Bildnisse anbeteten (oder zumindest jene Ārya, von denen wir wissen), dass aber ihre Gegner Liṅgas, Bildnisse, möglicherweise Phalli verehrten. Bildnisse spielten in den Religionen vor dem frühen Hinduismus keine große Rolle, aber in den Jahrhunderten vor der heutigen Ära begannen sie sich zu vervielfachen. Schon bald wurden die Götter mit mehr oder weniger permanenten Attributen ausgestattet. Viele Götter, die es schon seit den frühen Veden gegeben hatte, findet man nun verändert vor. Ich sollte noch hinzufügen, dass die Götter, nachdem sie so viel von ihren furchteinflößenden Qualitäten verloren hatten, nun zu einem beliebten Thema für Dichter und Geschichtenerzähler wurden. Manche von ihnen hatten einen starken und manchmal sogar bizarren Sinn für Humor. Als Ergebnis davon begannen die Götter, höchst menschliche Qualitäten, Charakteristiken und Mängel anzunehmen. Hier betrachten wir ein Pantheon, das nicht mehr wirklich gefürchtet wird. Die Götter sind ganz wie Menschen und andere Wesen dem Karman unterworfen. Sie sind nicht mehr Herrscher, sondern, genau wie wir, Schauspieler in einem Theaterstück. Im Kontrast dazu wurden die gefährlichen Kräfte der Seher und Asketen zu einem populären Thema. Das Mahābhārata enthält etliche Geschichten von Sehern, die ihr Tapas so heftig betrieben, dass sie zu einer Bedrohung für die Götter wurden. Ein guter Grund, einige verführerische Apsarase zur Erde zu senden, um sie davon abzulenken.

Die Asuras, einst eine respektable Götterfamilie, wurden zu einer Bande schrecklicher Dämonen umgewandelt. Das Wort Asura wurde als A-sura umgedeutet, also als Gegen-Götter. Dies geschah in der Epoche, in der der Atharva Veda verfasst wurde – vor 500 v.u.Z. Mit dem Aufkommen des frühen Hinduismus wurden populäre Götter, die in früheren Zeiten Asuras gewesen waren, als Mitglieder des Deva-Clans betrachtet; ihre Vorgeschichte wurde bequemerweise ignoriert. Viel von der frühen Hindu-Mythologie basiert auf dem Thema von guten Devas, die böse Asuras bekämpfen, ein Thema, das nach ein paar hundert Wiederholungen etwas langweilig werden kann.

Etliche vedische Gottheiten verschwanden fast. Sie gerieten nicht in Vergessenheit, da die Veden heilige Literatur blieben, sie erhielten nur immer weniger Verehrung. Unter ihnen waren die Maruts, die auf Pferden reitenden Aśvins, Uṣas, Ūrmyā, Nirṛti und eine ganze Schar kleinerer Gottheiten. Auch die Zahl der Sonnengottheiten wurde drastisch reduziert.

Agni verlor einiges an Bedeutung, als die großen Opferungen der vedischen Epoche verkleinert oder aufgegeben wurden. Dank seiner Verbindung zum häuslichen Feuer blieb er bis zum heutigen Tage populär. Dieses Feuer war und ist der heilige Brennpunkt des häuslichen Lebens – es ist das Zentrum von Heim, Familie und täglichem Ritual. Seine früheren Verbindungen zum Wasser verschwanden. Nach der neuen Interpretation kann Agni auch wie ein hungriger Dämon sein und ein unzuverlässiger Gefährte, der dazu neigt, sich von Zeit zu Zeit davonzustehlen. Er erscheint auch als gieriger alter Mann und als sexhungrige Ziege. In Ziegenform kann er auch als ein Lieblingsopfer und als das ganze Universum erscheinen. Im Mahābhārata erscheint er einmal in maximal destruktiver Absicht und nervt damit, dass er einen Wald geschenkt haben möchte, der zufällig Indra und dessen Nāgafreunden gehört. Die Protagonisten, Arjuna und Kṛṣṇa, erhalten von Agi Wunderwaffen und machen sich daran, den Wald abzubrennen und alle Tiere, Geister, Nāgas und Dānavas zu erschießen, die versuchen, aus den Flammen zu entkommen. Nicht einmal der Zorn Indras kann dieses brutale Opfer aufhalten.

Varuṇa, einst der Gott, der das Universum regierte und manchmal die Sonne verkörperte, wurde vor allem ein Gott der Ozeane. Da sich seine Macht über das Wasser erstreckte und Wasser eine prominente Rolle in der Heilkunde spielte, nahm er die Rolle des göttlichen Heilers an. Allgemein ging seine Bedeutung zurück.

Indra blieb als König der Götter einigermaßen populär. Was die tatsächliche Verehrung anging, nahm seine Bedeutung allmählich ab, und die meisten seiner göttlichen Funktionen, insbesondere das Königtum betreffend, wurden vom Kult des Viṣṇu assimiliert. Allmählich nahm Indra die Form eines heldenhaften jungen Mannes an, der in einer frohen himmlischen Anderswelt mit hunderten junger Helden und einer Schar berauschender Apsarase zusammenlebt. In heldenhafter Gestalt (und anderen Formen, da er ein kompetenter Gestaltwandler ist) taucht er in der Lehre und Legende auf. Sein überlegener Status verblasste, und am Ende der Epoche ist er ein Gott, der Fehler macht, Hilfe von anderen braucht und gelegentlich Furcht und Feigheit zeigt. Dies macht ihn äußerst menschlich, sogar liebenswert, steht aber seinem früheren vedischen Status als Gipfel der göttlichen Autorität völlig entgegen. Zuletzt braucht er 60.000 Jahre Tapas und dazu die Hilfe von Śiva und Viṣṇu, um die Weltenschlange Vṛta zu bekämpfen, die nun in menschlicher Form als ein Regent und sogar Brahmane erscheint (daher Indras Ruf als Töter von Brahmanen).

Sūrya, ein Sonnengott, wurde mit einer Familie versehen. Er ist nicht mehr von allgemeiner Bedeutung, blieb aber populär bei einer Gruppe von Anhängern, die Sauras genannt werden (nach seinem Namen) und als Schutzpatron der Astrologen. Sein alter Kumpel Mitra (Freund) ist nun auch eine Gottheit der Sonne, vorausgesetzt, er wird überhaupt erwähnt. Sein Kult erlebte im 1. Jh. in Nordwestindien eine Renaissance dank der Perser, die ihren eigenen solaren, wilden Mithras einführten. Sonnengott Savitar blieb praktisch nur noch dank seinem Vorkommen in der Gāyatrī bekannt.

Yama (Zwilling) bleibt der Herr des trostlosen Reiches der Toten. Er wurde noch dunkler und schrecklicher als zuvor: Die großen Epen machen ihn zum Gott des Krieges, der Schicksals und der Krankheit. Er erscheint als Herr aller Höllen, Richter der Toten und wird gelegentlich gleichgesetzt mit Kāla, der Zeit als Verschlinger von allem. Ob er viel Verehrung erhielt oder als populäre literarische Figur überdauerte, ist die Frage. Von seiner Zwillingsschwester Yamī hört man nicht viel.

Vāyu, ein Gott des Windes und der Stürme, spaltete sich auf in mehrere Vāyus, die für verschiedene Phänomene zuständig sind. Er taucht gelegentlich als Indras Botschafter auf, dann wieder ist er unabhängig und wird als Gott der Sprache, der Freiheit, der Poesie und sogar der Seele verehrt. Manche preisen ihn als die Essenz des Lebens und identifizieren ihn mit dem Prāṇa. Er schluckte schnell die Funktionen der Maruts (Leuchtende, Winde, Atem) und die des Vāta (Wind, Sturm).

Die Göttin des Wohlstands und des Gedeihens, Śrī, verschmolz mit der Göttin der Schönheit und der landwirtschaftlichen Fruchtbarkeit, Lakṣmī; zusammen wurden sie Śrī Lakṣmī, die bis zum heutigen Tag beliebteste Göttin in Indien. Während der Entwicklung des Hinduismus wird Viṣṇu zum Hauptgott, und Lakṣmī als seine Frau angesehen, denn ohne Reichtum und Wohlstand hat auch der Himmelskönig wenig zu sagen. Doch auch die Anhänger Śivas preisen Lakṣmī gelegentlich als dessen Gattin; diese Idee wird in verschiedenen tantrischen Lehren deutlich.

Die Flussgöttin Sarasvatī vereinigte sich mit der Göttin Vāc/Vāk (Stimme, Sprache). Zusammen wurden sie die Göttin des Lernens, der Musik, der Poesie und des Wissens. Der Fluss Sarasvatī blieb einer der heiligen Flüsse Indiens, selbst nachdem klimatische Veränderungen ihn austrocknen und verschwinden ließen. Er wird noch immer in Segnungen und Wasserritualen angerufen. Sarasvatī bekam eine große Popularität in der Literatur, hauptsächlich weil Dichter und Schriftsteller sie als eine Schutzgottheit ihres Handwerks ansahen und am Anfang eines Buches regelmäßig ihren Segen beschworen.

Kāma, der vedische Gott des Begehrens, war unter den frühen Buddhisten zu einem Inbegriff von Laster und Versuchung geworden, die ihn gelegentlich mit Māra gleichsetzten, dem Gott des Bösen, des Todes und dem schlimmsten Widersacher Buddhas. Im Hinduismus war er keine derartig negative Figur. Mit einem Bogen aus Blumen ausgerüstet, verschießt er Pfeile des Begehrens und der Liebe; dies macht ihn zu einer populären Gottheit der Verliebten und einer gängigen literarischen Figur. Er hat eine Ehefrau namens Rati (Wollust), zusammen tauchen die beiden in der tantrischen Kunst auf. Er entwickelt eine Verbindung zu Śiva, der ihn einst versehentlich verbrannte und ihn auf allgemeine Bitte wiederherstellte.

Viṣṇu ist einer der beiden Sieger im frühen Hinduismus. In den frühen Veden war Viṣṇu ein kleinerer Gott in der Gesellschaft von Indra, dessen Hauptfunktion darin bestand, Platz für Indras Kampf mit Vṛta zu schaffen, indem er drei Schritte ging. Dies erzeugte die drei Reiche von Himmel, Erde und Unterwelt und ermöglichte Indra, seinen Blitzstrahl (Vajra) zu schleudern. Von diesen bescheidenen Anfängen an wurde Viṣṇu so populär, dass Indra mit dem Aufkommen des frühen Hinduismus zu einem dürftigen Schatten verblasste und Viṣṇu als derjenige auftrat, der Könige einsetzte, den Kosmos regierte und der höchste Souverän der spirituellen Welt war. Er ist, unter anderem, mit Bhūmi (Erde, Welt) verheiratet, der Göttin der heiligen Erde und allen Gedeihens. Zur Zeit des Mahābhārata regierten die Könige in Viṣṇus Namen, und Viṣṇu ist in der einen oder anderen Form die meistgefeierte Gottheit jenes Monumentalepos.

Der frühe Viṣṇu ist noch mit einigen Eigenschaften des vedischen Originals ausgestattet. Er ist allgegenwärtig, durchdringt alles und enthält das Universum in sich. Als solcher ist der Gott von so universeller Natur, dass wir nicht viel von einer Persönlichkeit an ihm ausmachen können. Dies änderte sich, als Viṣṇu mit zwei nichtvedischen Göttern vermischt wurde. Einer von ihnen ist eine Gottheit der Hirten, Bauern und Krieger namens Kṛṣṇa (Schwarzer, Dunkler), der in der Volksmythologie als Kriegergottheit und fröhlicher Flötenspieler auftaucht, der seine Tage am Rande der Wildnis mit den Rinderhirtenmädchen flirtend verbringt. Der andere ist Vāsudeva (Gottheit des Vāsu-Clans), der eine so aktive Rolle im Mahābhārata spielt. Vāsudeva und Kṛṣṇa dürften ab dem vierten Jh. v.u.Z. miteinander verschmolzen sein, und nur wenige hundert Jahre später wurden beide als Inkarnationen von Viṣṇu betrachtet. Kṛṣṇa begann nicht gleich als Gott. Der frühe Hinduismus war höchst interessiert an der Figur des Halbgottes, der inkarnierten Gottheit und des Menschen, der vergöttlicht wurde (im Allgemeinen nach dem Tod). Ein Großteil der Spannung im Mahābhārata geht darauf zurück, dass so viele wichtige Protagonisten inkarnierte Götter sind. Als solche sind sie von menschlicher Natur und den nichtinkarnierten Göttern unterlegen, sind aber immer noch zu weit mehr imstande als einfache Menschen und kehren nach dem Tod zu ihrem göttlichen Status zurück.

Wenn eine Gottheit inkarniert, neigt sie dazu, menschlichen Eigenschaften und Schwächen zum Opfer zu fallen. Sie kann sich irren, kann von Gefühlen, Täuschungen und Verlangen verleitet werden und hat es oft nötig, zu anderen Göttern zu beten. Im Mahābhārata ist Kṛṣṇa/Vāsudeva eine der entscheidenden Figuren. Er ist nicht der Held, sondern derjenige, der den Helden hilft, die Macht zu erlangen und die Gelegenheit nutzt, um eine neue Herangehensweise an die Religion zu diktieren. Dies ist das Thema des Bhagavadgītā, einer der späteren Ergänzungen zum Mahābhārata, die etwa um das dritte oder vierte Jahrhundert unserer Zeit verfasst wurde. Kṛṣṇa ist eine innovative Gottheit. Er ist nicht besonders zufrieden mit der alten brahmanischen Ordnung der Dinge und hat häufige Konflikte mit Indra. Kṛṣṇa ist auch der Gott, der eine neue Herangehensweise an die Erlösung predigt: die Bhakti (hingebungsvolle Liebe). Die hauptsächliche Innovation der Bhagavadgītā ist die Idee, dass Ritual und Opfer nicht so wichtig sind wie richtiges Handeln und völlige Hingabe an die Gottheit.

Handlung und Teilnahme am Dharma wurden angepriesen, statt Resignation und Rückzug. Hierbei zeigt sich Vāsudeva als göttlicher Wagenlenker, der dem Helden Arjuna hilft, den richtigen Weg zu gehen, ihm aber seine Entscheidungen und das aktive Handeln selbst überlässt. Diese revolutionäre Idee impliziert, dass man sich nicht einfach auf die Götter verlassen kann oder auf Wunder warten soll, sondern mit aller Kraft auf eigene Verantwortung, entsprechend dem Dharma, agieren muss. Bkakti, also liebevolle Hingabe, wurde als höchster Weg zum Heil gepriesen. Diese Hingabe war ursprünglich einfach Liebe und Zuneigung, aber als die Popularität der Bhakti-Bewegung zunahm, entwickelte sie eine ganze Reihe von verschiedenen Ansätzen. Wer das Göttliche verehrt, kann dies in sehr vielen unterschiedlichen Gefühlszuständen tun, welche von sanftem Gedenken bis zu rasendem Verlangen und trunkener Besessenheit reichen. Für manche Intellektuelle wurde Bhakti im Laufe der Zeit zu einer raffinierten Methode, bei der diese Zustände systematisiert und gezielt angewandt wurden. Natürlich ist die liebende Hingabe an eine Gottheit nichts, was erst mit dem Kult von Kṛṣṇa oder Viṣṇu begann. Zu allen Zeiten hat es Seher, Aussteiger und Verrückte gegeben, die sich in der einen oder anderen Weise in das Göttliche verliebten. Die große Innovation der Bhakti ist die Idee, dass liebende Hingabe systematisch angewandt werden kann und dass sie den früheren Formen von Verehrung, Ritual und Askese überlegen ist. Eine weitere Innovation von Kṛṣṇas neuer Lehre ist der Yoga. Yoga wird in der Bhagavad Gītā als ein anspruchsvoller Heilsweg gepriesen, der nur um weniges schlechter als die Bhakti ist. Und dieser Yoga ist, zum ersten Mal in der indischen Geschichte, tatsächlich eine innere, meditative Disziplin, dessen Ziel die Einheit mit dem Göttlichen darstellt. So erläutert Kṛṣṇa:

Der Yogī, dessen Selbst mit Wissen und Weisheit erfüllt ist, der unerschüttert bleibt, der die Sinne überwunden hat; von ihm wird gesagt, dass er ein Heiliger ist – er, für den ein Klumpen Erde, ein Stein und Gold das gleiche wert sind. Er wird geschätzt, der dieselbe Einstellung gegenüber den Freundlichen, Freunden, Feinden, Gleichgültigen, Neutralen, Verhassten, Gerechten und Ungerechten hat. Der Yogī soll zu allen Zeiten seinen Geist ruhig halten, in Abgeschiedenheit leben, allein, mit kontrolliertem Geist und Körper, frei von Begierden und ohne jedes Eigentum. Nachdem er an einem reinen Ort einen festen Sitz errichtet hat, der weder zu hoch noch zu tief ist, mit einem Tuch, einem Fell und Kuśa-Gras darauf, mit dem Bewusstsein auf einen Punkt fixiert, mit den Handlungen von Aufmerksamkeit und den Sinnen unter Kontrolle, soll er, auf diesem Sitz, Yoga betreiben, um das Selbst zu reinigen. Sich aufrecht haltend und mit stillem Körper, den Kopf und Hals fest, auf die Nasenspitze blickend und ohne sich herumzudrehen, von ruhigem Geist, furchtlos, fest in seinem Eid zum göttlichen Leben, und nachdem er seinen Geist gezügelt hat, an mich denkend, und balanciert, soll er sitzen und zu mir als dem Höchsten aufblicken. Indem er so den Geist im Gleichgewicht hält, wird der Yogī, mit kontrolliertem Bewusstsein, den Frieden erlangen, der in mir ist, der zur Befreiung führt (BG, 6, 8-15, nach Sastri 1995).

Dieser Yoga ist, im Gegensatz zu allen früheren Formen, ein meditativer, nach innen gerichteter Weg. Er hat noch nicht sonderlich viel von dem, was später zum ‚klassischen‘ Yoga wurde, denn der Großteil der körperlichen und energetischen Praktiken war noch nicht entwickelt, aber immerhin war es ein Anfang. Zusammen mit Patañjalis heutzutage so bekanntem Yogasutra begegnen wir in der Gītā um das dritte oder vierte Jahrhundert herum also einer völlig neuen Bewegung. In derselben Periode wurden auch Texte zum meditativen Yoga ins 12. Buch des Mahābhārata eingefügt und in mehrere klassische Upaniṣaden. Im Gegensatz zur Bhakti brauchte diese Form vom Yoga sehr lange, um populär zu werden. Denn spiritueller Yoga, im Gegensatz zum profitorientierten für magische Zwecke, wurde erst um das zehnten Jahrhundert zu einem echten, ausgereiften Heilsweg, der in vielen Punkten mit manchen tantrischen Systemen identisch war. Doch die meisten Tantriker hatten keinen guten Ruf, und dasselbe galt für die wenigen Yogīs die wirklich spirituelle Motive hatten. Wesentlich häufiger waren Yogīs, die als Zauberer, Hexer, Schwindler oder Bettler durchs Leben gingen. Die indische Literatur ist voll von ihnen. Trotz Kṛṣṇas und Patañjalis löblicher Bemühungen wurde das Wort Yogī vor allem als Schimpfwort verwendet. Und das ist auf dem Land in Indien bis heute so: wenn Kinder nicht gehorchen, drohen die Mütter, der Yogī würde kommen und sie holen (White, 2011).

Der Kṛṣṇa des Mahābhārata ist sowohl ein menschlicher Held (der stirbt, nachdem er von einem Pfeil in den Fuß getroffen wird) als auch ein inkarnierter Gott. Er taucht unter verschiedenen Namen auf – jeder von ihnen möglicherweise ein anderer Mensch oder Gott, der in den Kult assimiliert wurde, wie Janārdana (Unterdrücker der Feinde), und wird sogar als eine Inkarnation von Nārāyana bezeichnet. Ursprünglich war Nārāyana ein ekstatischer Weiser und ein Sohn des Gottes Dharma, der in der Nähe des Ganges lebte. Er wurde auch gelegentlich mit Brahmā identifiziert und taucht in Gesellschaft von Indra auf. Schon früh wurde Viṣṇu mit Nārāyana gleichgesetzt, über den das Mbh 12,334 feststellt, dass er im ersten Weltzeitalter als Nara, Nārāyana, Hari (Löwe) und Kṛṣṇa geboren wurde. Die grundlegenden Lehren der Bhakti werden ihm zugeschrieben. Irgendwann zwischen dem frühen Mahābhārata – um 400-200 v.u.Z. – und seiner Spätversion wird Kṛṣṇa eine Inkarnation von Viṣṇu. Er sollte nicht die einzige bleiben. Als einer der bedeutendsten indischen Götter manifestiert sich Viṣṇu in einer Vielzahl von Formen und Namen, so z. B. als Yajña (Opfergabe), Yajñapuruṣa (Seele/Essenz des Opfers), Yajñeśa (Opferherr), Jaganātha (Weltenherr), Govinda (Kuh/Land-Beschützer), Hari (Löwe), und Bhūtātman (Seele der Wesen). Da Viṣṇu ein so umfassender und alles durchdringender Gott ist, ist er für die kosmische Ordnung und das Gleichgewicht zuständig und als solcher der Bewahrer der Universums. Das ist kein leichter Job. Um das Weiterbestehen der Welt zu sichern, neigt Viṣṇu dazu, sich von Zeit zu Zeit zu reinkarnieren. Die Idee einer regelmäßigen göttlichen Inkarnation formte die Folge der Avatāra (Herabkunft, Inkarnation). Diese ist fundamental im Kult des Viṣṇu, in anderen indischen Religionen dagegen nicht besonders wichtig. Im Laufe der Jahrhunderte wählten Anhänger des Viṣṇu zehn heroische oder göttliche Gestalten aus, die sie für Inkarnationen ihres Gottes hielten. Die Auswahl dauerte eine ganze Weile, und nicht alle Texte sind sich einig. Manche erfanden mehr als zwanzig. Heutzutage sind die grundlegenden zehn:

Erstes Weltzeitalter

1. Der heilige Fisch (Matsya), der den ersten Menschen, Manu, vor der großen Flut rettete.

2. Die Schildkröte (Kūrma), die den Weltberg stützte, als die Götter den Milchozean quirlten und das Elixier der Unsterblichkeit gewannen.

3. Das monströse Wildschwein (Varāha), das die untergegangene Erde aus den Tiefen der Ozeane hob.

4. Der Menschenlöwe (Narasiṁa), der den Dämon Hiraṇyākṣa vernichtete.

Zweites Weltzeitalter

5. Der Zwerg (Vāmana), der den Dämon Bali schlug, indem er die Welt in drei Schritten maß.

6. Rāma mit der Axt (Paraśurāma), der Vernichter der Krieger, die seinen Vater töteten.

7. Rāma, der Sohn von Daśaratha, der Mann von Sītā, der Vernichter des Dämons Rāvaṇa, Held des Rāmāyaṇa.

Drittes Weltzeitalter

8. Kṛṣṇa, der den Dämon Kaṁsa tötet.

Viertes Weltzeitalter

9. Buddha, der Erleuchtete (eine Idee, die viele Buddhisten verärgerte).

10. Kalkin, das weiße Pferd (oder der Reiter auf dem weißen Pferd), das am Ende des gegenwärtigen Zeitalters kommen wird, um eine neue Ära einzuleiten.

Aus diesem Komplex von Mythen und göttlichen Personifizierungen erwuchs der aufstrebende Kult des Viṣṇu, dessen Anhänger allgemein Vaiṣṇavas genannt wurden. Sie bilden in weiten Teilen des modernen Indien die religiöse Mehrheit. Im Laufe der letzten Jahrhunderte hatten sie einen enormen Einfluss auf die indische Denkweise. Wenn es darum geht, die Geschichte umzuschreiben, die soziale Hackordnung aufrecht zu erhalten, tantrische Einflüsse zu eliminieren, wilde Gottheiten zu zähmen und rasende Göttinnen in gehorsame Hausfrauen zu verwandeln, sind die Vaiṣṇavas unvergleichlich. Doch das sollten wir Viṣṇu nicht übel nehmen, denn Götter sind für die Dummheiten der Menschheit nicht verantwortlich.

Der andere Gewinner des Hinduismus ist Śiva. Er begann als Rudra, der kämpferische Gott der Wildnis, Herr der Asketen, Eremiten, Heiler und all derer, die am Rand der Gesellschaft leben. Der Name Śiva (Glücksbringender, Freundlicher) ist einer der vielen Titel, die der Gott in der spätvedischen Epoche erlangte. Anders als solche Namen wie Hara (Zerstörer, Räuber), Bhīma (der Schreckliche), Ugra (Grauenhafter, Strenger), Bhairava (Grausiger, Schreckenseinflößender), Krodha (Zorniger) oder Kāla (Zeit, d.h. der größte Zerstörer) soll der Begriff Śiva die Gottheit mit einem respektvollen und freundlichen Titel besänftigen. Nett zu schrecklichen Göttern zu sein, ist etwas, das in vielen Kulturen zu finden ist – denk’ nur an die Bezeichnung ‘die guten Nachbarn’ für das bedrohliche Feenvolk der keltischen Länder. Der vedische Rudra war ein bedrohlicher und schrecklicher Gott, der nicht gepriesen, sondern besänftigt wurde. Als Śiva wurde er beliebter. Was seinen Charakter angeht, hat Śiva eine Funktion, die Viṣṇu diametral entgegengesetzt ist. Während Viṣṇu die kosmische Ordnung bewahrt, neigt Śiva dazu, sie zu missachten oder zu meiden. Śiva ist ein wilder Gott, ein Außenseiter der göttlichen Gesellschaft, und seine Anhänger waren oft unpopulär, weil sie dazu neigten, so wild, verrückt und asozial wie ihre Gottheit zu sein. Rudra wurde in einigen der frühen Upaniṣaden populär. Wir begegnen ihm im frühen Hinduismus als Śiva. Zu der Zeit hatte sich der Gott schon stark verändert. Er wurde mit dem Liṅga identifiziert, einer phallischen Abbildung, die im Volksglauben beliebt ist, und mit dem wahren Liṅga, der unermesslichen ewigen Säule aus schierer Energie, die dem Kosmos die Richtung gibt. Dieser Pfeiler ist kein Phallus. Er kommt eher solchen Vorstellungen nahe wie dem Lebensbaum, dem Pfahl, der bis zum Nordstern reicht, der kosmischen Achse, die es Sehern und Schamanen ermöglicht, in die Höhe und die Tiefe zu reisen. Er hat auch den Stier Nandi (Freude) als sein Vehikel bekommen. Rudra wird in einer der Hymnen des ṚV als Stier bezeichnet, aber dies ist eine Ausnahme, da in vedischen Zeiten der Stier das Vehikel und Symbol von Indra war. Nichtsdestoweniger finden wir Rudra im Atharva Veda in enger Verbindung mit Rindern. Als Śiva das Liṅga und den Stier erlangte, erhielt er auch eine lebenswichtige Funktion im ländlichen Leben. Als Gott des Phallus wurde Śiva mit Fruchtbarkeit, Lust und allgemein Fortpflanzung in Verbindung gebracht. Dies hat nicht mehr viel zu tun mit dem asketischen Śiva, dem halbverhungerten Asketen, der allein in Bergen und Dschungeln haust. Der frühe Hinduismus machte Śiva zu einem Gott voller Paradoxien und extremer Kontraste. Śiva spendet Leben und Fruchtbarkeit, aber seine Kinder sind Krankheiten, Gift ist sein Elixier, und das Schlachtfeld ist sein Spielplatz. Er gibt Leben und Tod, und er ist der Erlöser von beidem. Solche Auffassungen schienen einander zu widersprechen, aber für Anhänger der Gottheit ist der Widerspruch ein Tanz des Gleichgewichts. Diese rätselhafte Figur ist viel klarer definiert als der vage und allgegenwärtige Viṣṇu. Śiva hat mehrere Systeme der Befreiung inspiriert. Anders als die einfache Methode des Bhakti, die von jedem übernommen werden kann, unabhängig von Alter, Klasse oder Intelligenz, verlangen die Lehren Śivas sehr viel Lernen, Training und Disziplin. Diese finden ihren Ausdruck in vielen Āgamas und Tantras, in denen Śiva oder eine Form von Śiva komplizierte Rituale, Visualisierungen, Mantras und Zaubereien lehrt. Ein wichtiger Teil des Śiva-Kultes war die Integration weiblicher Gottheiten. Der Kult umfasste Sexualität, und dies machte die Partnerin des Gottes zu einer wichtigen und aktiven Figur. Die Anhänger Śivas statteten ihren Gott mit einer ganzen Reihe von Partnerinnen aus, die meist ehemalige Ortsgöttinnen waren.

Kālī Kaula

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