Читать книгу Jule und Luca - Der Schwarze Fürst - Jens O. Löcher - Страница 6

Herr Adamek

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„Herr Adamek!“, rief Jule erschrocken aus. „Haben Sie mich erschreckt. Was machen Sie denn hier?“

„Oh, entschuldige, ich wohne hier“ antwortete er und lächelte.

„Ich dachte…., äh, wo ist denn Frau Buglett?“, wollte Jule wissen.

„Sie ist noch oben und hat etwas zu tun. Sie hat mich gebeten, Euch zu sagen, Ihr sollt Euch keine Sorgen machen, sie kommt später.“

Herr Adamek setzte sich neben Luca auf den einzig verbliebenen freien Stuhl. Da der Stuhl vor der elfenbeinfarbenen hölzernen Küchentür stand, war den Kindern die Flucht aus dem Haus versperrt. Luca rückte mit seinem Stuhl von Herrn Adamek ab, es war ihm unangenehm, dass dieser Mann, der seinen Vater entführt und für Jahre vor ihnen versteckt hatte, so nahe neben ihm saß.

„Ihr habt Herrn Fleischmann also das Buch besorgt?“

Luca spürte den warmen Atem des Mannes, der in seine Richtung sprach, und rückte noch weiter von ihm ab.

„Das war ganz, ganz schlecht.“

„Das kann ich mir vorstellen, er wird verhindern, dass Sie unseren Vater oder andere unschuldige Menschen in Zukunft noch einmal in Träume sperren können“, platzte es aus Luca heraus. Er hatte ein Ventil gefunden, durch das sich der gewaltige Zorn, den er auf diesen Mann hatte, entlud.

„Ach, das haben sie Euch erzählt?“

Herr Adamek lächelte. Die Kinder konnten an seinem Blick erahnen, dass er überlegte, was er ihnen sagen sollte.

„Na, dann lasst mich mal etwas klarstellen. Ihr habt recht, was Euren Vater angeht, aber ich bin davon ausgegangen, dass er mit Fleischmann zusammenarbeitet und mich töten soll. Was sollte ich machen? Plötzlich steht er hinter mir und fuchtelt mit dem langen Ding herum.“

„Sie meinen die Angel?“, fragte Jule. „Sie hatten Angst vor einer Angel?“

„Ach, eine Angel war das? Es sah aus wie ein Gewehr. Also habe ich ihn in einen Traum verfrachtet. Das war weitaus netter, als ihn in Notwehr zu töten, oder? Also seid froh, dass er lebt. Außerdem ist er jetzt ja wohl wieder zurück. Das nächste Mal soll er gefälligst besser aufpassen, bevor er jemanden verfolgt. Er hat sich das, was passiert ist, selbst zuzuschreiben.“

Er legte die Hände auf den Tisch und faltete sie, während er von einem zum anderen blickte.

„Und Fleischmann? Ihr traut also diesem Herrn Fleischmann? Ich glaube, Ihr kennt seine Geschichte nicht. Sicher hat er Euch erzählt, er sei der Hüter der Träume, Bewahrer des Wissens oder irgend so etwas. Natürlich hat er das, das ist ja sein alter Trick, der hat noch immer funktioniert. Und dann zeigt er sein verletztes Bein und jammert und jede gute Seele ist davon überzeugt, dass er ein ganz armer Kerl ist, niemandem etwas zuleide tun könnte und vor allem nicht mehr traumwandern kann. Hat er das bei Euch auch gemacht?“

Als die Kinder schwiegen, lachte Herr Adamek.

„Natürlich hat er das. Ich kenne ihn ja lange genug.“

Nun betrachtete er die Fingernägel seiner linken Hand und begann, sie mit dem rechten Daumennagel zu säubern. Er kratzte schwarzen Schmutz heraus, den er zwischen Daumen und Zeigefinger auf die Tischdecke bröselte.

„Er könnte durchaus traumwandern. Aber er macht es nicht mehr, weil er zu viel Angst hat“, fügte er dann hinzu. „Die Wächter sind ihm auf der Spur.“

„Die Wächter? Wer soll das denn sein?“

Man merkte Luca an, dass er Herrn Adamek kein Wort glaubte, aber neugierig war er trotzdem.

„Er hat Euch nichts über die Wächter erzählt?! Natürlich nicht, wäre ja auch ganz schön dumm gewesen. Wächter wachen über die Traumorte und versuchen zu verhindern, dass jemand in die andere Welt flieht. Und passiert es doch, dann suchen sie die Ausgebrochenen und holen sie zurück.“

„Dann müssen Sie ja ganz schön Angst vor den Wächtern haben“, unterbrach Jule.

„Ich? Wieso ich? Ich glaube nicht, dass hinter mir ein Wächter her ist, so selten, wie ich noch an Traumorten bin. Aber bei Fleischmann ist es anders. Warum, glaubt Ihr, hat er den Eingang zum Traumort unter seinem Haus mit einer gewaltigen Eisentür versperrt? Warum hat die Tür drei Schlösser und einen Riegel? Damit niemand hineinkommt, um Traumblasen zu stehlen? Blödsinn, wer sollte denn in den Traumort hineinwollen und warum sollte er ihn nicht hineinlassen?“

Nun begann Herr Adamek, sich die Fingernägel seiner rechten Hand zu reinigen.

„Widerlich“, dachte Jule.

„Lässt er eigentlich immer noch den armen Hund im Vorraum als Wache, falls ein Wächter die Tür überwindet?“

Luca schluckte. Er hatte noch nie verstehen können, warum Hektor im Dunkeln vor der kalten Metalltüre liegen musste. Ob es ihm passte oder nicht: Das, was Herr Adamek sagte, machte Sinn. Auch passte es zum Erlebnis von gerade eben, als Herr Fleischmann ihnen nicht sagen wollte, welche Ursache das Geräusch in der Therme hatte und sich offenbar vor irgendetwas fürchtete. Ein Wächter konnte die Antwort sein, aber es konnte ebenso tausend andere Gründe haben. Oder hundert. Bestimmt aber zehn.

„Angenommen, es wäre so, wie Sie sagen, warum sollte Herr Fleischmann dann so unvorsichtig sein, unmittelbar über dem Traumort zu wohnen?“, fragte Jule.

„Ein Traumort hat viele Vorteile. Man kann Schätze jagen, Geheimnisse aufspüren. Und wenn man selbst den Traumort bewacht, kommt niemand anderes heran. Man muss nur aufpassen, dass man nicht zu lange am Traumort bleibt, weil sonst ein Wächter die Witterung aufnimmt. Man hat nur wenige Minuten, dann ist einer von ihnen da.“

Die Kinder wechselten Blicke. Beide hatten in dem Moment dasselbe gedacht. Herrn Fleischmanns Angst, für längere Zeit in der Therme zu bleiben, seine nervösen Blicke auf die Uhr hatten Sinn bekommen.

„Und wie sieht so ein Wächter aus?“, fragte er Herrn Fleischmann.

„Der Wächter hat eine menschliche Gestalt. Er ist groß, sehr hager, sehr blass und er ist blind. Er ist leicht zu erkennen, denn er ist weiß wie frisch gefallener Schnee.“

„Warum, trägt er weiße Kleidung?“, fragte Jule.

„Das könnte man meinen. In Wirklichkeit leuchtet er aber von innen.“

„Dann sieht er ja aus wie ein Gespenst!“ warf Luca ein.

„Ganz richtig, wie ein Gespenst. Das ist das Wort, das Menschen für die Wächter gefunden haben.“

Herr Adamek betrachtete wieder seine Fingernägel und entdeckte einen schwarzen Rand an einem seiner Zeigefinger. Er steckte den Nagel zwischen die Zähne und begann, daran zu kauen.

„Ekelhaft“, dachte Jule und schaute aus dem Fenster, wo gerade einige Meisen dabei waren, einen Strauch zu überfallen.

„Wächter wechseln ständig zwischen Traumorten und prüfen, ob alles so ist, wie es bestimmt wurde. Ist jemand aus einem Traum ausgebrochen, so machen sie sich auf die Suche nach ihm. Sie steigen manchmal aus dem Traumort und wandern durch die andere Welt, um die Ausgebrochenen zu suchen und zurück zu bringen. Selten kann sich jemand über längere Zeit vor ihnen verstecken.“

„Aus einem Traum ausgebrochen? Wie soll das denn gehen? Herr Fleischmann soll aus einem Traum ausgebrochen sein? Das ist doch lächerlich“, warf nun Jule ein.

„Glaubst Du das wirklich? Herr Fleischmann, wie Du ihn nennst, war dort, wo er hingehört, der sicherste und beste Schütze des Landes. Stolz wie er ist, hat er hier im Ort sofort mit seinen Schießkünsten angegeben und damit einen Wächter auf sich aufmerksam gemacht. Der hätte ihn damals fast erwischt, er hatte ihn bereits an seinem Bein gegriffen und hinter sich her zurück in die alte römische Therme gezerrt. Wen der Wächter einmal hat, den lässt er eigentlich nicht mehr los. Ich weiß bis heute nicht, wie Fleischmann es geschafft hat, aber er muss ihm im letzten Moment entwischt sein. Er verletzte sich damals sein Bein, sehr schwer sogar, das ist schon Jahre her. Aber er hat es geschafft. Fleischmann hat daraus gelernt. Habt Ihr einmal gesehen, wie er inzwischen beim Schützenfest auftritt? Er macht sich ungeheuer lächerlich, um die Wächter von sich abzulenken.“

Jule hatte eine Idee.

„Sagen Sie, ist auch schon jemand aus dem Brunnen ausgebrochen, der sich auf dem Grundstück unserer Eltern befindet?“

„Ja“, antwortete Herr Adamek sofort.

„Soweit ich weiß, ist vor langer, langer Zeit jemand von dort geflohen. Er wurde lange verfolgt. Ich weiß nicht, ob er jemals gefunden wurde. Wahrscheinlich nicht, denn der Brunnen wurde irgendwann verriegelt und so gut es ging versteckt. Ich könnte mir vorstellen, dass das gemacht wurde, um zu verhindern, dass ein Wächter dort herauskommen kann. Aber das ist schon lange her, lange vor meiner Zeit.“

Luca wollte auf die Geschichte hinaus, die Frau Zehnender erzählt hatte.

„Im Kirchenbuch steht doch, dass es dort früher einmal gespukt haben soll. Ob das angebliche Gespenst einer der Wächter gewesen ist?“

„Das ist anzunehmen“, antwortete Herr Adamek.

„Und der Spuk hat dann aufgehört, als der Entflohene gefunden wurde“, schätzte Luca.

„Oder als der Brunnen verschlossen wurde“, mutmaßte Jule.

„Und die Felsentür bei der Kiesgrube hat denselben Grund?“, fragte Luca, der nun langsam begann, Herrn Adamek Glauben zu schenken.

„Türen sollen nicht unbedingt verhindern, dass jemand eintritt, es kann auch sein, dass niemand herauskommen soll. Beides ist möglich.“

„Und welche Bedeutung hat das Buch Ihrer Meinung nach? Ich bin gespannt, welche Geschichte Sie uns jetzt vorsetzen“, wollte Jule wissen, die nun ebenfalls neugierig geworden war.

„Es ist ganz einfach. Das Buch gibt Macht. In ihm steht, welche Bedeutung Träume haben. Wer das Buch besitzt, versteht die Gedanken, die Gefühle und die Geheimnisse dessen, der geträumt hat. Es ist so etwas wie ein Wörterbuch des Traums. Wer das Buch hat, kann jedes Geheimnis eines jeden Menschen, der jemals existiert hat, enthüllen, findet heraus, welche Pläne er hatte, als er geträumt hat. Er findet heraus, wer wen auf welche Weise belogen, betrogen oder getötet hat und ebenso, wo welche Schätze verborgen sind. Er kann Menschen manipulieren, er kann sie beeinflussen im Träumen, Denken und Handeln. Außerdem beinhaltet es die Geschichte des Traumwanderns und fast alles Wichtige, was man wissen kann. Das Buch ist gefährlich. Es darf niemals in die falschen Hände geraten, niemals in die Hände eines Traumjägers.“

Herr Adamek machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr, und schaute den Kindern nacheinander in die Augen.

„Doch genau das ist durch Euch geschehen.“




Jule und Luca - Der Schwarze Fürst

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