Читать книгу Eisblumen im Blaubeerwald - J.C. Caissen - Страница 10

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Das Leben in Schweden ist, besonders für Corinna, zu Beginn nicht einfach, aber trotzdem wunderbar. Corinna hat in André die Liebe ihres Lebens gefunden. Sie harmonieren so wunderbar zusammen. Sie arbeiten in derselben Firma, und André läßt es sich nicht nehmen, jeden Mittag von seinem Büro die knapp sechs Kilometer bis zu Corinnas Büro zu fahren, um mit ihr gemeinsam dort in der Kantine zu essen. Sie wollen einfach so oft wie möglich zusammen sein.

Die Wochenenden sind traumhaft. André fährt meistens schon am frühen Freitag nachmittag runter in den Bootshafen, um die von ihm für das Wochenende bereits eingekauften Lebensmittel im Boot zu verstauen. Wenn dann Corinna nach Hause kommt, packt sie schnell ein paar Kleidertaschen für sie beide und Dennis. Frische Handtücher und Bettwäsche sind auch immer dabei. Andrés Exfrau hatte vorher, während der früheren Familien-Bootstouren lieber Schlafsäcke verwendet. Jetzt freut André sich darüber, daß Corinna diese Gewohnheit nicht übernehmen will, sondern daß sie richtige Bettdecken und Bettwäsche viel gemütlicher und kuscheliger findet. Das Boot wird für sie zu einem eigenen gemütlichen Heim für die Wochenenden und auch für die Ferien.

Sie verlassen am späten Nachmittag den Hafen. Das Verdeck des geräumigen Motorbootes ist weit nach hinten geöffnet. Corinna sitzt im Windschatten neben André auf dem Fahrersofa, Dennis sitzt auf der anderen Seite des Ganges auf dem Beifahrerstuhl. Alle tragen Schwimmwesten. Damit ist André sehr genau und kennt kein Pardon. Sobald das Boot ruhig und geschmeidig das Hafengelände verlassen hat, drückt André das Hand-Gaspedal langsam herunter, das Boot beschleunigt nun stetig. Erst hebt sich die Nase des Bootes hoch aus dem Wasser, um sich dann mit zunehmender Geschwindigkeit langsam auf die Wasseroberfläche herunterzusenken. Nun ist die Marschgeschwindigkeit erreicht und das Boot gleitet mit 24 Knoten über das Wasser. Bewundernd und verliebt schaut Corinna hinüber zu André. Ihr gefällt, was sie sieht. Er liebt und beherrscht sein Boot, und gemeinsam werden sie nun viele schöne Stunden in diesem Boot verbringen können. „Gefällt dir mein Boot?“ André muß schon ein wenig lauter sprechen, weil das Verdeck offen ist und der Motor nicht weniger als 150 PS hat, was einige Geräusche verursacht.“Boot ist gut, bei uns nennt man das schon eher eine Motoryacht“, ruft Corinna in gleicher Lautstärke. „Bei uns ist es einfach ein Boot“. André lacht breit zu Corinna herüber und steckt sich dann seine Pfeife zwischen die Zähne. Mit seinem Vollbart und der Pfeife ist er ein richtiger Skipper, ihr Skipper.

Dennis schaut sich die vorbeifliegende Landschaft an. Es sind noch andere Boote unterwegs, die meisten fahren in dieselbe Richtung. Hinaus ins Wochenende, hinaus in das Ostsee-Inselmeer, den sogenannten 'Skärgården' mit seinen 100.000 Inseln. Wieder andere kommen ihnen entgegen. Sie werden sich einen Inselplatz im Mälaren, dem drittgrößten Süßwassersee Schwedens, suchen, in dem es unzählige Inseln gibt, kleine und große. Die meisten bieten die Möglichkeit anzulegen und einige Zeit dort zu verbringen.

Die Luft ist klar und lau. Heute ist es wieder ein sehr warmer Tag, aber im Fahrtwind merkt man das nicht. Kein Wölkchen ist am Himmel. Corinna liebt diesen klaren Himmel, der sich im blanken Wasser des Mälaren widerspiegelt. Die Fahrt geht zunächst einmal eine knappe Stunde lang vorbei an Kleinstadt-Wohngebieten, Parklandschaften und mehreren anderen kleinen Bootclubs. Schließlich erreichen sie die belebte und ehrwürdige Altstadt von Stockholm, fahren vorbei am Rathaus, mit der goldenen Kuppel und den drei goldenen Kronen obendrauf und vorbei an den romantisch erhaltenen alten Häusern mit all den Touristen, die sich in den engen Gassen tummeln.

Hier drosselt André die Geschwindigkeit wieder. Es kreuzen immer wieder Boote die markierte Fahrrinne und auch größere Ausflugsboote sind unterwegs, die jedesmal erst eine größere Bugwelle und dann einen Rücksog verursachen, den André zu parieren hat. Er hat das im Griff. Langsamer geht es dann weiter in die Einfahrt zur Schleuse, die den Mälaren und die Ostsee bei einem Höhenunterschied von etwa einem Meter verbindet. Hier vermischen sich Süß- und Salzwasser oder eher das Brackwasser der Ostsee mit dem Süßwasser des Mälaren. Der Mälaren dient als Trinkwasserquelle für ganz Stockholm, und das Wasser in der Innenstadt ist von so guter Qualität, daß dort schon so mancher prächtige Lachs gefangen und auch gegessen werden konnte.

An der Anlegestelle warten schon mehrere Boote auf das Öffnen der Schleuse, und schließlich wechselt die Ampel auf grünes Licht, das Einfahren in die Schleuse ist jetzt erlaubt. Langsam gleiten die Boote in die Schleuse, die Platz für etwa zwanzig Boote bietet, beidseitig je zehn, wobei sich Bug an Heck und wiederum Bug an Heck schmiegen müssen. Der Schleusenwärter dirigiert über Lautsprecher, welches Boot an welcher Seite anzulegen hat. Hier muß man aufmerksam zuhören. Zuwiderhandlung wird vom Schleusenwärter mit schimpfenden Kommentaren bestraft. Corinna ist nicht ängstlich und lernt auch schnell, in langsamer Fahrt vorsichtig an Deck zu steigen, mit dem Bootshaken eines der Festhalteseile an der Schleusenwand zu ergattern, um dann sitzend das Boot seitlich an die zugewiesene Schleusenwand zu ziehen. Nun kann André den Motor abstellen. Corinna sitzt vorn an Deck und hält das Boot eng an der Schleusenwand, André geht mittlerweile achtern und ergreift ebenfalls eines der Seile. Nach einer Weile schließt sich das Mälar-Schleusentor und langsam wird das Wasser abgelassen, bis das Niveau der Ostsee erreicht ist. Das Boot sinkt. Corinna und André halten nun die Festhalteseile mit den Bootshaken. Nun öffnet sich langsam das Ostsee-Schleusentor, erst nur einen Spalt, dann langsam immer weiter, wobei ein Sog entsteht. Hier müssen sie die Seile kräftig festhalten. Schließlich beruhigt sich das Wasser, die Ampel schaltet auf grün und die Bootskarawane setzt sich vorsichtig im Reißverschlussprinzip wieder in Bewegung in Richtung Ostsee. Auf der anderen Seite warten bereits andere Boote auf den Einlass, und das ganze Spiel geht wieder von vorn los, diesmal in umgekehrter Richtung.

Nun geht die Fahrt weiter, und immer häufiger tauchen rechts und links zwischen Bäumen, in Wäldern, auf langen Wiesen und auf Felsen, die typisch schwedischen Sommerhäuser auf, hübsch gezimmert aus dem reichlich vorhandenen Kiefernholz, viele rot mit weißen Zierstreifen, mit sprossenverglasten Fenstern, dem schwarzen Schornstein und der übergroßen Nationalflagge. Gelbes Kreuz auf blauem Grund, so flattern sie mächtig im Wind auf jedem Grundstück, dessen Besitzer etwas auf sich hält.

Sattes Grün umgibt die Häuser, weiße Gartenmöbel, gedeckter Tisch mit wehendem, bunten Tischtuch, einer Blumenvase obendrauf mit wilden Blumen, laden zu Kaffee und Kuchen ein. Corinna kann sich nicht satt sehen an dieser Bullerbü-Idylle. Und immer wieder tauchen neue, noch schönere, noch größere, dann wieder niedlichere, idyllischere Häuser und Grundstücke auf. Sie fahren vorbei an kleinen Inseln, manchmal nur bebaut mit einem einzigen Haus und natürlich auch hier geschmückt mit der weithin sichtbaren, flatternden Nationalflagge. Ein Boot am Anlegesteg sorgt für den Transport zur und von der Insel.

André hat die Seekarte vor sich auf dem Kartentisch oberhalb des Armaturenbretts liegen und folgt der von ihm eingezeichneten Route, die er durch Bleistiftlinien, Markierungen, Kurse mit Gradzahlen und Distanzangaben ergänzt hat. Er ist diese Strecke vorher schon mehrere hundert Male gefahren und trotzdem, nach richtiger Seemannsmanier, hält er sich immer bereit für ein eventuell aufkommendes Unwetter oder Nebel. Da hilft es dann plötzlich nicht mehr, daß man an dieser Insel schon so viele Male vorbeigefahren ist, so daß man sie auswendig kann. Kommt man im Nebel von der ausgezeichneten Fahrrinne ab, lauern Untiefen und Klippen, die das Boot schnell zum Sinken bringen können. Da helfen nur Seekarte, Kompass, Zirkel, Dreieckslineal und Distanzlog. Und André läßt sich da auch ruhig und unbeirrt von Corinna belächeln, die auf den wolkenlosen Himmel deutet und diese Vorsicht für übertrieben hält. Einige Monate später wird sie ihm noch für seine Genauigkeit dankbar sein. Dennis hält sich da völlig raus und hat sich mittlerweile unten in die Kajüte verzogen, liegt auf seiner gemütlichen Bettdecke und schmökert in alten Micky Mouse Heften aus Deutschland.

André drosselt die Geschwindigkeit. Sie fahren durch enge Wasserpassagen, hindurch zwischen sich zu beiden Seiten erhebenden, schroffen und scharfkantigen Klippen, in deren Jahrtausende alten marmorierten Gesteinsfurchen es vereinzelten Krüppelkiefern geglückt ist, sich mit ihren verästelten Wurzeln krampfhaft festzuhalten. Hinter der nächsten Wasserkurve öffnet sich dann wiederum eine breitere, vom Sonnenlicht durchflutete, Passage, mit riesigen, flachen und weich geschwungenen Felsen, die zu einem Sonnenbad einladen. Die scharfen Strukturen in verschiedenen Sandfarben, die den ganzen Stein durchziehen, erzählen von den dramatischen und längst vergessenen Begebenheiten der letzten Eiszeit. Corinna schmiegt sich an André „Kannst du dir vorstellen, wie glücklich ich bin? Du lebst in einem wunderbaren Land. Ich kann mich gar nicht sattsehen an all der Schönheit“. „Oh ja, man sieht es dir an. Du strahlst ja nur noch. Wie schön, daß du mein Land genauso liebst wie ich“. André schaut unten in die Kajüte „Dennis, willst Du mal eine Weile steuern?“ Wie der Blitz springt Dennis vom Bett und die zwei Stufen hoch zum Steuerstand. „Au ja, meinst du denn, daß ich das kann?“ Corinna macht ihren Platz frei, so daß André neben Dennis sitzen kann, der sich jetzt hinter das Steuer schwingt. „Warum denn nicht? Andreas fährt schon seit Jahren, schon solange wie wir mit der Familie draußen ins Inselmeer gefahren sind“. Er überläßt Dennis das Steuer und erklärt die Bedeutung der verschiedenen Wasserzeichen und wie man sie auf der Seekarte findet und sich daran orientiert. Dennis steuert ruhig durch die Fahrrinne. Das Gaspedal braucht er bei der gemäßigten Fahrt nicht zu bedienen. André zeigt ihm das weiße Schild mit rotem Rand für die Geschwindigkeitsbegrenzung, das fest verankert auf einem der Felsen rechts neben der Fahrrinne steht. 7 Knoten, das ist die richtige Geschwindigkeit für Dennis, um das Steuern zu lernen. „Hier auf dem Log kontrollierst du die Geschwindigkeit des Bootes“. André zeigt mit dem Finger auf die Scheibe am Armaturenbrett. „Und, was liest du da?“ „7 oder 8 Knoten?“ „Ja, das stimmt. Das kannst du so lassen. Fahr ruhig so weiter und halte dich schön in der Mitte der Fahrrinne“. Dennis ist verdammt stolz. Ganz aufrecht sitzt er auf dem Fahrerplatz, sonst würde er auch gar nicht über das Steuer hinwegsehen können. Corinna beobachtet die beiden schweigend und denkt, daß André auch noch obendrein ein sehr liebevoller Vater ist. André schaut sie plötzlich lächelnd an - sein Blick geht ihr genau ins Herz - und sie lächelt zurück.

Nach einer guten Weile öffnet sich die Passage zu einer weiten Bucht und voraus am Horizont ist das offene Meer zu sehen. Eine gleißende Wasseroberfläche in grellen Hellblau- und Weißtönen liegt vor ihnen. Tausend funkelnde Sterne tanzen glitzernd auf den Wellen. „Ist das schön“. Corinna staunt nur. „Na, dann will ich mal wieder das Steuer übernehmen. Das hast du richtig genug gemacht, Dennis. Schau mal, da vorn biegen wir wieder in eine recht enge Passage ein. Und da werden wir eine kleine, ganz spezielle Pause machen“. Dennis schwingt sich wieder vom Sitz und bleibt gespannt im Gang stehen. André übernimmt das Steuer und gibt ein wenig mehr Gas, steuert das Boot durch die weite Fahrrinne und dann im großen Bogen nach Steuerbord zwischen zwei steil abfallende Felsen. „So, jetzt legen wir hier, genau hier in dieser 'Durchfahrt', den Anker. Dennis, holst Du bitte den Angelkasten aus dem Schrank.“ Dennis kramt in einem der Schränke und zieht einen großen Plastikkasten hervor. „Ja, wie, und wo sollen wir jetzt stehen und die Angeln auswerfen?“ Dennis hat bisher noch nicht so oft geangelt. Ja, in Deutschland schon mal, an so einem 'Put and Take'-See. Eigentlich ganz schön langweilig, wenn man die Fische herausholt und bezahlen muß, die vorher erst in den See gesetzt wurden. Aber damals war auch das schön. „Warte es ab. Ich bin gleich so weit. So, der Anker liegt perfekt und sitzt gut, den muß ich nur noch spannen. Jetzt komme ich rüber zu dir. Corinna, kannst du uns den weißen Eimer holen, der steht im Schrank unter der Spüle.“ André hat den Motor abgestellt. Das Boot liegt jetzt ganz ruhig und dreht sich nur leicht im Wind um die eigene Achse oder besser um den Anker herum, bis es schließlich still vor Anker liegt. André öffnet den Angelkasten und entnimmt ihm zwei Papprollen, auf die Angelschnur mit vielen Haken aufgewickelt ist. Vorsichtig löst er die kleine Öse und den ersten Haken, dessen Widerhaken fest in der Papprolle sitzt. Die Öse befestigt er an einer kurzen Heringsangel. Dann rollt er die Angelschnur, an der sich insgesamt sechs Haken befinden, ein wenig ab. Er reicht Dennis die Angel „Jetzt lehnst du dich hier über die Reling, ohne rauszufallen natürlich, löst hier die Sperre am Griff und läßt die gesamte Angelschnur mit allen Haken einfach im Wasser in die Tiefe gleiten. Das Bleigewicht am Ende der Angelschnur zieht sie ganz von selbst runter. Probier das mal.“ Dennis hängt die Angel über die Reling und löst die Sperre. Leise surrend senkt sich die Schnur mit den Haken in die Tiefe, weiter, immer weiter, bis die Angelschnur zu Ende ist. „So, und nun rückst du ab und zu ein wenig, damit die Haken da unten auch in Bewegung sind und schön blinken. Und dann schau'n wir mal, was sich hier so tut“. Dennis rückt ab und zu die kurze Angel etwas in die Höhe. André rollt jetzt auch die zweite Handangel aus und läßt sie in die Tiefe gleiten.„Wie tief ist es denn hier?“ fragt Corinna . „Ich schätze 40-50 Meter, wir können aber auch nachher mal in der Seekarte nachschauen.“ „Du, André, da zappelt was“. Dennis ist ganz aufgeregt. „Ja, so muß das auch sein. Jetzt warte noch eine Weile, denn an den anderen Haken sollen ja auch noch Fische anbeißen.“ Dennis schaut runter in das tief schwarze Wasser. Plötzlich ist seine ganze Hand in Bewegung. Sie rückt und zappelt. „Soll ich jetzt einziehen?“ Dennis schaut zu André rüber. „Ja, dann roll mal die Angelschnur schön langsam ein“. Je mehr Schnur Dennis aufrollt mit seiner Kurbel, um so schwerer und zappeliger wird seine Angel. Schließlich kommt der erste Haken an die Wasseroberfläche, und ein weißgrauer, fetter Hering zappelt daran. Gefräßig hat er den Haken verschluckt und versucht nun, mit hin- und her schlagenden Bewegungen ihn wieder loszuwerden. Der nächste Haken taucht auf, diesmal mit einem etwas kleineren Hering, es folgen weitere vier Heringe und nun rollt auch André seine zitternde Angel auf. Mit geschickten Handgriffen zeigt er Dennis, wie man den Haken schnell und schmerzlos aus dem Maul des Herings entfernt. Die Heringe landen, einer nach dem anderen, im Eimer. Und schon werden die Angeln wieder in die Tiefe gelassen. „Das macht ja richtig Spaß“. Dennis ist begeistert. Zwanzig Minuten genügen, um den Eimer zu füllen und für ein schönes Abendessen zu sorgen. Mittlerweile hat sich eine Schar von Heringsmöwen ums Boot herum versammelt. Deren feiner Geruchssinn hat sie hierher geleitet. Corinna wirft den kleinsten der Fische zu ihnen herüber und schon hebt sich die ganze Schar kreischend in die Luft und stürzt sich auf die Stelle, an der der Hering ins Wasser sinkt. Nur einer Möwe gelingt es, den Hering zu schnappen. Den Fisch quer im Schnabel, erhebt sie sich sofort aus dem Wasser. Noch während des Fluges, und unter den lautstarken Attacken der Konkurrenz, dreht sie geschickt den Fisch so, daß sie ihn mit einem Happs herunterschlingen kann. Nach drei Sekunden ist alles vorbei. „Die hat noch nicht einmal gekaut“ beklagt sich Corinna. Und weil das Schauspiel so interessant ist, werden dann noch weitere vier Heringe geopfert. Das ist ihnen dieses Naturerlebnis wert. Corinna studiert die neu entdeckte Möwenhierarchie. „Sieh mal, Dennis, hier vorn die Möwen sind wohl die, die den Ton angeben. Die anderen, weiter hinten, sitzen nur und schaukeln auf den Wellen. Die sind noch nicht einmal aufgeflogen, als ich wieder einen Hering geworfen habe.“ „Ja, ich weiß nicht, ob das etwas mit Hierarchie zu tun hat. Ich glaube, die erkennen nur einfach, daß sie diesmal keine Chance gegen die Konkurrenz haben, oder sie sind einfach nur satt. Beim nächsten mal sind die vielleicht wieder ganz vorn dabei.“ In Deutschland hat sich Corinna nie Gedanken darüber gemacht, wenn sie mal am Rhein ein paar Möwen gesehen hat. Wie sich doch plötzlich alles ändern kann. Auch hat sie gern in der Stadt gelebt, mit all den Geschäften und dem bunten Treiben. Jetzt, hier draußen in der unberührten Natur, würde sie am liebsten für immer mit André auf einem Hausboot leben und von einer Inseln zur nächsten fahren. „So, einpacken und weiter geht's, für heute haben wir genug Fisch, alles andere wäre Raubfischung“ André wickelt seine Angelschnur mit den Haken wieder auf die Papprolle. „Wäre was?“ Dennis sieht André fragend an. Andrés Deutsch ist ausreichend gut, so daß jeder weiß, was er sagen will, aber es kommen doch immer wieder Ausdrücke hinein, die er direkt vom Schwedischen ins Deutsche zu übertragen versucht, was nicht immer glückt. Ganz lustig eigentlich. „Na ja, wie heißt denn das auf Deutsch, wenn man mehr Fisch fängt, als man eigentlich zum Leben benötigt. Auf Schwedisch heißt das 'rovfiske'“ „Ja, vielleicht Überfischung oder räuberisches Fischen oder so etwas ähnliches. Wir wissen jedenfalls, was du meinst“. Corinna hält Dennis den Angelkasten hin, der schaut immer noch in Gedanken ins Leere, seine Lippen bewegen sich. „Hier, räum deine Sachen da hinein und stell den Kasten wieder in den Schrank.“ Corinna deckt den Eimer mit den Fischen gut ab und stellt ihn wieder unter die Spüle. Dort steht er gut während der weiteren Fahrt. André geht zur Ankerleine, beginnt mit kräftigen Zügen den Anker hochzuziehen, schaukelt ihn noch einmal hin und her im Wasser, um den Bodenschlamm abzuspülen, und verstaut dann Anker mitsamt Ankerleine im Ankerkasten. Jetzt schwingt er sich wieder auf den Fahrersitz und läßt den Motor an. Alle sitzen wieder auf ihren Plätzen und André steuert das Boot langsam durch die Passage. Wieder liegen rechts und links proper unterhaltene Sommerhäuser, manche könnte man sogar als Sommerresidenzen bezeichnen, so groß und feudal sind sie dort in die Natur eingebettet. Markisen sind an den Fenstern angebracht, weiter unten am Wasser, beim eigenen Bootssteg, gibt es noch ein schmuckes, kleineres Strandhaus, in dem wahrscheinlich Schwimmwesten und anderes Bootzubehör aufbewahrt wird, vielleicht sogar Wasserskier oder ein Wakeboard. Am Anleger liegt eine strahlend weiße, nicht gerade kleine Motoryacht vertäut. Draußen auf dem geräumigen Sonnendeck, das aufs Wasser hinaus gebaut ist, stehen an einer Seite Sonnenliegen mit hellen Auflagen, die zur Sonne gerichtet sind, auf der anderen Seite, in gemütlichen weißen Korbsesseln, sitzen vier Leute in luftiger, bunter Sommerkleidung, beim Kaffee. Aus einer Laune heraus winkt Dennis plötzlich hinüber zu ihnen, und die zwei Frauen winken spontan zurück. Nett. Weiter vor ihnen, hinter einem der nächsten Felswände hervor, kommt eine kleinere Segelyacht aus einem Seitenarm. Segelboote mit gehisstem Segel haben Vorfahrt. Lautlos zieht sie vor ihrem Bug dahin, mit leicht geblähtem Segel. Auf den Sitzbänken neben dem Ruder, hinter dem der Skipper steht, sitzen eine Frau und zwei kleine Kinder, alle in Segler-Schwimmwesten gekleidet. Ja, hier hat man Respekt vor dem Wasser. Im Schlepptau führen sie eine kleine Jolle mit. André hebt die Hand zum Gruß und der Skipper grüßt freundlich nickend zurück.

Nach der nächsten Biegung gibt André dann wieder Gas und im herrlich sommerlichen Fahrwind hebt sich der Bug des Bootes erst wieder aus dem Wasser, um dann langsam wieder abzusinken. Fast auf dem Wasser schwebend rauscht es dahin. Corinnas Haare wehen im Wind. Sie schließt die Augen und atmet tief ein. Das ist Leben. Sie öffnet die Augen wieder, denn sie will ja nichts von dem verpassen, was hier rundherum geboten wird. Die Landschaft ist einfach faszinierend schön, diese weichen graubraunen Felsen, dann wieder schroffe Klippen, Birkenhaine, Gruppen von Krüppelkiefern, dann wieder einzelne, hoch hinausragende Kiefern. Bemooste Felsen, brauner Waldboden. Sie fahren vorbei an einem Felsen, von dem lachende und kreischende Kinder hinter- und nebeneinander Anlauf nehmen und im hohen Bogen ins spritzende Wasser springen und dort herumplantschen. André winkt und alle Kinder juchzen und winken zurück. 'Das ist Sommer. Was für eine schöne Kindheit die doch haben', denkt Corinna.

Wieder erreichen sie eine Stelle, ab der sie nur sieben Knoten fahren dürfen, und André drosselt den Motor. Ruhig und leise gleitet das Boot dahin. Corinna sieht seitlich voraus neben dem Boot eine ganze Entenfamilie kopfüber eintauchen und verschwinden. „Sieh mal, das sind doch keine gewöhnlichen Enten. So welche habe ich ja noch nie gesehen?“ fragt sie André und der hat natürlich die richtige Antwort . „Det är Ejdrar. Äh, das sind Eiderenten. Meine Lieblingsvögel hier draußen. Die Weibchen sind braun, die Männchen schwarz weiß mit einem grünen Fleck an den Bäckchen, und vorn auf der Brust sind sie rosa. Und sie schnattern auch nicht, 'gagagagack', sondern sie machen eher 'gockockock', und wenn Gefahr aus der Luft droht, rufen sie laut mit zum Himmel gestrecktem Hals 'ruuuhhh, ruuuuhhhh'. Die leben nur hier draußen in der Ostsee. Im Süßwasser gefällt es ihnen nicht.“ Dennis hört wieder aufmerksam mit glasigem Blick zu. Plötzlich hört Corinna ein immer lauter werdendes, singendes 'Wuiwuiwuiwuiwuiwui'. Sie dreht sich nach dem Geräusch um und ruft „Sieh mal Dennis, was da angeflogen kommt.“ Erst hinter ihrem Boot, dann neben ihnen und schließlich vorbei an ihnen und in schnellem Flug voraus rauschen sieben Höckerschwäne an ihnen vorbei, entfernen sich schnell und fliegen im sanften Bogen nach links weg über der Wasseroberfläche, erheben sich dann über die Baumwipfel hinweg und sind dann dahinter verschwunden. Corinna ist völlig ergriffen. Dieses Geräusch der Flügel ist für sie wie Musik und sie wird es fortan immer als etwas Besonderes lieben. Was sie hier innerhalb von nur wenigen Stunden zu sehen bekommt, hat sie in Deutschland nicht in mehreren Monaten zu Gesicht bekommen. Sie ist so dankbar. „Das ist einfach wunderschön, André“. Der lächelt nur „Du wirst noch viel mehr von unserer schönen Natur sehen, warte es ab.“ Nach einer weiteren Stunde Fahrt sind sie in der Bucht und an der Insel angekommen, die André für ihr Wochenende ausgewählt hat. Er hatte ihr vorher auf der Seekarte gezeigt, wohin sie fahren würden und ihr erklärt, an welcher Seite der Insel er mit dem Boot anlegen würde. „Ist das nicht egal? Und muss man überhaupt anlegen? Liegt man nicht einfach im Wasser vor Anker?“ hatte sie gefragt, und geduldig hatte er ihr erklärt, daß das Wasser nie völlig ruhig sei, vor allem dann nicht, wenn andere Boote vorbeiführen, so daß einem eher mulmig im Magen würde und Kaffeekochen schon mal flachfallen würde. Nein man höre sich immer den aktuellen Seewetterbericht im Radio an, was zum allabendlichen Prozedere im Boot gehöre. Danach entscheide man, abhängig von der Windstärke und der Windrichtung, an welcher Seite einer Insel man in absoluter Windstille liegen könne.

André steuert das Boot auf eine Bucht zu, die in völliger Windstille liegt, was natürlich am anderen Tag schon wieder ganz anders aussehen kann. Ungefähr fünfzehn Meter vom Land entfernt, läßt er ruhig den Anker ins Wasser gleiten. Corinna bittet er vorher, ausgestattet mit zwei losen Verankerungsleinen, auf das Vordeck zu gehen, dort rechts und links die Leinen in den Pollern zu vertäuen und dann vom Deck an Land zu springen, wenn das Boot nahe genug herangefahren war. An Land sollte sie dann die Leinen so lange halten, bis André den Anker provisorisch gestreckt hatte. Das klappt schon mal prima. André kommt mit Dennis an Land. Er hält einen Leinenbeutel in der Hand, aus dem er Bergkeile und einen Hammer holt. Jetzt werden zwei Keile im dreieckigen Winkel zum Boot in Felsspalten geschlagen und an deren Ringen die beiden Leinen befestigt. Angezogen und mit einem Palstekknoten gesichert, halten die Leinen, zusammen mit der Ankerleine das Boot gerade und am Platz. Corinna lernt schnell: Die Leine durch den Ring, linkes Ende zu einer Schleife legen, dann kommt das Krokodil von unten aus dem Wasser, geht durch die Schleife, dann um den Baum herum und wieder rein durch die Schleife ins Wasser, perfekt. Diese Eselsbrücke wird sie nicht vergessen. Das Wichtigste bei diesem Knoten ist, daß auf der Leine ruhig Spannung liegen darf, was bei plötzlich aufkommenden Wind der Fall sein kann, man bekommt ihn immer wieder los, was bei anderen Knoten oft nicht möglich ist. André geht wieder an Bord und zieht den Anker stramm, so daß das Boot nun wirklich gerade und völlig ruhig liegt.

„Willkommen auf unserer Wochenendinsel“. Freudestrahlend kommt er mit dem Heringseimer wieder an Deck. An der anderen Hand hat er einen portablen Räucherofen und drei 3 Bootkissen. „Wie schön es hier ist. Und uns gehört diese Insel wohl ganz allein. Es sind nur wir hier oder?“ Corinna sieht ihm freudig entgegen. „Nein, keine anderen Boote, hier kannst du nackt baden. Eine Insel, nur für dich allein, von mir, mein Schatz.“ Er gibt Corinna im Vorbeigehen einen Kuss. „Jetzt will ich erst mal die Fische ausnehmen und räuchern. Komm Dennis, du kannst mir helfen.“ André balanciert über die weichen Felsen runter ans Ufer und fängt an, die Fische auszunehmen, sie zu salzen und auf den Rost des kleinen Räucherofens zu legen. Dennis hat er auch ein Messer gegeben und der macht nach, was André ihm vormacht. Er wirft die Gedärme seines Fisches ins Wasser. „Halt. Stopp. Das darfst du gleich wieder aus dem Wasser hochholen. Du willst doch hier nachher und morgen noch baden oder? Was meinst du, wie das Wasser anfängt zu stinken, wenn wir das mit allen Fischen so machen. Die Reste sammeln wir und legen sie dann dort drüben, für uns gut sichtbar, auf den Felsen. So, daß Möwen oder auch Nerze die Überreste finden, das gibt dann ein schönes Spektakel für uns.“ Dennis steigt mit nackten Füßen ins Wasser und holt alle Reste wieder aus dem Wasser. Später legen sie die Überreste aller Fische auf den Felsen, und es sollte nicht lange dauern. Noch während André, Corinna und Dennis an Land sitzen und darauf warten, daß der Fisch fertig geräuchert ist, landen erst eine, dann immer mehr Möwen auf dem Wasser vor dem Felsen. Ganz ruhig liegen sie da und schaukeln ein wenig. Noch wagen sie nicht, noch näher heranzukommen, geschweige denn den Felsen zu erobern, aber der Fischduft läßt sie verharren und aufmerksam beobachten, was diese Menschen nun weiteres tun werden.

André hat Knäckebrot aus dem Boot geholt, Salz dazu und Butter. Eine Büchse Bier in jeder Hosentasche und seine rauchende Pfeife im Mund, kommt er zurück an Land. Ein wunderbarer Duft vom Räucherofen breitet sich bereits in der Bucht aus. Dennis läuft das Wasser im Mund zusammen. Dann geht das Feuer im Räucherofen aus – der Fisch ist gar. André öffnet den Deckel und verteilt die geräucherten Heringe auf dem gebutterten Knäckebrot. Ein wenig Salz obendrauf, fertig ist das schnelle Abendessen. „Ich habe noch nie so was Gutes gegessen“. Dennis hat den Mund voll und genießt. „Einfach richtig lecker. Und alles absolut frisch und vor allem kostenlos“, pflichtet ihm Corinna bei. André ist glücklich, daß alle zufrieden sind. Er verteilt noch viele Knäckebrote.

Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin, hebt sich plötzlich eine der Möwen in die Luft und landet auf dem Fisch- Felsen. Ein lautes Gezeter und Geschrei hebt an, alle Möwen stürzen sich nun gleichzeitig auf den Felsen, auf dem die Mutigste bereits hastig die ersten Stücke verschlingt. Ein wildes Durcheinander beginnt. Alle fangen an zu picken, zu schlingen, die Flügel immer zur sofortigen Flucht bereit, hochgestellt und ausgebreitet. Sie hüpfen auf und nieder. Einige werfen den Kopf in den Nacken und schreien nur. Ist es eine Geste der Stärke, eine Verteidigung des Reviers oder das Herbeirufen anderer Möwen 'hier gibt es was'? Sie können nur raten. Was für ein wunderbares Schauspiel. So was haben Dennis und Corinna noch nie erlebt. Und es gefällt ihnen. Corinna raucht eine Zigarette und schnipst schließlich die Kippe zwischen Mittelfinger und Daumen weit weg. André steht von seinem Kissen auf, geht ohne ein Wort der Kippe nach, öffnet eine kleine Streichholzschachtel und stopft die Kippe dort hinein. „Was sammelst du denn da?“ Corinna ist neugierig. „Ja, weißt du, so etwas machen wir hier nicht. Wir gehen sehr sorgsam mit unserer Natur um. So ein Filter aus Kunststoff braucht sehr, sehr lange, bis er endlich verrottet, wenn überhaupt.“ Corinna fehlen die Worte, so sehr schämt sie sich jetzt. Ihr kommt eine Autofahrt in den Sinn, bei der ihre Mutter bei einer Pause einfach den vollen Aschenbecher am Trittbrett ausgeklopft hat, ausgeleert in den Rinnstein und liegengelassen. Daß ihr das heute noch in Erinnerung ist, zeigt schon, daß sie das damals nicht in Ordnung fand. Und jetzt tut sie hier Ähnliches. Sie nimmt sich vor, von nun an darauf zu achten, und sowieso sollte sie eigentlich so schnell wie möglich mit dem Rauchen aufhören. Das paßte doch irgendwie nicht. Wenn es nur nicht so schwer wäre. Wie nett André ihr das eben erklärt hat. Er hat sie nicht kritisiert, nicht geschimpft, sondern einfach nur erklärt und auch kein weiteres Wort mehr darüber verloren.

Satt und nun auch schon ein wenig müde, verkriecht sich Dennis schließlich in der Kajüte in sein Bett. Noch ein paar Seiten lesen, dann fallen ihm die Augen zu. Das Wasser gluckert gemütlich und leise an die Bootswand. Draußen versinkt langsam die Sonne glutrot am Horizont.

André und Corinna sitzen noch lange auf dem Felsen vor dem Boot. Stille legt sich über die Bucht und das Meer. Keine Boote, die noch ein Plätzchen für das bevorstehende Wochenende suchen, fahren mehr vorbei. Alle haben ihr Refugium gefunden. Die Höflichkeit gebietet, daß man nicht in einer Bucht anlegt, in der bereits ein anderes Boot liegt.

Einige Wasservögel, Haubentaucher, zetern im Halbdunkel der herannahenden Nacht. Seeschwalben fliegen eilig und kreischend über die Wasseroberfläche. Von weit her hört man das Rufen der Eiderweibchen, die ihre Brut verteidigen.

Dann ist alles still, einfach still. Das heißt, man hört nichts, absolut nichts mehr. Noch sehen sie einen hellen Streifen am Horizont und die Konturen der vorgelagerten Inseln im Inselmeer.

André und Corinna sitzen noch am Felsen. Die Petroleumlampe gibt ein gemütliches Licht. Andrés Pfeife duftet würzig. Er schenkt nochmal nach in Corinnas Rotweinglas. „Was für ein schönes Leben, was für eine verzaubernde Natur und was für ein wunderschöner Abend. Ich liebe dich“, Corinna schmiegt sich an Andrés Schulte. Er bläst den Rauch seiner Pfeife aus „Ich liebe dich auch, ganz viel“.

Eisblumen im Blaubeerwald

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