Читать книгу Kālī Kaula - Jan Fries - Страница 7

Einleitung

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Na-aham-asmi-naca-anyo ‘sti kevalāḥ śaktayas-tv-aham

Ich bin nicht, noch existiert ein anderer; ich bin nur Energien.

(Der wichtigste Mantra im Kula Ritual. Abhinavagupta, TĀ, 29, 64, nach Dupuche, 2006 : 221)

Dies kann der Anfang der seltsamsten Reise sein, die Du je unternommen hast.

Das Buch, das Du gerade gekauft hast (oder mit dem Du im Buchladen Deiner Wahl liebäugelst) ist eine Einladung. Hier findest Du den tantrischen Weg jenseits des Glitzerns und Schaums der New-Age-Erotik. Hier ist das Hardcore-Zeug, die echte Sache, wie sie in den rauen Bergen von Kaschmir, der sengenden Hitze von Südindien und den feuchten, fieberverseuchten Dschungeln von Assam entwickelt wurde. Hier ist das weite und leere Herz der schwarzen Göttin, der geheime Sitz der Initiation und ein dunkler Torweg … Du wirst herausfinden, wohin er führt, wenn Du hindurch und schließlich weiter gehst.

Tantra. Was nicht ganz stimmt. Es ist überhaupt kein Buch über Tantra. So etwas wie Tantra gibt es nicht, zumindest nicht für diejenigen, die es leben. Die Menschen, die Tantra erfanden, nannten es nicht so. Es waren andere Leute, viele von ihnen Außenseiter, die den Begriff prägten, Jahrhunderte nach dem Spaß und der Verrücktheit des Anfangs. Tantra ist nur ein Wort, und kein besonders gutes. Es gab und gibt hunderte von ‘tantrischen’ Systemen in Asien, die meisten von ihnen in fröhlicher Uneinigkeit mit allen anderen. Je mehr Du über Tantra erfährst, desto weniger wirst Du den Ausdruck mögen. ‘Tantra’ ist so ausgedehnt, dass man es nicht festmachen kann; man kann es nicht definieren und braucht es auch nicht zu versuchen. Wenn Du ein Wort für das brauchst, was Du tust, oder eine Tradition, an die Du Dich klammern kannst, wirst Du nie die Essenz entdecken, die Dich vor Leben pulsieren und vibrieren lässt. Verwirrt? Das solltest Du sein. Ich bin es auch und habe das hier geschrieben.

Es ist also überhaupt nicht ‘Tantra’, was eine ziemliche Erleichterung ist, da diesem Wort so viele schlecht informierte Dilettanten einen üblen Ruf beschert haben. Hier ist etwas, das Du Kaula nennen könntest, wenn Du möchtest. Oder was Du Krama nennen könntest, wenn Du einen Namen für etwas äußerst Anspruchsvolles und Mysteriöses brauchst. Oder Trika, wenn Du wirklich ambitioniert bist und vor weiterer Nachforschung nicht zurückschreckst. Oder Du verzichtest einfach auf die Namenspiele. Die wirkliche Sache geschieht jenseits von Namen und Definitionen. Jenseits der Etiketten, jenseits der Traditionen, jenseits des Glamours der Kommerzialisierung oder der ausgestopften Ernsthaftigkeit mancher Akademiker, die seit Jahren nicht mehr richtig gelacht haben. Hier ist die konzentrierte Essenz der Erfahrung. Hier ist Deine Chance, etwas Neues zu entdecken, und Deine Einladung, selbst zu entwickeln, was Du nicht finden kannst, und zu manifestieren, was Du willst, und was zu Dir passt.

Nun mögen sich einige Leser nach heiligen Traditionen sehnen. Manche träumen vom ‘heiligen Indien’– betäubend blauer Himmel, strahlende Paläste, plappernde Papageien, halbverhungerte Yogīs, die gelassen in der Sonne braten, verführerische Damen in erstaunlich bunten Saris, und natürlich die geheiligte Weisheit der Alten, klebrig und süß. Indien, das Land, in dem jeder spirituell ist. Indien, eine Kultur von göttlicher Erotik, zauberhaften Fabeln und einer romantischen Weisheit, die der arme kurzsichtige Westen niemals wirklich besaß. Außer einigen Druiden natürlich, die sie wahrscheinlich aus Indien hatten. Oder war es Ägypten? Oder Atlantis? Such Dir aus, was Dir gefällt. Ein riesengroßes Naan-Brot, mit süßen und würzigen Sachen belegt, viele davon leider aus Plastik. Nein, das wollen wir nicht. Dies ist nicht der Ort für Idealisierung. Wer fromme Märchen sucht, ist bei der New Age Bewegung besser aufgehoben. Hier ist Deine Chance, Vindaloo Mahākālī zu genießen und herauszufinden, was es mit Dir anstellt. Hier ist Deine Chance, zu denken und zu tun und zu entdecken. Denn wenn Du Dich auf Traditionen beschränkst, kommst Du nirgendwohin.

Ein Grund, weshalb ich dieses Buch geschrieben habe, ist der, dass Kālī mich darum gebeten hat. Sie hat all den tantrischen New-Age-Ramsch satt, der in diesen schrecklichen kleinen Läden vertickert wird, wo Heilig-Heilig-Muzak-Musik die Luft erfüllt, Spiritualität mit verringerten Erwartungen gleichgesetzt wird und die Leute so aussehen, als würden sie den ganzen Tag Seife essen. Sie hat einen Widerwillen gegen Tantra-Sets, bestehend aus aromatischen Massageölen, Räucherstäbchen, Honigstaub und zehnseitigen Anleitungsheftchen, die Mantras, Stellungen und Rituale zur Spiritualisierung eines langweiligen Liebeslebens bescheren. Und sie spuckt auf diejenigen, die sich Tantrameister nennen. Das stimmt. Es geschieht die ganze Zeit. Weil Kula, Kaula, Krama, Trika, Mahācīna usw. so viel mehr sind. Mehr als Sex, mehr als Religion, mehr als ein Hobby oder ein Interesse. Sie sind alles im Leben und gehen noch weit über jede einzelne Lebensspanne hinaus. Sie gehen auch über unsere Persönlichkeit hinaus. Über jede Persönlichkeit.

Das wirst Du nicht durch das Lesen von Büchern erfassen. Und ganz sicher bekommst Du es nicht für Geld. Der einzige Weg, um dort hinein und glücklich darüber hinauszukommen, besteht darin, den Weg mit der ganzen Kraft, Lust und Begeisterung zu leben, die Du aufbringen kannst. Und das kannst Du, wie Du erfahren wirst, wenn Du über deine Grenzen hinausgehst. Es reicht nicht, ein paar Mantras zu plappern. Es reicht nicht aus, mit Cakras zu herumzuspielen oder eine kleine Schlange in Deiner Wirbelsäule zu visualisieren. Es ist eine Menge mehr, als Gott zu spielen, um Dein Liebesleben zu legitimieren. Der Spaß fängt an, wenn Du alles gibst, was Du hast und herausfindest, dass da noch eine ganze Menge mehr ist, wovon Du nichts gewusst hast. Wenn Du Deinen Körper mit Wonne und Kraft auflädst und das gute Gefühl mit einem breiten Lächeln verstärkst und es verdoppelst und Dich mit Freude erfüllst, sie wieder verdoppelst und nochmal verdoppelst. (Danke, Richard!) Es passiert, wenn Du Dich mit schierem, überwältigendem Enthusiasmus durchtränkst. Es passiert, wenn Du den Mantra nimmst und die Lautstärke aufdrehst und Chor und Echo hinzufügst und ihn seinen Weg durch Dein ganzes Sein vibrieren lässt, so dass die Klangessenz des Göttlichen Dich bis in den Kern erschüttert. Es ist da, wenn Du damit aufhörst, Dich mit halbherzigen Bildern und lauwarmer Gleichgültigkeit zufriedenzugeben. Deine Vision kann heller, größer, klarer, näher, besser werden! Jede Erfahrung kann viel beeindruckender werden, wenn Du sie so machst. Es ist Dein Gehirn, es ist Dein Nervensystem, und Du kannst sie benutzen, wie immer Du willst. Denk nicht nur an die Kuṇḍalinī, lebe sie, sei sie, erkenne sie als Deine persönliche Gottheit, Dich selbst und die ganze Welt und geh darüber hinaus! Und wenn Du ins Herz hinab sinkst, gleite tiefer und tiefer, löse Dich von den Formen, die erscheinen, Schicht um Schicht, bis Du den Punkt der äußersten Realität erreichst, wo Form und Leere Liebe miteinander machen. Du bist beides. Du bist jenseits davon. Wo bist Du nun? Wer bist Du je gewesen?

Hier gehen wir weit über Gedankenspiele hinaus. Wenn wir Tantra als irgendetwas bezeichnen müssen, dann könnten wir es ein Set von Techniken nennen, die funktionieren, gekoppelt mit Wildheit, Freude, Wagnis und dem Drang, das zu erfahren, was Dich aus dem herausschüttelt, was auch immer Du vorher warst. Das ist es, was die Pioniere taten. Und warum sie so weit kamen. Das ist es, was spätere Generationen verloren, als sie in Tradition, Regeln, abgehobener Spekulation, tonnenweise Theorie, Geschwätz und stumpfsinnigem Gehorsam steckenblieben. Hier ist ein Buch für alle, die wissen und wollen und tun. Wenn Du erwachst, wirst Du Kālī in Dir finden, oder wie auch immer Deine persönliche Gottheit sich Dir zeigt. Sie will keine lauwarme Anbetung, Teilzeithingabe oder Nachahmung von Heiligkeit. Es gibt zu viele Hochstapler ringsumher, sei es in Indien, Kalifornien und in jeder okkulten Organisation, die Du nur nennen kannst.

Sie will, dass Du alles in die Opferschale gibst, weil das der einzige Weg ist, alles daraus zu erhalten. Deinen Bauch als Zentrum für Freude, Lust und gute Gefühle. Dein Herz für Liebe und Lachen. Deinen Kopf für Lernen und Denken und neues Lernen. Wenn Du diese drei zusammenbringst, bist Du bereit dazu, Dich selbst zu überraschen. Genau jetzt.

Schwerpunkte dieses Buches

Als ich den Kessel der Götter fertig hatte, fragte mich eine Freundin, was ich denn läse. ‘Es ist der Kaulajñāna nirṇaya’, antwortete ich, froh auf das kleine rote Buch schauend, mit seinem ramponierten Umschlag und dem die-Göttin-weiß-was-die-statt-Papier-verwenden-Look, der bei indischen Verlagen so beliebt ist … wundervolles Zeug über Meditation und eins der praktischsten Tantras, die mir je untergekommen sind.’

‘Kein Keltenzeug mehr?’

‘Es geht mir auf die Nerven. Es gibt viel zu wenig praktisches Material in den überlieferten Texten. Ich habe genug von Fragezeichen, mittelalterlichen Mythen und müßiger Spekulation. Zumindest hatten die Kaula-Leute ein klares Interesse an Sachen, die funktionieren. Und sie hatten einen Sinn für Humor. Das ist erstaunlich selten in alter Literatur.’

‘Du wirst doch nicht ein Buch über Tantra schreiben, oder?’

‘Oh nein. Tantra ist riesig, unfassbar und überwältigend. Über das Thema kann man hundert Bücher schreiben. Wenn Du die Menge der erhaltenen Literatur nimmst, kannst Du Dein ganzes Leben mit Forschung verbringen und bekommst doch nur einen Bruchteil zusammen. Sorry, ein Buch über Tantra ist unmöglich.’

Und so ist es auch.

Glücklicherweise muss ich nicht über das ganze Tantra schreiben, was auch immer das sein soll. Ich habe mir nur einen kleinen Bereich an erhaltener (und übersetzter) Literatur herausgegriffen, sie mit einer Menge täglicher Übung kombiniert, mir selbst das Versprechen gegeben, dass dieses Buch kein solches Monster wie der Kessel der Götter werden würde, und mich an die Arbeit gemacht. Zum Glück hatte ich mich schon einige Jahrzehnte mit manchen der aufregenderen ‘tantrischen’ Traditionen befasst. Ich beschloss, mich auf diese frühen Traditionen zu konzentrieren, vor allem Kula, Kaula, Krama und etwas Trika hinzuzufügen, was auch immer funktionieren würde, etwas Geschichte am Anfang, und die große Mehrheit der tantrischen Bewegungen zu ignorieren, die zum Buddhismus oder dem rechtshändigen Pfad des hinduistischen Stell-dich-in-die-Reihe-und-tu-was-dir-gesagt-wird-Tantra gehören. Bedauerlicherweise musste ich einige faszinierende Traditionen auslassen, und zum Glück noch viele mehr, die so stumpf und langweilig sind, dass ich Dich nicht damit belästigen will. Daher ist das Buch, das Du liest, keineswegs repräsentativ für das, was moderne Inder oder Westler als ‘tantrisch’ zu betrachten pflegen, aus dem einfach Grund, dass hier nur einige frühe, kleinere Bewegungen untersucht wurden, und auch diese nur bezüglich ihrer praktischen Anwendung. Und selbst von diesen Entwicklungslinien blieb eine riesige Materialmenge unberücksichtigt.

Nimm zum Beispiel die Initiation. Bei den frühen Kulas und Kaulas bezeichnete Initiation einen Komplex von höchst raffinierten Ritualen, die einen guten Teil Hypnose beinhalteten. Hier war Initiation keine Formalität, sondern eine Erfahrung, die den Initianten von seinem Dasein als ‘gebundenes Tier’ befreit. Nun waren die Kaulas praktische Leute. Sie legten nicht viel Wert auf Vertrauen und blinden Glauben. Stattdessen testeten sie ihre Ergebnisse. So solltest Du es auch halten. Ein Schüler, der die fünf Anzeichen von der Śaktipāta, dem ‘Herabkommen der Energie’, zeigte, wurde ermutigt, weiterzumachen. Für diejenigen unter Euch, die wissen wollen, welche Zeichen das sind, listet sie Abhinavagupta auf (Tantrāloka, 29, 208): Glücksgefühl, Leichtigkeit des Körpers, Zittern des Körpers, Schlaf der äußeren Sinnesorgane und ein gewisses Taumeln oder Schwanken. Weitere Zeichen können z. B. ekstatisches Lachen oder Weinen sein. Manche Initianten werden spontan poetisch, singen, tanzen oder wollen die ganze Welt umarmen. Diese Symptome zeigen ein Herabkommen der Energie (Śaktipāta) an und sind auch Anzeichen dafür, dass die Rudraśakti die verschiedenen Körper/Seinsebenen eines Initianten (zeitweilig) gereinigt hat. Was keineswegs die einzige Herangehensweise an die Sache ist. Es gibt ein riesiges Spektrum an Initiationsmethoden, manche von ihnen so obskur, dass es einen erstaunlich kompetenten Guru braucht, um sie zum Funktionieren zu bringen. Da dieses Buch sich vor allem mit der Praxis beschäftigt und Du vielleicht Dein Ding ohne einen solchen Guru durchzuziehen hoffst (die meisten von ihnen scheinen mit dem ursprünglichen Kula, Kaula und Krama vor dem 14. Jh. ausgestorben zu sein), wird das Thema Initiation ausgelassen. Nichtsdestoweniger ist es ein essentieller Teil der ursprünglichen Traditionen, und ich bitte um Entschuldigung dafür, diesem Thema nicht mehr Raum gewidmet zu haben.

Weitere Themen dieser Art sind die Wissenschaft von den Phonemen, den Kategorien der Existenz, und der riesige Bereich der philosophischen Erkenntnis, die aus den praktischen Erfahrungen jener wundervoll verrückten Seher erwuchs. Schon die Sāṁkhya-Schule unterteile das gesamte Dasein in 25 Prinzipien. Spätere Systeme wie Krama, Pratyabhijña, Kula und Trika erweiterten das Daseinsspektrum zwischen dem Manifestierten, Menschlichen und dem undefinierbar Göttlichen in 36 oder 37 Kategorien oder passten derartige kosmologischen Modelle an die etwa 50 Phoneme des indischen ‚Alphabets‘ an. Das Ergebnis war ein Modell der Welt, in dem sich alle Wesensbereiche, Elemente und Zustände als Klänge darstellen ließen. Das hatte besonders starken Einfluss auf die stetig diffiziler werdende Wissenschaft der Mantras. Hier begegnet man derartig verfeinerten und komplizierten Kosmologien, dass sich die hebräische Qabala, die mesopotamischen Geheimlehren und die Anderswelten der Ägypter im Vergleich dazu wie Kinderspielzeug ausnehmen. Manche spirituellen Systeme waren weitgehend auf solche Spekulationen gegründet: der Weg zum Heil lag im Bedenken, Erkennen und Erinnern. Andere Systeme konzentrierten sich auf praktische Erfahrungen, und wenn den heranwachsenden Tantrikern welterschütternde Einsichten kamen, wurden diese mit einem Grinsen zur Kenntnis genommen, und niemand machte eine große Szene deshalb. Denn erschütternde Einsichten kommen immer wieder vor. Sie zeigen, dass man noch am Leben ist. Doch sollte man hier nicht einfach zwischen ‚Theoretikern‘ und ‚Praktikern‘ unterscheiden, denn so simpel ist es nicht. Es gibt ‘tantrische’ Systeme, die philosophisch erscheinen, es aber nicht sind, weil sie auf spiritueller Erfahrung statt auf Nachdenken, Logik und Spekulation beruhen. Tatsächlich gibt es eine Menge davon, und sie stimmen nicht miteinander überein, oft noch nicht einmal in den Grundlagen. In diesem Buch ist deshalb die ‘tantrische Theorie’ auf ein sehr kleines Minimum reduziert. Eine Ausnahme machen wir im Kapitel über den Krama, um zumindest ansatzweise vorzustellen, zu was für Höhenflügen die Seher/innen Kaschmirs fähig waren. Diese Tradition, obwohl sie größtenteils verloren und vergessen ist, bietet immer noch genug Material, um zum Denken, Verstehen und Erleben zu verhelfen. Und sie ist, was ein besonderer Bonus darstellt, eng mit einer ganzen Serie von Kālīs verknüpft. Auch hier habe ich die Theorie stark vereinfacht. Das alles soll verdeutlichen, dass es den meisten Tantrikern nicht nur darum ging, zu glauben oder Rituale durchzuführen. Nur weil Du und ich möglicherweise die direkte Erfahrung der Theorie vorziehen, will ich nicht den Eindruck vermitteln, dass alle ‘tantrischen’ Gurus so denken.

Ein weiteres Thema, das ich nur ansatzweise behandelt habe, ist die praktische Magie, Zauberei und Beschwörung. Moderne Autoren neigen dazu, den Eindruck zu vermitteln, ‘Tantra’ und ‘Yoga’ seien Disziplinen, die dafür gedacht sind, Wohlgefühl, Gesundheit, Erleuchtung und Befreiung zu garantieren, und dass ihre Anwendung für Zaubereien eine Perversion des ursprünglich reinen Credos sei. Was gut klingen mag, aber schlicht und einfach falsch ist. Zauberei gab es schon immer, und für die meisten Praktizierenden war sie die Hauptsache. Du findest sie in den ältesten Texten. Rituale zur Erschaffung magischer Schwerter, die Feinde aus der Ferne köpfen; Rituale, um Städte zu erschüttern, Gegner zu lähmen, zu betäuben, zu blenden oder auf andere Art zu vernichten usw. sind ausgesprochen häufig. Yogīs und Tāntrikas waren berühmt und gefürchtet für ihre Fähigkeit, in Tiere oder Menschen einzudringen und die Seelen ihrer Opfer in andere Wesen, Leichen oder geeignete Behältnisse zu verbannen. Besonders beliebt war die magische Macht (Siddhi), den Körper eines Königs zu übernehmen, um dann ein Leben der Lust und des Reichtums zu genießen. Die Seele des Königs hatte das Glück, den Rest ihres Daseins in einem Haustier verbringen zu dürfen. Diese Praxis wird in der älteren Literatur ausgesprochen oft erwähnt. Sie wurde nicht nur von bösartigen Hexern verwendet: als der geachtete religiöse Reformator Śaṅkara (er wirkte etwa von 788 bis 820) erkannte, dass ihm zur spirituellen Reife noch die Erfahrung der Liebeskunst fehlte, übernahm er kurzerhand den Körper eines Königs, um sich auszutoben. Netterweise wählte er allerdings einen, der kurz zuvor verstorben war. Dabei gefiel es ihm so gut, dass ihn seine eigenen Schüler nur mit Mühe zum asketischen Leben zurück gewinnen konnten (White, 2011 : 27). Magische Riten wirkten anziehend auf Zauberer und Scharlatane, die Gewinn mit dem Verkauf von Zaubersprüchen machten; sie waren auch erstaunlich beliebt unter Königen und Politikern, die andere Königreiche beherrschen wollten. Weit davon entfernt, eine Perversion der niederen Klassen zu sein, wurden solche Riten vom gebildeten Volk aus den höchsten Ebenen der Gesellschaft geschätzt. Es mag keine populäre Vorstellung sein, aber es ist so, dass viele der frühesten Yogīs und Tāntrikas sich einen Dreck um Ethik scherten oder um das, was moderne, gebildete, politisch korrekte und gut ernährte Menschen für ‘spirituell’ halten.

Alchemie ist ein weiteres Thema, das ich weitgehend auslassen musste. Es wurde von den meisten Forschern ignoriert, außer von solchen Pionieren wie David Gordon White. Die Kunst der Raffinierung und Einnahme von Quecksilber und Zinnober war essentiell in vielen ‘tantrischen’ Systemen, wie bei den Siddhas, Nāthas und Yogīs, und keineswegs eine Nebensache. Zahlreiche Adepten, die den Haṭhayoga und das moderne Sieben-Cakras-System entwickelten, nahmen fröhlich Gifte ein, ungeachtet der Konsequenzen. Sie wollten vor allem die Welt transzendieren oder Unsterblichkeit erlangen, und ersteres hat meistens ziemlich schnell geklappt. Sie verkauften solche Wunderdrogen auch an wohlhabende Aristokraten und Könige. Solche Heilmittel sind heute noch verbreitet: ich habe mit etlichen Nepalis gesprochen, die der Ansicht waren, dass Quecksilber verjüngt und das Leben verlängert. Da vom praktischen Gesichtspunkt aus nur wenig Nutzen in diesem Thema liegt – es sein denn, Du willst Dich umbringen – habe ich die Sache nur hier und da erwähnt.

Schließlich gibt es noch einen gewaltigen Bereich dessen, was man ungefähr als ‘Volkstantra’ bezeichnen kann, basierend auf Myriaden von ethnischen Traditionen und lokalen Gottheiten, Gebräuchen und Ritualen. Während das Wort ‘Tantra’ vor allem ‘Gewebe, (spiritueller) Text, Lehrbuch, Wissenschaft’ bedeutet und alles, was wir von den früheren Systemen wissen, auf schriftlichen Quellen basiert, gibt es einen enorm komplexen, bunten und verwirrenden Bereich von ungeschriebenen Traditionen, die von Leuten entwickelt wurden, die draußen auf der Straße oder als Haushälter in der Gesellschaft lebten. Diese Themen sind faszinierend und werden in den Büchern von June McDaniel wunderbar präsentiert.

Zuletzt möchte ich noch ein Thema erwähnen, welches hierzulande besonders brachliegt. Es handelt sich um spirituelle Musik. Die klassische indische Musik gehört zum Besten, was auf diesem Planeten je entwickelt wurde. Sie besteht oft aus einer subtilen Kombination von traditionellen Elementen (Tonleitern, Rhythmen, kurzen melodischen Elementen) und einer großen Menge Improvisation. Rāgas (spezielle Musikstücke, Farben, Gefühle) sind keine definierten Lieder oder Kompositionen, wie hierzulande üblich, sondern leben durch die Tatsache, dass sie sich bei jedem Spiel neu entwickeln. Wenn ein guter Musiker einen Rāga spielt, weiß das Publikum nicht, ob das Ereignis zehn Minuten oder zwei Stunden dauern wird. Da diese Musik von der Improvisation lebt, ist sie viel eher als ein spirituelles Ritual als eine mechanische Darbietung zu verstehen. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass viele bedeutende Tantriker selber begeisterte Musiker waren (und sind).

Überschwängliche Freude, höchste Glückseligkeit, zunehmendes Wissen, das Spiel der Flöte und der Viṇā-Laute, Poesie, Weinen, Redegewalt, Hinfallen und wieder Aufstehen, Gähnen und Herumwandeln – all diese Handlungen, oh Devī, werden als Yoga-Praktiken betrachtet. In diesem Cakra (=Ritualkreis) verhalten sich die heldenhaften Yogīs und Yoginīs, in ihrem ekstatischen Bewusstsein, entsprechend dem Hochgefühl ihres Geistes. (KNT, Kapitel 8, nach Rai).

Musizieren ist eine wundervolle Methode, das limbische System in Deinem Gehirn zu beeinflussen und die Gefühle zu hervorzurufen, die Dich weiterbringen.

Er geht dann zum Kula Pīṭha, um die Kula-Gottheit zu verehren. In der Tür des Andachtsortes zeigt er sich freudig mit Gesang, Tanz und Musikinstrumenten, und nachdem er so den Kula Dämon vertrieben hat, sollte (der Sādhaka) den Kula-Treffpunkt verehren. (KCT, 2, 13-14, nach Finn).

Musik ist viel mehr als Unterhaltung. Sie ist auch eine Form der Bewusstseinsveränderung, eine einfache und praktische Methode, Trancezustände zu generieren. Wir können die Götter mit Gebet und Geste erreichen, aber wir können auch einfach eine passende Tonleiter nutzen, um mit ihnen zusammenzukommen. Da das Thema sehr umfangreich ist, habe ich mich entschlossen, den ursprünglich vorgesehenen etwa dreißig Seiten langen Anhang auf ein winziges Minimum zu reduzieren, und ein paar grundlegende Rāgatonleitern, die bestimmte Götter manifestieren, am Ende des Buchs aufgeführt. Du wirst mit ihnen zwar noch lange keine klassische indische Musik machen, aber sie können Dir helfen, die Götter in einer Klangmeditation zu erleben. Dafür brauchst Du keine indischen Instrumente. Ein paar Flöten in verschiedenen Stimmungen, eine Gitarre, Mandoline oder Geige tun’s auch. Wichtiger als die Instrumente ist das Bewusstsein vom Klang. Klang ist im indischen Denken essentiell: alles manifestiert sich zuerst als Idee, als Vibration, Klang, Energie und zuletzt als mehr oder weniger feste Form. Klang ist dabei viel näher am reinen Bewusstsein als eine vermenschlichte Form. Den Klang zu erzeugen, ist ein Teil der Schöpfung, und genauso wichtig ist es, genau hin zu hören.

‚Daher hört die höchste Göttin alles. Da sie in der Form der Kraft des Hörens weilt, hat sie die souveräne Macht, die darin besteht, stimmige und angemessene Verbindungen zu schaffen, indem sie allen Klang zu einer bedeutungsvolle Ganzheit verbindet ‘ (Abhinavagupta, PTV, Seite 68, nach Singh). Wenn Du wirklich intensiv ins Tantra eintauchen willst, gehört freies Musizieren unbedingt dazu.

Um all diese Auslassungen auszugleichen, kann ich Dir nur empfehlen, soviel wissenschaftliche Literatur über ‘Tantra’ zu lesen, wie Du nur in die Finger bekommen kannst, um zu entdecken, was für Dich funktioniert, und es weiterzuentwickeln. ‘Tantra’ ist kein Fossil aus dem Museum der vertrockneten Spiritualität; es ist vor allem eine Einstellung, die Dein Leben auf vielerlei Weise verändern wird. Manches im ‚klassischen Tantra‘ ist unzeitgemäß, unnütz, unpassend für unsere Gesellschaft, strafbar oder schlichtweg ungesund. Anderes verdient es, wiederbelebt und neu entdeckt zu werden. Wieder andere Methoden lassen sich mit großem Nutzen in andere spirituelle Disziplinen einbringen; hier denke ich vor allem an die modernen heidnischen Wege und die westliche magische Tradition, deren Repertoire an authentischen spirituellen Praktiken dank der traurigen Quellenlage leider eher gering ist. Tantra ist kein Ding an sich, sondern eine Lebenseinstellung. Wenn Du denjenigen danken willst, die Dir voraus gingen, dann lerne alles, was Du kannst, verbessere eine Menge und bring es in neue Dimensionen.

Kālī Kaula

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