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Eine traurige alte Frau

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Herr Fleischmann schloss die Augen und zog die Stirn in Falten, als ob er überlegte. Im nächsten Moment flogen einige Traumhüllen auf ihn zu und umkreisten ihn. Er öffnete die Augen, schaute sich kurz um und griff zielsicher eine recht große Blase, die sich in Höhe seines ausgestreckten Beines befand und tatsächlich blasser aussah als die anderen. Ein solches Traumgebilde hatten sie noch nie gesehen. Die Kinder blickten angestrengt in die Blase und erkannten eine Holzhütte, die auf einer kleinen Lichtung inmitten eines grünen Tannenwaldes stand. Aus dem aus groben Ziegelsteinen gemauerten Schornstein kringelte grauer Qualm in die Höhe. Vor der Hütte war ein kleiner Gemüsegarten angelegt, man konnte Möhren und Petersilie erkennen, daneben blühten einige Blumen.

Als die Kinder die Kugel ein Stückchen drehten, sahen sie, dass hinter dem Wald eine Wiese begann, in deren Mitte man ein Ziffernblatt erkennen konnte. Herr Fleischmann erklärte den Kindern hastig, welchen Schlüssel sie benötigten, um in den Traum hineinzukommen und drängte darauf, dass sie sich sofort auf den Weg machten. Dabei schaute er wieder auf seine Armbanduhr.

Und schon ging es los. Der Schlüssel war ein Reim: Heute bist Du ein Kind, doch die Zeit verrinnt. Dabei sollten die Kinder möglichst traurige Gedanken haben.

„Niemand hat behauptet, dass Träume weiser sind als die, die sie träumen“, sagte Jule, als sie den Satz hörte.

Die Kinder hielten sich an einander fest und im nächsten Augenblick standen sie vor der Holzhütte und rochen den würzigen Rauch, der um sie herum die Luft füllte. Irgendwo im Wald rief ein Kuckuck, über ihnen saß eine Amsel in einem Baum und sang so verzweifelt schön, dass Jule annahm, die Amsel sei der einzige Vogel hier und rufe schon seit hundert Jahren vergeblich nach einer Partnerin.

Luca hatte vergessen, dass er von den Figuren des Traums nicht gesehen werden konnte, und schlich sich leise und geduckt zum Fenster der Hütte. Die Läden standen offen, das Fensterkreuz hielt eine dünne, milchige Scheibe. Genau hinter dem Glas saß eine alte Frau in einem mit Schnitzereien verzierten, braunen Schaukelstuhl und wippte gemächlich von vorne nach hinten. Sie blickte dem Jungen genau in die Augen. Luca sprang vor Schreck zur Seite.“

„Warum versteckst Du Dich?“, ulkte seine Schwester, „außer mir kann Dich hier doch ohnehin niemand sehen.“

Luca ging zwei Schritte zur Seite und blickte erneut, nun aber seitlich versetzt, in den Raum, der karg und ärmlich eingerichtet war und nur ein paar abgenutzte Holzmöbel enthielt. Er erkannte ein Bett, eine Truhe, einen Tisch mit zwei Stühlen, den Schaukelstuhl und einen Ofen, der zum Kochen und Heizen diente, und an dem eine Pfanne, zwei Töpfe und eine Holztasse angehängt waren. Nein, die Augen der alten Frau waren ihm nicht gefolgt, sondern starrten weiterhin in die Richtung des Waldes. Durch die Scheibe hörte er das Knistern des Holzes im Ofen. Das Feuer schien nicht zu wärmen, denn die Frau trug mehrere Kleidungsstücke übereinander. Ihre Hände ruhten in ihrem Schoß, darunter lag der Anfang eines grauen Strickwerkes. Was es werden sollte, konnte Luca nicht erkennen, bisher war es nur ein kleiner, grauer Lappen.

Wer mag nur einen so traurigen Traum geträumt haben, vielleicht die alte Frau selbst? Aber vielleicht würde ja gleich auch etwas Schönes passieren, vielleicht kam Mann von der Jagd herein oder ihre Tochter vom Feld und dann würde sie ihr sicher eine Tasse heißen Tee kochen und ihr von ihrem Tag berichten, davon, was sie fern der Hütte erlebt hatte und sie somit so am Leben außerhalb der Hütte teilhaben lassen, als ob sie dabei gewesen wäre.

„Nun komm´ schon“, rief Jule ihm zu.

„Warte, lass´ mich noch ein wenig zuschauen“, antwortete er. „Ich habe diese Schnitzereien auf dem Stuhl schon einmal gesehen, aber ich komme nicht mehr darauf, wo es war. Wildschweine, Hirsche, ein Jäger, seltsam.“

„Ich gehe voraus, hier geradeaus durch den Wald. Du weißt, wir haben keine Zeit. Lasse mich nicht so lange alleine, sonst hole ich das Buch ohne Dich.“

Der Wald war nicht sehr tief, denn Jule konnte durch ihn hindurch auf die dahinter liegende Wiese schauen und erkannte dort kleine rote und weiße Blumen. Nach wenigen Minuten hatte sie die Wiese erreicht. Schmetterlinge schwirrten um sie herum, sogar ein kleiner Admiral war dabei. Und dort war auch schon die Uhr. Das kreisrunde Gehäuse war in den Boden eingelassen, so dass das Ziffernblatt unterhalb der umgebenden Wiese lag. Etwa auf der Höhe der Grasspitzen kreisten die beiden gezahnten Metallklingen, die die Zeiger der Uhr darstellten. „Smm“, machte der größere der Zeiger, während er sich einmal um die Achse drehte. Darunter drehte sich der Stundenzeiger weitaus langsamer. Und dort, gleich unter dem Stundenzeiger, lag ein großes, braunes Buch. Das musste es sein.

„Man muss zwischen zwei Smms in die Uhr springen und sich sofort flach auf den Boden legen. Dann schafft man es“, dachte Jule.

„Niemand ist gekommen, die alte Frau ist immer noch alleine“, rief Luca laut, als er neben ihr stand.

Jule stockte der Atem.

„Musst Du mich so erschrecken. Ich wäre ja fast gestorben, Du Blödmann.“

„´tschuldige, wollte ich nicht“, säuselte Luca, aber seine Schwester glaubte ihm nicht.

„Ich weiß, woher ich die Schnitzereien kenne. Die sind auch auf dem Krückstock von Herrn Fleischmann. Ganz sicher. Vor allem an das Wildschwein kann ich mich erinnern, aber auch an den Jäger. Das ist kein Zufall.“

„Lass´ uns später darüber nachdenken oder einfach Herrn Fleischmann fragen. Hier musst Du hinein. Zwischen zwei Smms. Aber Du darfst nicht einfach nach dem ersten Smm hineinspringen, sonst bist Du noch in der Luft, wenn das nächste Smm kommt.“

„Am besten springe ich kurz vor dem Smm, oder?“

„Springe mal so weit, wie es von hier ins Gehäuse ist.“

Luca hüpfte an eine andere Stelle der Wiese, während Jule im Gleichklang zum Zeiger smm, smm, smm machte. Es stellte sich heraus, dass er etwas früher als angenommen hinter den Minutenzeiger springen musste, wenn er nicht von dessen nächster Umdrehung getroffen werden wollte. Gut, dass er den Sprung zuvor in der Wiese probiert hatte.

„Bereit?“

„Wenn das Abenteuer ruft, verschließe niemals Deine Ohren“, ahmte Luca seinen Lieblingshelden Agent Cucumber nach, konzentrierte sich kurz auf das Smm, hüpfte mit gestreckten Beinen in das Gehäuse und rutschte auf den Rücken. Smm machte es über seinem Kopf. Er hatte es geschafft und streckte seine Arme nach dem Buch aus, das rechts neben ihm lag. Es war ein großer, mit Leder eingebundener Foliant aus einem früheren Jahrhundert, den er nahe an sich heranzog. Merkwürdig, dachte Luca. Warum hat Herr Fleischmann nicht einen leeren Block benutzt, sondern ein uraltes Buch? Und wo in aller Welt findet man ein uraltes Buch mit leeren Seiten?

„Boah, ist das schwer“, rief er zu seiner Schwester, als er das Buch auf seinen Bauch gezogen hatte. „Werfen kann ich es nicht, ich nehme es einfach so mit zurück, wenn ich an meinen Traum denke. Hoffentlich ist es nicht zu schwer und ich bleibe irgendwo stecken. Ich versuche es jetzt, in Ordnung?“

„Ja, ok, ich komme gleich nach. Mache Dir keine Sorgen, es dauert höchstens fünf Minuten.“

„Was machst Du denn noch?“

„Ich möchte mir die Hütte einmal genauer ansehen“.

Als Luca kurz darauf aus dem Uhrengehäuse verschwunden war, ging Jule zurück zur Hütte und blickte durch das Fenster. Noch immer saß dort die alte Frau und wippte mit ihrem Schaukelstuhl. Sie war weiterhin alleine und hatte still zu weinen begonnen. Ab und zu griff sie sich nach dem grauen Wollknäuel, aus dem sie gerade etwas strickte, und wischte sich damit die Augen trocken.

Jule konzentrierte sich auf den größten Wunsch, den sie hatte und von dem nicht einmal ihre Mutter etwas wusste, und im nächsten Augenblick war die alte Frau in der Traumblase wieder alleine.


Jule und Luca - Der Schwarze Fürst

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