Читать книгу Eisblumen im Blaubeerwald - J.C. Caissen - Страница 9

Оглавление

5

Corinna stürzt sich von Anfang an mit Freude in die Arbeit. Es ist wirklich ein großer Vorteil, in einer Weltfirma zu arbeiten. In welchem Land auch immer sie in eine der Niederlassungen kommt, irgendwie fühlt sie sich immer gleich zu Hause. So ist es auch hier in Schweden. Im Gegensatz zu Deutschland hat hier noch jeder Mitarbeiter ein eigenes, wenn auch kleines Büro, ausgestattet mit Möbeln in nordischem Design. Wenn ihr danach ist, kann sie die Tür hinter sich zu machen und in aller Ruhe denken, telefonieren, arbeiten. Corinna hatte in Deutschland auch ihr eigenes Büro gehabt, aber nur, weil sie Führungskraft war, ihre Mitarbeiter hatten sich mit drei oder vier Kollegen ein größeres Zimmer teilen müssen. Corinna mag die Arbeit im Großraumbüro überhaupt nicht. Sie würde sich nicht konzentrieren können, jedes Telefonat der Kollegen, jede Diskussion, würde sofort ihre Gedanken durcheinander bringen. Jetzt ist sie froh, es hier so gut getroffen zu haben.

Ihre Abteilungsleiterin stellt sie erst einmal den Kollegen vor. Alle sind freundlich, machen einen recht netten Eindruck. Man spricht sofort und ausschließlich Englisch mit ihr. Als sie sich an ihrem Arbeitsplatz zurecht gefunden hat, geht ihre Chefin mit ihr die Details ihres Aufgabengebietes durch, sie erklärt die Ziele und Verantwortungsbereiche der Abteilung, deren Struktur und Organisation. Corinna notiert wichtige Details, stellt viele Fragen und ist nach dem Einleitungsgespräch zufrieden mit dem, was sie bereits über ihre Umgebung gelernt hat. So wie immer, macht sie sich erst einmal ein Bild mit Fakten und notiert die sich dabei ergebenden Fragen, die sie im nächsten Gespräch dann wieder aufnehmen will. Die Tatsache, daß sie bereits in sechs verschiedenen deutschen Niederlassungen der Firma gearbeitet hat, ist von großem Vorteil. Firmeninterne Abkürzungen, Strukturen, Hierarchien und Organisationen sind identisch oder zumindest ähnlich, so daß sie sich sehr schnell zurecht findet. Auch für die Firma ist dies natürlich ein Gewinn. Die Einarbeitungszeit verkürzt sich dadurch erheblich.

Corinnas Aufgabe soll darin bestehen, von internen Abteilungen identifizierte Problemgebiete zu untersuchen, zu analysieren und Lösungsvorschläge zu diskutieren, zu verabschieden und schließlich einzuführen. Eine interessante Aufgabe, findet sie. Und schon bald bekommt sie den ersten Auftrag von ihrer Chefin zugeteilt. Corinna kniet sich sofort hinein in die Aufgabe, es macht ihr richtig Spaß. Ihre bisherigen Tätigkeiten in Deutschland waren von ganz anderer Natur gewesen. Sie hatte Menschen geführt und mit ihnen gemeinsam das Abteilungsziel erreicht. Hier muß sie nun wieder selbst operativ Hand anlegen. Und sie will um jeden Preis eine gute Arbeit abliefern. Nach drei Wochen hat sie eine längere Besprechung mit ihrer Chefin, die sie fragt, wie sie voran kommt. “Ja, das Problem ist gelöst, ich muß nur noch die Dokumentation fertigstellen“, beginnt Corinna sachlich, aber auch ein klein wenig stolz. Ihre Chefin sieht sie fragend an „Wie meinst du das, gelöst?“. “Ich habe den Auftraggeber interviewt, das Problem beschrieben, - man benötigte eine kleinere Datenbank -, die Variablen habe ich aufgenommen, die Datenbank erstellt und zusammen mit der Abteilung getestet. Der Test lief gut, es gab keine negativen Überraschungen, der Auftraggeber ist zufrieden und hat die Arbeit gutgeheißen, so daß ich gestern damit anfangen konnte, die Dokumentation zu schreiben, nämlich wann und wie die Datenbank angewendet werden soll. Das ist der aktuelle Stand“. „Das hört sich ja richtig gut an. Mit welchem Programmierer hast du denn zusammengearbeitet? Wer hat die Datenbank erstellt?“ Corinna begreift die Frage nicht richtig. „Wie meinst du das? Mit niemandem. Die Datenbank habe ich selbst erstellt und zusammen mit dem Auftraggeber getestet“. Corinnas Chefin fängt an zu lachen. „Na, da hast du aber einiges falsch verstanden. Also, hier läuft das so, daß du das Problem analysierst und dann die Lösung vorschlägst. Dann kommt der Programmierer ins Spiel, der das Programm schreibt oder eine Programmänderung vornimmt. Du selbst mußt keine Programmierarbeiten durchführen. Du bist doch gar kein Programmierer, du bist doch der Analytiker.“ Ja, da ist sie mal wieder übereifrig gewesen, hat scheinbar auch nicht richtig zugehört. Und vor allem hätte sie sich die Abend- und Wochenendarbeit ersparen können, an denen sie sich unter Druck gesetzt hat, sich in die relativ einfache Programmiersprache einzulesen. Allerdings hat es ihr auch großen Spaß gemacht, wieder mal Neuland zu betreten. Ihr liegen alle typisch logischen Aufgaben, und Programmiersprache ist pure Logik. Jetzt ist sie ein wenig beschämt, aber auch ein wenig stolz, daß sie in so kurzer Zeit die Lösung bereits eingeführt hat, ganz allein. Was sie nicht weiß und hier wirklich noch lernen muß, ist, daß man in Schweden sehr großen Wert auf Teamwork legt. Die Leistung eines einzelnen, der aus der Gruppe hervorragt, ist hier nicht unbedingt gefragt. Hier trägt jeder in seinem Team dazu bei, daß das Gruppenziel erreicht wird. Jeder trägt dazu auf seine eigene Weise und entsprechend seinen eigenen Fähigkeiten bei. Es gibt immer in einem Team Menschen, die langsamer und andere, die schneller sind, solche die von strahlender Intelligenz sind und solche, die einfach nur das tun, was man von ihnen verlangt. Jeder wird in der Gruppe gleichermaßen benötigt und jeder hat denselben Stellenwert. Ach, das ist ja so eine völlig andere Denkweise als in Deutschland. Daran muß sich Corinna erst gewöhnen.

In Deutschland kämpfte jeder für sich. Jeder wollte das beste Ergebnis vorweisen, besser sein als die anderen. Die anderen waren Konkurrenten, denen man so wenig wie möglich über die eigenen Gedanken zum Problem und noch viel weniger zu den Lösungen verriet. Jeder wollte den Lob als erster und möglichst allein einstecken.

Diese andere Denkweise ist nun wohl die größte Herausforderung für Corinna und der größte Unterschied zwischen Corinnas alter und ihrer neuen Heimat. Und dem kann sie sich nicht mal eben in einem Monat anpassen. Corinna wird Monate, sogar Jahre dafür brauchen, sich in kleinen, steten Schritten an diese andere Kultur anzupassen.

Zunächst einmal aber findet sie es befremdend, wenn sich niemand darüber aufregt, wenn ein Kollege unvorbereitet zu einer Besprechung kommt. Wie kann er mit dem Argument davonkommen, er habe keine Zeit gefunden, sich vorzubereiten. Und wie dreist darf jemand erst sein, der selbst zu einer Besprechung bittet und dann eine halbe Stunde vor Ende der anberaumten Zeit und mitten in einer Diskussion aufsteht mit den Worten “Ich muß jetzt gehen, meine Tochter vom Kinderhort abholen. Ihr macht bitte ohne mich weiter und informiert mich morgen, wie ihr euch geeinigt habt.“ Corinna hat immer in der Person, die eine Besprechung einberuft, eine Autoritätsperson gesehen. Und hier überläßt diese Person einfach so die Verantwortung an die gesamte Gruppe. Und niemand findet etwas Besonderes dabei. Die Besprechung und die Diskussion geht einfach reibungslos weiter. So etwas wäre in Deutschland unvorstellbar. Auch stört es sie anfangs furchtbar, daß während eines kleineren Meetings ein Teilnehmer einen Apfel aus der Tasche zieht und nun beginnt, ihn genüßlich und geräuschvoll zu verspeisen. Ein anderer hat sich die Schuhe ausgezogen und geht nun auf Strümpfen an das Whiteboard, um den Kollegen ein Detail seines Problems zu veranschaulichen. Unmöglich, denkt Corinna, und als dann schließlich auch noch diskutiert wird, ob ein interner Briefkasten am Ende der rechten Flurhälfte oder besser vielleicht doch am Ende der linken Flurhälfte aufgehängt werden soll, steht sie auf, entschuldigt sich mit leicht erregter Stimme und den Worten, sie habe heute noch Wichtigeres zu tun und sie würde dann schon mitbekommen, wie man sich nun entschieden hätte. Alle lächeln, keiner ist beleidigt, keiner kommentiert. Sie verlässt den Raum.

Es dauert wie gesagt einige Zeit, bis Corinna die typisch deutsche und so offensichtliche Tüchtigkeit ein wenig in den Hintergrund stellt, statt dessen auch mal eine Kaffeetasse nimmt und sich bei einem Kollegen an den Schreibtisch setzt, um zu fragen, wie das Wochenende mit den Kindern war. Etwas, wofür sie in Deutschland meinte, niemals Zeit gehabt zu haben. Und je mehr sie von ihrer steifen Beherrschung ablegt, je offener werden hier die Kollegen. Sie kommen nun auch in ihr Zimmer und fragen nach Rat, wollen schnell mal etwas mit ihr diskutieren. Da erst lernt Corinna, daß nicht ein Mensch alles wissen kann und daß es keine Schande ist, selbst in Meetings an einen anderen Kollegen, der die besseren Sachkenntnisse hat, zu verweisen. Als Manager auf einen Mitarbeiter zu verweisen, empfand Corinna in Deutschland als reinen Autoritätsverlust. Der Chef mußte immer alles beherrschen. So war sie jedenfalls erzogen worden. Und nun ist sie hier auf dem besten Wege, eine totale Rundumerneuerung ihrer Wertvorstellungen zu durchleben. Spannend, bereichernd, aber durchaus nicht immer schmerzfrei.

André ist ihr eine große Hilfe in diesen kulturellen Dingen. Er weiß, wie die Strukturen funktionieren, wie man hier im Norden erfolgreich und im Team zusammenarbeitet. Und er glättet die Wogen, wenn sich Corinna wieder mal furchtbar aufregt und ihm abends mit dem Erlebten in den Ohren liegt.

Die kommenden Projekte löst Corinna gemeinsam mit einem Programmierer, was sie als sehr angenehm empfindet. Erstmals hat sie jemanden an ihrer Seite, mit dem sie Fragen erörtern kann und der mit ihr gemeinsam Verantwortung für das Resultat übernimmt. Jeden neuen Arbeitstag geht Corinna nun entspannt und mit Freude an. Der Stress, die Ängste, die sie täglich in Deutschland erlebt hatte, das gibt es hier erst gar nicht. Hier kann sie sich die Ruhe nehmen, die sie für ihre Arbeit braucht. So macht Arbeit wirklich Spaß. Nach wie vor kann sie es kaum fassen, und es fällt ihr immer noch schwer, die Zügel etwas lockerer zu lassen. Und selbst, wenn sie nur ein klein wenig gemütlicher arbeitet, als sie es gewohnt ist, ist sie immer noch ehrgeiziger und schneller als die Kollegen. Und so ist sie als die überaus tüchtige Deutsche beliebt und anerkannt, auch wenn sie sich selbst gar nicht mehr so tüchtig findet, jedenfalls gelassener als früher in Deutschland. Ein klein wenig des schlechten Gewissens nagt da immer noch irgendwo.

„Heute abend lade ich Euch zu einem besonders leckeren Abendessen ein, mit Vorspeise und allem drum und dran“. Corinna stürmt aufgeregt in die Wohnung. Dennis und André sind bereits daheim. „Ach ja? Hast du etwa eine Gehaltserhöhung bekommen?“ André strahlt sie an. Dennis kommt neugierig aus seinem Zimmer gesprungen. „Viel besser! Mein Vertrag wurde wieder um ein halbes Jahr verlängert, obwohl die Kollegin nächsten Monat aus dem Mutterschutz zurückkommt. Sie wollen mich behalten. Leider kann ich momentan noch keine Festanstellung bekommen. Aber vielleicht später“. „Mach dir keine Sorgen, Liebes, das wird sich alles regeln. Wir kennen doch die Firma in- und auswendig. Wenn du da mal Fuß gefaßt hast, wirst du auch weiterhin beschäftigt.“ „Ich brauche den Job ja auch. Ohne mein Gehalt würden wir es finanziell auch gar nicht schaffen.“ Corinna ist wirklich erst mal wieder erleichtert. Sie macht sich natürlich oft Gedanken darüber, was werden könnte, wenn die Firma ihren temporärer Vertrag eines Tages nicht mehr verlängern sollte. Die Lebenshaltungskosten in Schweden sind viel höher als in Deutschland, und auch mit Corinnas Gehalt können sie sich wirklich keine großen Sprünge leisten.

Andrés Exfrau geht es ähnlich und stillschweigend löst man wenigstens ein kleines Problem damit, daß bei jedem Wachstumsschub, den Andrés Sohn Andreas macht, André ein paar neue Kleidungsstücke für Andreas bezahlt, während Dennis dafür die zu klein gewordenen Kleidungsstücke erhält. Es schmerzt Corinna schon ein wenig, daß Dennis so nie zu neuen Kleidungsstücken kommt, zu solchen, die er vielleicht auch selbst gern mal hätte. Dennis läßt sich allerdings nichts anmerken, zumindest die ersten Jahre nicht. Er ist es ja auch nichts anderes gewohnt. In Deutschland hatte er die Hosen, Pullover und Jacken der Kinder seiner Halbschwester bekommen. Diese hatte einen unersättlichen Kaufrausch, und jedesmal, wenn die Kinderschränke wieder aus den Nähten platzten, stellte sie große Wäschepakete für Dennis zusammen, die einerseits von ausgezeichneter Qualität waren, darauf achtete sie stets, und andererseits nicht abgetragen waren. Corinna sah also keinen Grund, schon damals nicht, zusätzlich noch neue Kleidung zu kaufen. Und Dennis war noch jung und legte noch keinen Wert auf ausgesuchte Kleidung eines speziellen Labels.

Viel später aber, irgendwann, schwärmt er dann doch mal von einer schwarzen Lederjacke mit Popnieten und von schwarzen Lederstiefeln mit einer ziselierten silbernen Platte vor dem Schienbein, solchen Stiefeln, die Michael Jackson bei seinen Bühnenauftritten trägt. „Unmöglich“, und „niemals“, meint André, der im Grunde doch sehr konservativ ist. Corinna aber erkennt, daß Dennis hier erstmals einen sehnlichen Wunsch äußert, und egal, was sie selbst über seinen Wunsch denkt, und egal, ob André diese Kleidung als unpassend ansieht, so wird sie ihrem Sohn diesen Wunsch erfüllen. Er hat bisher schon auf so vieles verzichten müssen, ohne ein Wort des Klagens oder Herummeckerns. Andere Kinder, davon ist sie fest überzeugt und sieht es auch an Andrés Kindern sehr deutlich, hätten ihren Eltern längst die Hölle heiß gemacht. Und so fährt sie eines Tages mit Dennis in die Innenstadt und ersteht beides, Lederjacke und Stiefel, für nicht wenig Geld. Dennis strahlt und ist überglücklich. André ist überhaupt 'not amused' und seine Kinder bemerken hinter vorgehaltener Hand und sehr abfällig, daß Dennis wirklich so 'ganz anders' sei als sie. Corinna aber steht voll hinter ihm. Sie findet, ein Kind, Jugendlicher, muß die einzelnen Phasen der Pubertät ausleben dürfen, um sie unbeschadet hinter sich zu bringen, auch wenn die Eltern nicht immer mit allem einverstanden sind, was das Herz eines Jugendlichen erfreut.

Eisblumen im Blaubeerwald

Подняться наверх