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Dreieinhalb Bewusstseinszustände

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In den Upaniṣaden findest Du Versuche, die Art und Weise zu ordnen, wie Menschen das Multiversum erleben. Im klassischen Modell gibt es drei Grundzustände der Wahrnehmung. Diese Zustände sind grob bekannt als Tiefschlaf, Wachen und Träumen. Im Tiefschlaf bist Du Dir Deines Körpers, Geistes und Deines Selbst nicht gewahr. Alle Selbstdefinitionen hören auf zu wirken, aller Identitätssinn verschwindet, sowie alle Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. In diesem Sinne ist traumloser Schlaf der Perfektion ziemlich nahe. Er ist nur eben leider nicht bewusst. Das Wachbewusstsein ist das, was Du mit Deinen Sinnen wahrnehmen kannst. Nun zeigen die Sinne die Welt nicht so, wie sie ist. Was sie liefern, ist eine angepasste und begrenzte Zusammenfassung Deiner Sinneswahrnehmungen, aufbereitet und modifiziert an Deinen Glauben daran, wie Realität sein sollte. Egal, wie gut Du hörst, siehst, spürst oder sonstwie die Welt wahrnimmst, was Dein Geist Dir zeigt, ist nur eine Darstellung. Egal, wer Du bist und was Du tust, Du lebst in einer künstlichen Repräsentation, und dies gilt für uns alle. Hier möchte ich noch darauf hinweisen, dass schon in der Upaniṣadenzeit die Sinneswahrnehmung als eine aktive Tätigkeit betrachtet wurde. Dein Auge sieht nach dieser Auffassung nicht, indem es Licht empfängt, sondern indem es einen Lichtstrahl aussendet, welcher die Welt des Sehbaren erschafft. Aus deinen Ohren kommt aktiv Gehör, und dieses erzeugt den Klang der Dinge. Die Nase macht den Geruch. Daher können große Yogīs Menschen z. B. mit ihren Augen berühren, segnen oder in sie eindringen. Es ist eine spannende Meditation, das in aller Ruhe bei einem Spaziergang zu erleben: alles was Du gerade empfindest, strömt nicht einfach in deinen Kopf hinein, sondern wird vielmehr von deinem Selbst bzw. dem Allselbst durch die Sinnesorgane nach außen projiziert. Träumen deckt im indischen Denken alle inneren Erfahrungen ab. Dies beinhaltet Träume im Schlaf und Träume im Wachen. Immer, wenn Du etwas denkst, geht Deine Aufmerksamkeit von der äußeren Welt weg und in eine innere Welt, die Du selbst machst. Auch dies ist eine aktive Tätigkeit. Manche nennen das denken, planen, spekulieren, erinnern, reflektieren oder imaginieren. Sie kalkulieren, befürchten, hoffen, sehnen, glauben, vermuten, zweifeln, ahnen, schauen innere Filme, hören sich innerlich sprechen und bekommen Gefühle dazu. Die Seher der Upaniṣaden nannten es träumen.

Diese drei Zustände, so dachten die Seher, sind das Grundmaterial des göttlichen Spiels, das wir für unsere Realität halten. Dahinter oder darin gibt es einen geheimen Kern. Dieser ist der vierte Zustand, das Turīya (Vierter), welches als die Ursache aller Zustände betrachtet wird und diese gleichzeitig vereint und transzendiert. Turīya ist schwer zu definieren, weil jede Definition am Thema vorbeigeht. Es ist nicht einfach ein vierter Zustand, sondern eine mysteriöse Zwischenempfindung, an welcher die drei anderen Zustände durchaus beteiligt sein können. Stell Dir zum Beispiel vor, Du würdest gleichzeitig im Tiefschlaf, im Wachbewusstsein und am Träumen sein, und geh noch ein wenig über diese Empfindung hinaus. Daher wird es üblicherweise nicht als ein voller Zustand gezählt, sondern als ein halber. Dies gibt uns dreieinhalb Zustände, die den dreieinhalb Windungen der Kuṇḍalinī entsprechen. In der Literatur wird Turīya üblicherweise dadurch definiert, dass aufgezählt wird, was nicht ist. Sieh Dir einfach die klassische Beschreibung an, die im Mantra-Kapitel (unter Oṁ) gegeben wird. Es ist nicht einfach, auf etwas zuzugehen, was nicht definierbar ist. Man kann das Turīya nicht tun, erlangen, erreichen oder steuern. So lange es Anstrengung und Absicht gibt, gibt es noch Denken, Tun und Träumen und eine Person, die in diese Dinge involviert ist. Wie ist es mit dem Nichttun? Bedenke, dass der Weg zum Turīya ein innerer Weg ist, eine Rückkehr zur Quelle der drei anderen Zustände. Manche Autoren vergleichen das Turīya mit dem traumlosen Schlaf, in dem es kein Wachen oder Träumen gibt, weder in der äußeren noch in der inneren Welt. Anders als der traumlose Schlaf ist Turīya aber sehr wach. Wir haben jetzt dreieinhalb Zustände. Es gab auch Seher, denen das nicht genug war: sie fügten einen jenseits von Turīya hinzu, der das wirklich Absolute sein sollte. Doch diese Vorstellung hat sich nicht sonderlich durchgesetzt.


Bild 22

Lakṣmī-Statue

Stein, wahrscheinlich Kajuraho.

Um die drei Zustände zu verstehen, ist es nützlich, ein paar Tage lang Deine Aktivitäten zu beobachten. Wann immer Du Dich gerade an diese Übung erinnerst, überlege, was Du gerade tust. Bist Du jetzt wach? Oder träumst Du? Oder bist Du irgendwo dazwischen? Hier kann es nützlich sein, die Zustände als ‘Welten’ zu betrachten. Die Welt des Wachbewusstseins ist das, was Du mit Deinen Sinnesorganen wahrnehmen kannst (oder eben erschaffst). Es ist, wie andere behaupten, die materielle Welt. Man kann sie sehen, berühren, hören, riechen und schmecken. Sie kann gemessen werden, und sie kann (in einem gewissen Ausmaß) mit anderen geteilt werden. Manche, üblicherweise Leute, die die letzten paar Jahrzehnte in einem Erdloch gelebt haben, halten diese für die objektive Welt und betrachten sie als ‘real’. Andere, die sich die Mühe gemacht haben, ihren Geist mit Quantenphysik, Philosophie und Hirnforschung zu verknoten, erklären, dass sie vielleicht für uns ein wenig objektiv sein könnte; nicht dass wir uns dessen sicher wären, aber vorläufig könnte das reichen. Die materielle Welt ist real für die Instrumente, die sie wahrnehmen und messen können. Oder, im klassisch indischen Denken, wird die materielle Welt durch die Sinnesorgane real gemacht. Die Traumwelt ist anders, da sie viel subjektiver und an Dein Körper/Geist-System angepasst ist. Sofern sie nicht einen materiellen Träger hat, wie ein Gemälde, eine Statue, ein Gedicht, Buch oder einen Film, ist sie sehr schwer zu vermitteln oder mit anderen zu teilen. Ich würde vorschlagen, hier zwei Welten zu unterscheiden, die Welt der Schlafträume und die der Wachträume. Die Traumwelten sind auf ihre eigene Weise real, indem sie Ideen, Emotionen und Inspirationen liefern, die die materielle Welt gestalten. Jeder Gegenstand in Deiner Umgebung, der nicht natürlich entstanden ist, ist eine Manifestation der Traumwelt. Häuser, Straßen, Autos, Bücher waren alle Ideen und Träume, bevor sie in materieller Gestalt manifest wurden. Viele Leute bringen die Realität dieser zwei Welten durcheinander. Tatsächlich überschneiden sie sich. Du kannst einen Baum sehen, fühlen, schmecken, riechen und manchmal hören; dies macht ihn zum Teil der materiellen Welt und des Wachbewusstseins. Du kannst Dir einen Baum vorstellen und ihn mit Deiner Imagination wahrnehmen. Wenn Du das gut machst, wird der Baum Dich beeindrucken, Dich bewegen, eine emotionale Reaktion verursachen; ein Test der Realität einer Imagination besteht darin, dass sie Dich bewegt und Gefühle hervorbringt. Beide Erfahrungen werden zur Erinnerung, der Erinnerung an einen Baum, den Du mit Deinen äußeren und inneren Sinnen erlebt hast. Beide Bäume sind in ihrer eigenen Welt real, beide Bäume sind Repräsentationen. Was bleibt, ist eine Erinnerung an eine Repräsentation Deiner äußeren und inneren Sinne.

Beide Bäume sind real, aber jeder ist nur in seiner eigenen Welt real. Ein Monster, das sich unter Deinem Bett versteckt, ist nicht real oder messbar mit den äußeren Sinnen (Wachbewusstsein), es ist Teil der Traumwelt. Es ist nicht real in der materiellen Welt, aber es ist sicher real in der Imagination. Versteckte Monster haben schon viele Kinder mitten in der Nacht verängstigt, und jede Idee, die das kann, ist ziemlich real. Das selbe gilt für die Trancen, in die Menschen geraten, wenn sie verliebt sind, Angst haben, paranoid, gierig, verärgert, ambitioniert, traurig, inspiriert usw. sind. Du kannst Liebe nicht in der Wachwelt messen, aber sie ist sicherlich stark genug, um Menschen zu beeinflussen. Du kannst Furcht nicht messen, und doch ist Furcht so stark, dass sie Kriege, gesellschaftliche Verpflichtungen, Hierarchien, Traditionen und geregelte Arbeitszeiten verursacht. Jeder der Zustände enthält eine Menge Realität in sich. Die Realität des Wachbewusstseins ist abwesend, wenn Du schläfst und träumst, sie ist bedeutungslos, wenn Dein Geist Tagträume hat und wenn Du starke innere Gefühle wie Sehnsucht, Liebeskummer oder Überlebensängste erlebst. Die Schlaftraumerfahrung ist äußerst real, wenn Du im Traumland bist; sie verblasst zur Erinnerung, wenn Du am Morgen aufwachst. In Magie, Ritual und Religion neigen die Welten zur Überschneidung. Ein materielles Objekt kann eine starke imaginäre Realität haben, ein Traum kann in die Welt des wachen Erlebens projiziert werden. Wenn sich die Welten überschneiden, erleben wir Transformation. Es ist nur von zwischendrin und außerhalb, d.h. Turīya, möglich, dass die anderen Zustände willentlich veränderbar sind. Wir brauchen manchmal einfach Leerlauf, um von einem in den anderen Gang zu kommen.

Kālī Kaula

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