Читать книгу Eisblumen im Blaubeerwald - J.C. Caissen - Страница 5

1

Оглавление

„Aaaaah, du glaubst ja gar nicht, wie wohl das tut.“ Corinna schließt die Augen, sinkt noch ein wenig tiefer in das eigentlich fast zu heiße Badewasser und bewegt langsam ihre Zehen, spreizt sie und krümmt sie, spreizt sie und krümmt sie. Der Badeschaum geht ihr bis knapp unter die Unterlippe. Tief saugt sie Luft in die Nase ein, hält sie an und sinkt dann mit dem Kopf ganz ein in das wohlduftende Badewasser. Nach einer kurzen Weile taucht sie wieder auf, die nassen Haare hängen ihr in Strähnen über die Augen. „Iiiieeeh, das ist total gemein von dir, na warte.“ Corinna sprüht eine hohe Wasserfontäne aus dem Mund hinüber zu Dennis, der neben der Wanne auf der Toilettenbrille hockt. Sie lacht schallend. Jetzt ist er aufgesprungen, füllt schnell seinen Mund am Waschbecken mit kaltem Wasser, dreht sich um und will es seiner Mutter zurückgeben, aber die ist schon wieder abgetaucht. Er wartet, lange kann sie ja nicht dort unten bleiben und sprüht ihr dann aus spitzem Mund das kalte Wasser ins warme Gesicht. „Brrr, das ist ja eiskalt“. Corinna fröstelt plötzlich. „Wir sind ja auch in Schweden, da, wo die Eisbären auf der Straße herumspazieren“, meint Dennis. „Das ist doch nur so eine dumme Erfindung von Leuten, die nicht wissen, wie es hier wirklich aussieht.“ „Ist aber doch eine tolle Vorstellung. Ich fände das lustig, mal einem richtigen Eisbären auf der Straße zu begegnen.“ Dennis ist ein richtiger Tierfreund. In ihren Urlauben am italienischen Strand brauchte er immer gleich einen Eimer, damit er erst einmal Sand in den Boden füllen konnte, dann Meereswasser. Dann sammelte er allerlei Getier, das er am Strand und im Wasser so fand. Corinna wunderte sich immer, daß er auch die kleinsten Tierchen und Muscheln einfach so entdeckte, und alle Strandwanderer blieben stehen bei dem Jungen, der so versunken, völlig mit sich selbst beschäftigt war und leise vor sich hin sang. Sie fragten ihn, was er denn gesammelt hätte und schauten in Dennis' Eimer hinein. Dennis erklärte dann ohne aufzuschauen, daß er nicht nur Muscheln und kleine Krebse, sondern auch eine klitzekleine Flunder, die sich vergeblich im Sand verstecken wollte, einen Mini-Tintenfisch, der bei Berührung kräftig grau schwarze Tinte ausblies, einen Seestern und zwei kleine Quallen in seinem Eimer hatte. Eine der Quallen glibberte ihm dabei durch die Finger zurück ins Wasser. Seltsamerweise sprach er auch Deutsch mit Italienern oder allen anderen Urlaubern. Er plapperte einfach drauf los und die Leute hörten freundlich zu und nickten und schauten nochmal in den Eimer.

„Na, einen Eisbären sehe ich doch lieber hinter einem Wassergraben oder einer dicken Glasscheibe, auf jeden Fall mit sicherem Abstand. Die Jungs sind gefährlich.“ Corinna sieht hinüber zu Dennis, der sitzt da mit verträumten Augen und starrt ins Leere, seine Füße schaukeln hin und her.

Plötzlich steht André in der Tür. „Na, ihr zwei. Habt ihr euch den Reiseschmutz schon abgerubbelt? Wenn ihr dann so langsam fertig seid, können wir essen. Ich habe schnell etwas zusammengerührt. Aber nehmt euch die Zeit, die ihr braucht.“ Er verschwindet wieder aus dem Türrahmen.

Corinna und Dennis waren erst vor gut zwei Stunden bei Andrés Büro angekommen. André war dann mit seinem Wagen, natürlich typisch schwedisch, einem großen und sicheren Volvo, vorausgefahren. Corinna und Dennis hinterher.

Corinna war 19 Stunden lang nonstop von Deutschland nach Schweden gefahren, mit ihrem kleinen, alten Toyota Starlet. Sie hatte mehr als einmal gebetet, daß die Karre nur ja durchhalten solle.

Sie und Dennis waren geflohen aus Deutschland. Und zwar auf Anraten von Corinnas Anwalt. Was für ein mutiger Mensch, jemandem so einen Rat zu geben.

Obwohl ihr Mann Walter, Dennis' Vater, nach der Trennung damit einverstanden war, daß Dennis mit Corinna nach Schweden umziehen dürfe, so wollte er plötzlich nichts mehr davon wissen. Dennis meinte nach einem dieser Wochenenden, die er gewöhnlich mit der berufstätigen Corinna in deren Wohnung verbrachte, er wolle nicht mehr zurück zum Vater. Als Corinna Walter dies telefonisch mitteilte, drehte der völlig durch und wollte die Polizei schicken, um ihn abholen zu lassen. Wenn sie sich jetzt nicht beeilen würden, schnell nach Schweden auszureisen – und nicht erst, wie geplant, in drei Monaten –, so meinte ihr Anwalt, dann würde Corinna ihren Sohn nicht mehr so ohne weiteres mitnehmen können. Ein Gerichtsprozeß könne natürlich angestrebt werden, der könne sich aber schlimmstenfalls einige Jahre hinziehen.

Also hatten Corinna und Dennis schnell ein paar Sachen zusammengepackt, Dennis hatte ein paar gewaltige Butterbrote geschmiert für die Reise, während Corinna notwendige, praktische Dinge erledigte. Sie hatte schließlich auch noch gute Freunde informiert, bevor sie sich endlich auf den Weg nach Schweden machten.

Dennis hatte während der ganzen Fahrt, bis hin zur Grenze, an der sie noch hätten aufgehalten werden können, unentwegt geredet, über Gott und die Welt. Die Anspannung war einfach zu groß für den gerade neunjährigen Jungen. Nach der Grenze dann war sein Kopf, wie auf Knopfdruck, langsam zur Seite weggekippt, er fiel in tiefen Schlaf und wurde über die restlichen gut tausend Kilometer nicht ein einziges mal mehr wach. Erst als sie bei Andrés Büro in Stockholm angekommen waren, wachte er schlaftrunken auf.

Corinna steigt aus der Wanne, und während sie sich abtrocknet, steigt Dennis in ihr Wasser und plantscht erst einmal darin herum, schüttet sich Shampoo auf die Haare und geht auf Tauchstation, um es wieder raus zu waschen. Corinna föhnt sich derweil die Haare und zieht sich frische Wäsche an. Viele Teile zum Wechseln hat sie nicht einpacken können. Sie muß dann eben sehr bald waschen. „Du machst bitte nicht mehr allzu lange. André wartet mit dem Essen“. Corinna geht hinüber zum Wohnzimmer.

Was für ein Glück sie doch hatten. André und sie hatten sich vor einem knappen Jahr kennengelernt, während eines internationalen Managerseminars ihrer Firma. André arbeitete in Schweden, Corinna in Deutschland. Bereits nach dieser einen, gemeinsamen Arbeitswoche war erstaunlicherweise beiden klar, daß sie ihr Leben gemeinsam verbringen wollten. André war schon nach kurzer Zeit bei seiner Familie ausgezogen. Ein Freund, der gerade Witwer geworden war, überließ ihm ein möbliertes Zimmer in seinem Haus. So war einerseits André geholfen, und er selbst mußte nicht abends in dem großen Haus die Wände anstarren. Seine Frau fehlte ihm überall. André und er hatten jeden Abend zusammen gesessen bei einer Flasche Wein.

Jetzt aber, gerade vorgestern, hatte André diese Erstbezug-Neubauwohnung anmieten können. Ein Kollege, der geschäftlich in die USA ziehen mußte, hatte einen Aushang ans schwarze Brett gehängt 'Mieter gesucht für 2 Jahre'. André hatte ihn angerufen und vorgestern die Wohnungsschlüssel abgeholt. Was für ein glücklicher Zufall, gerade jetzt, als Corinna so schnell handeln mußte.

„Na, was hast du denn Schönes gekocht?“ André steht mit dem Rücken zu ihr am Herd und schwenkt die Pfanne. Corinna legt ihre Arme von hinten um Andrés Hüften. Er dreht sich zu ihr um, nimmt sie in die Arme und küßt sie zärtlich. „Ich freue mich so, daß ihr jetzt endlich hier seid. Wir werden es gut haben zusammen, sehr gut, das verspreche ich dir.“ Er wendet sich wieder der brutzelnden Pfanne zu. „Ach, ich habe nur schnell ein Kartoffel-Fertiggericht in die Pfanne geschüttet, mehr nicht.“ Corinna findet, daß es einfach wunderbar duftet. Sie ist wirklich hungrig und einfach glücklich darüber, sich gleich an den gedeckten Tisch setzen zu können. Und außerdem, zusammen mit André schmeckte jedes Essen bestimmt einfach besser.

In der Wohnung, in der sie nun gemeinsam leben würden, gab es bisher keine Möbel. Alles hatte ja so schnell gehen müssen. André hatte sich gestern noch schnell ein paar Matratzen von seinem Freund geliehen. Eine liegt nun im Kinderzimmer für Dennis, eine weitere in Andrés und Corinnas Schlafzimmer. Das war doch schon mal das Wichtigste und ein herrlicher Anfang.

Corinna schaut sich im kombinierten Wohnzimmer mit der großer Einbau-Küche erst einmal richtig um. Sie war vorhin ziemlich bald ins Bad und in die Wanne gegangen. „Toll, wie du das so schnell organisiert hast. Ich finde unsere Wohnzimmermöbel richtig feudal. Ist doch schick?“. Es gibt tatsächlich Möbel - einen Plastik-Gartentisch und vier zusammenklappbare Gartenstühle mit Auflagen im Wohnzimmer. André hat den Tisch bereits mit drei Tellern, Gläsern und Bestecken gedeckt. In die Gläser hat er jeweils eine Serviette hineingesteckt. Das sah doch sehr schön aus. „Du, die Gartenmöbel habe ich daheim einfach aus der Garage mitgenommen. Jetzt im Winter vermißt die sowieso keiner. Und bis wir uns was angeschafft haben, müssen die jetzt herhalten.“

„Hör mal schnell, bevor Dennis reinkommt. Ich habe von deiner Firma aus vorhin mit meinem Anwalt gesprochen. Walter hat bereits einen Haftbefehl gegen mich wegen Kindesentführung bewirkt, der schon an der Grenze vorliegt. Wären wir nur einen halben Tag später losgefahren, hätte ich mit Dennis an der Grenze gleich wieder umkehren dürfen. Das mußt du dir mal vorstellen. Es hätte uns tatsächlich erwischen können“. „Was? Das ist doch unglaublich, fast wie in einem Krimi. Was hätte euch alles passieren können, schrecklich.“ André ist offensichtlich überrascht und geschockt. „Aber, Walter war doch völlig einverstanden damit, daß Dennis mit dir nach Schweden geht. Auch als er und ich uns bei meinem letzten Besuch in Deutschland unterhalten haben, war er doch sehr vernünftig und wollte dem Wunsch seines Sohnes nicht mehr im Wege stehen. Wieso denn jetzt dieser plötzliche Sinneswandel? Ich verstehe das einfach nicht“. Corinna kaut am Nagel ihres rechten Mittelfingers. „Na ja, ein klein wenig verstehen kann ich es schon. Er ist eben verzweifelt. Das wäre ich ja auch. Aber was für mich jetzt am schwersten wiegt, ist, daß Dennis sich so entschieden hat. Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn er sich entschieden hätte, bei Walter zu bleiben. Ich wäre sicher nicht glücklich geworden hier. Eine Mutter gibt doch ihr Kind nicht auf.“ „Ja, das war wirklich großes Glück. Wir werden jetzt versuchen, alles richtig zu machen“. Dennis kommt aus dem Badezimmer. André und Corinna lassen das Thema sofort fallen. Der Junge hat schon genug Ängste ausgestanden. „Jetzt bin ich so weit. Ich habe einen Mordshunger. Können wir essen? Wo soll ich denn sitzen? Oh, was sind das denn für tolle Möbel?“ Dennis lacht Corinna und André an und setzt sich dann auf den angewiesenen Platz.

André hat noch einige Haushaltsgegenstände von seinem Freund geliehen, ein Brotmesser, für jeden ein Besteck, einen Büchsenöffner, zwei Töpfe, eine Pfanne, ein paar Teller, Tassen. Nicht einmal eine Kaffeemaschine hatten sie, denn beide, Corinna sowie auch er selbst, hatten nur einige wenige Sachen von daheim mitnehmen können. Aber sie würden schon klar kommen. Was bräuchten sie viel mehr als nur sich selbst? Jetzt sitzen sie jedenfalls gemeinsam in ihrer spartanischen Wohnung und lachen und reden. Dabei kommt ein herrliches Kauderwelsch heraus, denn Corinnas Englisch benötigt wirklich eine Auffrischung, Schwedisch ist ihr natürlich völlig fremd, Andrés Deutsch ist auch schon etwas in Vergessenheit geraten und muß dringend wieder trainiert werden, sein Englisch hingegen ist gut, und Dennis hat in der Schule in Deutschland noch nicht richtig mit Englisch begonnen. Aber mit Händen und Füßen und viel Humor geht das alles ganz prima.

Und das einfache Essen? Das schmeckt Corinna und Dennis so gut, wie schon lange nicht mehr. Von André lernen sie beide auch gleich eine sehr schöne, in Deutschland nicht unbedingt übliche Sitte. Ja, sicher, man erwähnt, daß das Essen gut schmeckt, aber hier in Schweden bedankt man sich ausdrücklich dafür. Nach einem jeden Essen bedankt sich jeder einzelne in der Familie bei der Mutter oder jedenfalls dem, der diesmal gekocht hat. 'Tack för maten' – Danke für das Essen. Vorher steht keiner auf vom Tisch. Corinna findet, dieser Dank zeugt von Respekt, eine nette Geste. „Tack?“ fragt Dennis und muß kichern, „das hört sich ja so an, als wärst du ein Heftapparat“, er sieht André mit großen Augen an. Der lacht „Ja, das hört sich sicher für dich lustig an“.

Corinna genießt die lockere, fröhliche Stimmung am Tisch. Endlich sind sie angekommen an ihrem Ziel.

Sie wird auf einmal furchtbar müde. Die große Anspannung und die lange Autofahrt machen sich nun unmißverständlich bemerkbar. „Ich glaube, wir sollten uns so langsam hinlegen, ich bin todmüde“. Auch Dennis wird bereits ein wenig stiller. „Wenn du Lust hast, kannst du ja noch ein wenig in deinem Buch lesen“. André räumt das Geschirr in die Spülmaschine, und Corinna lernt, daß eine Einbauküche, mit Spülmaschine, Herd, einem riesiger Kühlschrank, einem ebenso riesigen Gefrierschrank in schwedischen Wohnungen und Häusern zur Grundausstattung gehören. „Das ist aber eine feine Sache“ bemerkt Corinna „wenn ich daran denke, wie oft wir umgezogen sind, und jedesmal haben wir die Kücheneinrichtung, wie so üblich, mitgenommen. Die mußte dann immer erneut angepaßt werden. Du kannst dir vorstellen, daß die Schränke das nicht unbegrenzt mit sich haben machen lassen. Da geht hier und da schon mal was kaputt, nach all den Jahren.“ André stellt die Spülmaschine an. „Na prima, da hast du schon gleich etwas Positives mit Schweden. Das freut mich.“ Corinna folgt Dennis in sein neues, ziemlich leeres Kinderzimmer, in dem nur die Matratze auf dem Boden liegt. Daneben hat André eine kleine Nachttischlampe auf den Boden gestellt. Dazu die Sachen, die sie im Auto hatten mitnehmen können. Sie nimmt seinen Schlafanzug aus seiner Kleidertasche, zieht das Bettlaken auf und legt ihm das mitgebrachte Bettzeug zurecht. Schnell noch Zähne putzen, dann schlüpft Dennis auch schon unter seine frisch bezogene Bettdecke. „Mensch, Mama, ist das gemütlich. Das fühlt sich ein kleines bißchen so wie Camping an. Was machen wir morgen?“ Er zieht sein Buch aus seinem Rucksack und kuschelt sich noch mehr ins Kissen. „Ich habe keine Ahnung, laß uns das beim Frühstück zusammen besprechen. Jetzt schlafen wir uns erst einmal aus. Ich bin ja die ganze Nacht durchgefahren mit der alten Mühle, während du neben mir geschnarcht hast, daß sich die Balken bogen. Aber trotzdem, ich bin sehr dankbar, daß unser Autochen so gut gelaufen ist. Es hätte auch ganz anders kommen können. Bis morgen früh, gute Nacht. Und wenn was ist, wir schlafen ja gleich nebenan.“ Sie umarmt Dennis und gibt ihm einen Gutenachtkuß. Dennis macht einen zufriedenen Eindruck, nimmt sein Buch hoch und beginnt zu lesen. „Gute Nacht, Mama“. Corinna lässt die Tür offen und geht in ihr Schlafzimmer, um auch dort die Matratzen fertigzumachen. André, der gerade in der Küche fertig geworden ist, kommt auch gleich hinterher.

Schließlich liegen sie zufrieden und eng umschlungen in den Federn, und Corinna fallen die Augen zu. „Gute Nacht, mein Liebling, ich bin froh, daß ihr endlich bei mir seid und daß du so gut gefahren bist“. Aber das hört Corinna schon gar nicht mehr. „Schlaf gut“, nuschelt sie nur noch, schlaftrunken. Dann ist alles still.

Eisblumen im Blaubeerwald

Подняться наверх