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Die Kunst, einen 12-Jährigen einzubeziehen

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Ich schreibe Ihnen heute, weil mir der 12-jährige Sohn meines Mannes große Schwierigkeiten bereitet. Als sein Vater und ich ein Paar wurden, war er vier Jahr alt. Ich habe mit meinem Mann noch drei weitere Kinder bekommen, von denen der Älteste jetzt sechs ist. Wir haben es seit jeher als sehr anstrengend empfunden, wenn mein Stiefsohn bei uns war, denn er kapselt sich ab und wird völlig unzugänglich, wenn er seinen Willen nicht bekommt. Er ist von Natur aus ein bisschen mürrisch, doch wenn es ihm gut geht, dann strahlt er über das ganze Gesicht. Allerdings lächelt er immer seltener, während seine Wortwahl immer aggressiver wird.

Mittlerweile verschließt er sich aus den geringsten Gründen vor uns: weil er hungrig ist und nicht warten kann, bis es etwas zu essen gibt; weil er kein Geld bekommt, um sich etwas zu kaufen; weil er sich langweilt oder weil er einfach »nach Hause« will, obwohl er weiß, dass das ausgeschlossen ist. Inzwischen ist er nur noch jedes zweite Wochenende und in den Ferien mit uns zusammen, und es gibt kaum einmal Tage ohne Konflikte. Ich bin bisher immer nett zu ihm gewesen, doch wenn er schlechte Laune hat, ziehe ich mich mittlerweile zurück und würde am liebsten die anderen Kinder vor ihm schützen. Manchmal spielt er schön mit dem Ältesten, aber die meiste Zeit liegt er auf dem Sofa, spielt Computerspiele oder sieht sich irgend etwas im Fernsehen an, während er sich über die Gegenwart seiner kleinen Geschwister ärgert.

Er nennt sie »kleine Scheißkerle« und tritt nach ihnen, wenn sie ihn »nerven«. Die Kleinen haben ihn lieb und tun alles, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen, doch spüre ich auch, dass sie sich manchmal etwas unsicher fühlen. Ab und zu bringt er zum Ausdruck, dass er eifersüchtig ist. Bekommt einer von ihnen zum Beispiel ein Eis, dann müssen wir uns sofort anhören: »Ich krieg nie etwas!« Oft sagt er auch, wir würden uns nur um die anderen Kinder kümmern.

Wenn er bei uns ist, bin ich sozusagen eine alleinerziehende Mutter für die drei Kleinen, weil mein Mann seine Zeit dann mit ihm verbringen will. Er sagt kaum etwas anderes als »Keine Lust!« oder »Mir egal!« oder »Macht das doch selbst!«, obwohl wir unheimlich viel um die Ohren haben. Er hat quasi keine Interessen. Er hat schon mit vielen Dingen angefangen, verliert aber schnell die Lust, wenn er etwas nicht sofort beherrscht. Er hat zwar Freunde, vermisst aber wohl einen besten Freund. Vor Kurzem ist seine Mutter mit ihm in eine andere Stadt gezogen; in der neuen Schule fällt er durch Konzentrationsmangel, Integrationsschwierigkeiten und seine schlechte Laune auf.

Wenn er bei uns ist, kommt es vor, dass er mit seinen alten Freunden zusammen ist, und dann vergehen schon mal vierundzwanzig Stunden, ehe wir ihn wieder zu Gesicht bekommen. Natürlich wollen wir, dass er pünktlich nach Hause kommt, mit uns zusammen isst und sich an gewisse Regeln hält, doch bin ich auch erleichtert, wenn er anruft und sagt, dass er bei einem Freund übernachtet.

Wir haben ein gutes Verhältnis zu seiner Mutter, haben aber unterschiedliche Wertvorstellungen. Sie hat einen sehr entschiedenen Charakter und kann sich mit anderen Leuten lautstark streiten – wir dagegen sind eher konfliktscheu. Gemeinhin gelten wir als recht einfühlsam und umgänglich, was auch für unsere drei gemeinsamen Kinder gilt. Doch spüre ich, dass ich zugleich ein gewisses Temperament entwickelt habe; neulich habe ich dem Jungen gegenüber regelrecht zurückgeschrien: »Hier reden wir nicht so miteinander!« Außerdem habe ich gesagt: »Wenn du es hasst, hier zu sein, musst du mit deiner Mutter reden! Wir haben das zu oft gehört, und es tut uns weh!«

Wir sollten vermutlich eine Familienberatungsstelle aufsuchen, aber das ist ein schwerwiegender Schritt. Ich sage mir ständig, dass er ein Kind ist, noch dazu ein Scheidungskind, doch gleichzeitig will ich mich nicht damit abfinden, dass ein 12-Jähriger so viel Macht über mich und mein Wohlbefinden hat, ganz zu schweigen über meine Kinder. Wenn er hier ist, schleiche ich quasi durch mein eigenes Haus, wodurch er sich nicht sicherer zu fühlen scheint.

Ich fürchte immer mehr, dass die ganze Situation unsere Familie zerstört. Mein Mann schläft schlecht, und ich fühle mich als Stiefmutter gescheitert und habe eigentlich die Hoffnung aufgegeben, dass unser Verhältnis sich noch bessert. Was soll ich tun? Müssen wir weiterhin den halben Monat lang mit Bauchschmerzen verbringen?

Eine sehr unglückliche Stiefmutter


Antwort von Jesper Juul:

Ich habe mir erlaubt, Ihre Beschreibung ein wenig zu kürzen, obwohl sie so viele schöne Details enthält, und werde versuchen, mich bei meiner Antwort auf das Wesentliche zu konzentrieren. Ich stimme vollkommen mit Ihnen überein, dass ein 12-Jähriger weder die Familie noch ihre Stimmung lenken sollte und dass Sie und sein Vater etwas dagegen unternehmen müssen. Soweit ich sehe, geht es hier um einen Jungen, der durch die Scheidung seiner Eltern aus der Bahn geworfen wurde und noch nicht wieder in die richtige Spur zurückgefunden hat.

Seine beiden Familien haben ihr Bestes getan, doch hat es nie seinen Bedürfnissen entsprochen. Er ist niemals ein Teil seiner neuen Familie geworden, deshalb benimmt er sich auch nicht so.

Da die Pubertät vor der Tür steht, ist es nun wirklich fünf vor zwölf. Der folgende Rat, den ich Ihnen geben möchte, funktioniert in der Regel immer:

»Wenn Sie schon alles erfolglos versucht haben, probieren Sie es mit der Wahrheit!«

Die Wahrheit, der Sie und Ihr Mann sich stellen sollten, lautet: »Wir haben acht Jahre lang alles versucht, was wir konnten, damit du dich mit uns zusammen wohlfühlst. Doch jetzt sehen wir, dass uns das nicht gelungen ist. (Der letzte Satz ist der schwerste, aber auch der wichtigste. Er ist es, mit dem die Erwachsenen die Verantwortung übernehmen.) Wir haben es genauso schwer, wie du es offensichtlich auch hast. Deshalb brauchen wir deine Hilfe. Du musst uns erzählen, was wir falsch machen und wie wir es besser machen können.«

Mit diesen Worten geben Sie Ihrem Stiefsohn das Gefühl, dass Sie ihn endlich mitsamt seinen schwierigen Gefühlen wirklich ernst nehmen. Sie geben nicht länger ihm und seinem problematischen Verhalten die Schuld, dass Ihre Patchworkfamilie nicht reibungslos funktioniert, sondern erkennen Ihre Beteiligung am Entstehen der gesamten Situation an.

Am Anfang wird er nur kurze und nicht sonderlich intelligente Antworten geben, doch wenn Sie ihm zuhören, einfach nur zuhören, ohne zu argumentieren, wird er langsam auftauen und die richtigen Antworten finden. Denken Sie daran, dass er weiß, welche Grundsätze Sie haben, und dass jede Wiederholung der alten Ermahnungen den Kontakt zerstört. Seine 12-jährige Seele ist voller Schmerz und Verzweiflung, Gefühle, die bisher von keinem Erwachsenen gesehen und anerkannt wurden. Erst wenn das geschehen ist, kann er sich anpassen und Ihre Werte und Grenzen respektieren.

Vier Werte, die Kinder ein Leben lang tragen

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