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Eine Uhr mit messerscharfen Zeigern

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Jule und Luca

Der Schwarze Fürst

Jens O. Löcher








Es war gerade ein Tag vergangen, seitdem Jule und Luca Simson von der Insel zurückgekehrt waren, die in ferner Vergangenheit durch den Traum eines Fremden geboren und die für ihren Vater und Herrn Dr. Maiwald über Jahre hinweg Gefängnis gewesen war. Die Kinder hatten erlebt, wie eine Kanonenkugel sie nur knapp verfehlte und wenige Meter hinter ihnen im weißen Strand der Südseeinsel einschlug, hatten in nächster Nähe Piraten kämpfen und sterben sehen. Blut, Schweiß und Tod lösten sich unmittelbar darauf von einem Moment zum anderen in Luft auf und der gerade noch blutdurchtränkte Sand lag plötzlich unberührt und von den Piraten und ihrem Kapitän unbetreten unter der heißen Sonne der Südsee.

Wenige Minuten darauf hatte sich dasselbe Segelschiff erneut dem Strand genähert und dieselben Piraten und derselbe Kapitän stürzten sich in dieselbe Schlacht, die dasselbe Ende nahm. Eine unendliche, scheinbar nicht zu durchbrechende Wiederholung, denn sie hatten den Weg in einen Traum gefunden, dessen Inhalt sich wie ein Kreisel drehte. Kaum war er am Endpunkt angelangt, folgte schon der Neubeginn.

Frau Buglett, Herrn Fleischmann und natürlich der riesigen Dänischen Dogge Hektor hatten sie es zu verdanken, dass sie ihren Vater und auch Herrn Dr. Maiwald retten konnten.

Und nun saßen die Geschwister bei Herrn Fleischmann und hatten ihm spontan Hilfe versprochen. Sie waren gespannt zu erfahren, wobei er, der riesige, bärtige Mann, der unzählige Geheimnisse kannte, von zwei Kindern, die sich allerdings nach ihren letzten Abenteuern überhaupt nicht mehr als Kinder fühlten, Hilfe benötigen könnte.

„Ich glaube, Ihr habt bereits am eigenen Leib bemerkt, dass Adamek Träume beeinflussen kann. Erinnert Ihr Euch nicht, dass er auf der Veranda seines Hauses stand und sagte, er wollte Euch davon abhalten, Euren Vater zu finden? Ich bin mir sicher, dass er versucht hat, Euch durch Albträume davon abzuhalten, weiterhin Euren Vater zu suchen.“

Herr Fleischmann blickte die Kinder an, als erwarte er eine Antwort. Jule nickte und schaute zu ihrem Bruder.

„Das stimmt. Weißt Du noch, als Du wegen Deines Traums aufgewacht bist und mich geweckt hast, weil ich im Schlaf so laut gestöhnt habe? Ich hatte doch diesen schrecklichen Traum mit dem Skelett“.

„Ja, natürlich, mir ging es in dieser Nacht ja auch nicht besser.“

Herr Fleischmann schaute bedrückt aus.

„Ich hatte es ja befürchtet. Das ist schlimm. Ich kenne ihn mein halbes Leben und hätte nie gedacht, dass er mich so hintergeht.“

„Wie meinen Sie das“, fragte Jule.

„Tja“, begann Herr Fleischmann und senkte seinen Kopf, „um Träume beeinflussen zu können, muss man einiges vom dem wissen, was ein Hüter der Träume weiß. Adamek ist aber kein Hüter der Träume. Niemand hat ihm bisher so vertraut, dass er ihn hat teilhaben lassen an den wirklich wichtigen Geheimnissen.“

„Aber wieso kann er das dann trotzdem?“, drängte sich Luca dazwischen, bevor Herr Fleischmann fortfahren konnte.

„Ich befürchte, dass das meine Schuld ist“, seufzte Herr Fleischmann und atmete tief ein. „Ich habe Euch doch einmal erzählt, dass ich als Kind durch einen alten Apotheker in viele Geheimnisse des Traumhütens eingeweiht wurde, dass er mir aber nicht alles erzählen konnte, weil er vorher gestorben ist.“

Die Kinder nickten.

„Ich wollte verhindern, dass mir dasselbe passiert, bevor ich einen Nachfolger“, Herr Fleischmann schaute zu Jule, bevor er den Satz zu Ende sprach „oder eine Nachfolgerin gefunden habe. Also habe ich angefangen, alles, was ich weiß, in ein dickes, altes, leeres Buch zu schreiben. Irgendwann war das Buch dann weg, einfach verschwunden. Ich habe das ganze Haus abgesucht, es blieb verschwunden. Ich habe immer gerätselt, wer es genommen haben könnte, im Grunde genommen konnten es aber nur Adamek oder Frau Buglett gewesen sein, denn ansonsten hatte ich ja während der letzten Jahre hier in Federnheim keine Kontakte. Das ist ja erst durch Euch anders geworden.“

Jule fühlte sich geschmeichelt. Ihrem Bruder kam es so vor, als wären ihre Wangen ein wenig roter geworden.

„Natürlich hätte es auch irgendein Dieb gewesen sein können, aber der hätte doch wahrscheinlich irgendetwas Wertvolles mitgenommen, mein Silberbesteck zum Beispiel, und nicht ein altes Buch mit handgeschriebenen Eintragungen. Der oder die es an sich genommen hatte, musste wissen, was es damit auf sich hat. Und deshalb konnten es eigentlich nur Adamek oder Frau Buglett gewesen sein. Aber keinem von beiden hätte ich das zugetraut, ich habe ihnen mehr als einmal mein Leben anvertraut und umgekehrt war es nicht anders. Aber seit dem Tag, als er sagte, er wollte Euch davon abhalten, Euren Vater zu finden, hatte ich den Verdacht, dass er es gewesen ist. Und das habt Ihr mir gerade leider bestätigt.“

„Und wozu brauchen Sie uns dann? Wir können doch nicht bei ihm einbrechen und das Buch zurückstehlen?“, fragte Luca.

„Nein, das braucht Ihr nicht. Es ist viel einfacher. Aber trotzdem gefährlich. Ich habe inzwischen herausgefunden, wo das Buch ist. Er hat es in einer Traumblase versteckt. Und zwar so geschickt, dass ich es auf keinen Fall herausholen kann.“

Herr Fleischmann stand auf und hinkte langsam in den Raum, der zur alten römischen Therme führte, nahm den Schlüsselbund vom Nagel und öffnete mit den Schlüsseln, die daran hingen, alle Schlösser. Nun öffnete er die schwere Türe, schaltete das Licht ein und ging langsam zur Treppe.

„Kommt mit, Kinder“, hörten sie ihn rufen, und seine Stimme hallte von der Treppe bis in das Esszimmer.

Als die Kinder die Therme erreichten, saß Herr Fleischmann in der Mitte des Sudatoriums auf dem Gartenstuhl und streckte sein verletztes Bein nach vorne aus. Er schaute auf seine Armbanduhr, die er an seinem linken Handgelenk trug.

„Ich habe wirklich sehr, sehr lange gesucht, bis ich den richtigen Traum gefunden hatte. Ich dachte zuerst auch an sein Haus, habe es heimlich durchsucht, habe Hektor sogar im Garten die Beete aufwühlen lassen, weil ich dachte, er habe es dort vergraben. Zuletzt habe ich das unwahrscheinlichste Versteck untersucht, mein eigenes Haus. Und in einer der Traumblasen hier im Sudatorium habe ich es dann tatsächlich gefunden. Als ich mich auf das Buch konzentrierte, hatte ich die passende Traumblase auch schon in der Hand. Ein wirklich geniales Versteck. Wer denkt schon daran, dass der Dieb das, was er stiehlt, im Haus des Bestohlenen versteckt? Wohl niemand.“

„Aber dann brauchen Sie uns doch nicht“, warf Jule ein und klang dabei erleichtert.

„Doch, doch“, antwortete Herr Fleischmann, „gerade Ihr könnt mir helfen. Ich selbst würde es niemals schaffen, an das Buch zu kommen. Ich habe es versucht.“

Herr Fleischmann zeigte auf sein verletztes Bein.

„In der Mitte des Traumes befindet sich ein großes Uhrwerk, das in eine Wiese eingelassen ist. Die Zeiger der Uhr sind aus Metall und ähneln rasierklingenscharfen Degen. Sie drehen sich, aber nicht so langsam wie bei einer wirklichen Uhr, sondern sehr viel schneller. Herr Adamek hat das Buch auf das Ziffernblatt geworfen, so dass sich die Zeiger über ihm drehen und es dadurch beschützen. Ich habe mehrfach versucht hineinzuspringen, um es zu holen, aber die Zeiger haben mich jedes Mal erwischt. Das erste Mal, als das Märchen vom blutigen Hektor entstanden ist. Ich wäre damals fast gestorben. Anschließend bin ich vorsichtiger geworden, habe es mit langen Stangen aus Holz oder Metall herauszuheben versucht, aber die sind vom Metall einfach zerschnitten oder zersägt worden, bevor ich auch nur in Griffweite des Buches gekommen bin. Vor ein paar Tagen bin ich das letzte Mal erwischt worden, es war wieder dasselbe Bein.“

Herr Fleischmann zeigte auf sein ausgestrecktes Bein. Jetzt verstanden die Kinder, warum sie bei ihrem ersten Besuch den Eindruck hatten, das Humpeln habe sich verschlimmert. Er war erneut verletzt worden.

„Gut, lassen Sie uns darüber nachdenken und mit unseren Eltern sprechen“, sagte Jule.

„Das ist eine vernünftige Idee“, erwiderte Herr Fleischmann. „Leider ist dafür aber keine Zeit mehr. Ich habe mir vorhin einmal die Traumhülle angeschaut. Sie ist blass und fade geworden, sie steht kurz vor dem Erlöschen. Wenn wir uns nicht beeilen, ist es zu spät.“

„Aber das ist doch furchtbar gefährlich. Selbst Sie sind verletzt worden. Wir sollten vorher eine Strategie, einen Plan ausdenken.“

„Oh, das habe ich schon getan. Ich habe tausendmal nachgedacht und einen Weg gefunden. Allerdings bin ich zu langsam und zu dick, um ihn auszuführen.“

Zur Bekräftigung streichelte er über seinen gut sichtbaren Bauch.

„Einer von Euch könnte es leicht. Ihr seid schlank genug.“

„Und wie soll das gehen?“, fragte Luca.

„Es ist ganz einfach. Einer von Euch muss nur hineinspringen und sich sofort auf den Boden werfen. Ihr seid so schmal, dass die Klinge Euch nicht treffen kann, wenn ihr platt wie eine Flunder auf dem Ziffernblatt liegt. Und schon habt Ihr das Buch und könnt es herauswerfen. Und dann denkt Ihr an Euren eigenen Lebenstraum, wie gestern auf der Insel, und schon seid Ihr heraus aus der Traumblase.“

Luca hatte Angst, aber er dachte kurz daran, dass er seinen Vater ohne Herrn Fleischmann in seinem ganzen Leben nicht wiedergesehen hätte. Er war ihm mehr schuldig, als er ihm jemals geben könnte.

„Also gut, ich mache es.“, sagte er leise.

„Und ich komme mit“, bekräftigte seine Schwester.

„Das ist gut. Ich bin so stolz auf Euch“.


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