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Das Dilemma einer Großmutter

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Nach dem Mittagessen am gestrigen Sonntag braucht meine Familie einen guten Rat von Ihnen. Ich bin Großmutter eines wunderbaren 3-jährigen Jungen, mit dem ich glücklicherweise viel Zeit verbringen darf. Gestern ist er mit seinen Eltern zu Besuch gekommen. Sein Vater, also mein Sohn, wurde von einer »sanften« Mutter und einem etwas strengeren Vater aufgezogen. Wir waren beide nicht besonders konsequent und oft verschiedener Meinung, was die Erziehung unseres Sohnes anging.

Mein Sohn und seine Partnerin hingegen sind beide gleich streng und stützen sich stets in dem, was der andere tut. In alltäglichen Fragen wie dem Essen und den Schlafenszeiten sind sie äußerst konsequent. Obwohl sie sehr jung sind, habe ich sie immer für großartige Eltern gehalten. Doch manchmal gehen sie mir mit ihrer ewigen Konsequenz ein bisschen zu weit, so wie gestern.

Während des Mittagessens wollte mein Enkel den Tisch verlassen, nachdem er mit seiner Portion fertig war. Daraufhin sagten seine Eltern, dass er keinen Nachtisch bekäme, wenn er jetzt aufstünde. Der Junge stand trotzdem auf und erntete noch ein paar Warnungen wie: »Wenn du dich nicht wieder hinsetzt, gibt es keinen Nachtisch!«, die jedoch nichts bewirkten. Als das Dessert auf den Tisch gestellt wurde, kam der Junge wie selbstverständlich an den Tisch zurück und wollte auch eine Portion haben. Aber seine Eltern weigerten sich, ihm etwas zu geben. Ich bekam Mitleid mit ihm, weil er zu weinen begann und ungeheuer traurig war.

Mein Sohn nahm dies zwar zur Kenntnis, meinte aber, der Junge müsse lernen, die Konsequenzen für sein Verhalten zu tragen. Ich entgegnete vorsichtig, dass er vielleicht noch ein wenig zu jung sei, um wirklich zu verstehen, was es mit Konsequenzen auf sich habe, aber die Eltern waren da anderer Meinung.

Mein Enkel hat den ganzen Vorfall dann ziemlich schnell vergessen, und als die kleine Familie später den Heimweg antrat, waren alle glücklich und zufrieden.

Wenn wir bei meinem Sohn zu Besuch sind, mische ich mich nicht ein, doch wenn wir bei uns sind, finde ich, dass die Regeln meines Sohnes nicht zu hundert Prozent gelten müssen. Der Junge wird schon verstehen, dass bei seinen Großeltern nicht alles so genau geregelt ist wie bei ihm zu Hause.

Jetzt weiß ich nicht recht, wie ich mich das nächste Mal verhalten soll. Wenn ich etwas sage, werden die Eltern das vielleicht als ungebetene Einmischung in ihre Erziehung betrachten und in Zukunft nicht mehr so oft zu Besuch kommen. Das wäre jedoch ganz schrecklich für mich, weil ich meinen wunderbaren Enkel so unglaublich lieb habe. Wenn ich mich jedoch nicht einmische, komme ich mir feige vor, weil ich den kleinen Jungen nicht »verteidige«.

Ich sollte hinzufügen, dass er sehr ausgeglichen, sanft und sozial ist, sich ohne zu protestieren ins Bett bringen lässt und keinerlei Schlafprobleme hat. Haben Sie einen Rat für mich?

Es grüßt Sie eine Großmutter, die Glück hatte


Antwort von Jesper Juul:

Das Problem, das Sie in Ihrem Brief beschreiben, ist nicht ungewöhnlich. Ich kann Ihnen natürlich keine Patentlösung anbieten, doch ich kann versuchen, ein paar Prinzipien zu beschreiben, die sich bezahlt machen. Lassen Sie mich mit dem Inhalt des letzten Konflikts beginnen. Die Eltern meinen, Ihr Enkelkind solle lernen, dass persönliche Entscheidungen Konsequenzen haben. Damit unterliegen sie einem gängigen Missverständnis – sie verwechseln Konsequenzen mit Strafe. Wenn man zum Beispiel bei Regen ohne Regenschirm auf die Straße geht, wird man nass. Das ist eine Folge oder Konsequenz. Wenn man sich trotz der Ermahnungen seiner Eltern in den Regen begibt und danach Zimmerarrest bekommt, ist das eine Strafe. Der Unterschied zwischen Strafe und Konsequenz ist ziemlich groß. Mögen die Konsequenzen unseres Verhaltens auch noch so unangenehm sein, so lassen sie uns doch nicht an unserem Wert als Mensch zweifeln. Strafen hingegen schon.

Wenn ein Kind zum Beispiel auf einen Stuhl klettern will, dies nicht schafft, auf den Boden fällt und sich wehtut, ist das eine Konsequenz seines Verhaltens. Dadurch lernt es, dass seine physischen Fähigkeiten begrenzt sind. Die Konsequenz – blaue Flecken oder eine Beule am Kopf – erhöht die Kompetenz des Kindes, indem es zum Beispiel beim nächsten Mal anders an die Sache herangehen wird. Muss sich das Kind jedoch, nachdem es sich wehgetan hat, von seinen Eltern anhören: »Du weißt genau, dass du nicht herumturnen sollst, warum kannst du denn nie hören, wenn man dir etwas sagt!«, dann wird es herabgesetzt und fühlt sich auch noch schuldig. Von Vater oder Mutter ausgeschimpft, belehrt oder kritisiert zu werden ist eine (überflüssige) Strafe, die die kindliche Fähigkeit mindert, aus den eigenen Erfahrungen zu lernen.

Das ist sogar wissenschaftlich belegt, denn die Hirnforschung hat vor wenigen Jahren nachgewiesen, dass negative Lernumstände die Verständnisund Erinnerungsfähigkeit des Gehirns reduzieren.

Die Eltern Ihres Enkelkinds senden extrem unklare Signale an ihren Sohn aus, indem sie es ihm scheinbar ermöglichen, sich gegen den Nachtisch zu entscheiden, obwohl er in Wirklichkeit einfach tun soll, was sie ihm sagen – sonst folgt die Strafe. So bleibt ihm nichts als die Verwirrung darüber, ob er sich tatsächlich entscheiden kann oder ob er nur gehorchen soll.

Hinzu kommt – worin Sie völlig recht haben –, dass er noch zu jung ist, um dieses Erlebnis auf eine Art und Weise zu begreifen und einzuordnen, die seine persönliche und soziale Kompetenz erhöht.

Ihr Unbehagen dieser Situation gegenüber hat also nicht nur sentimentale Ursachen, sondern ist eine natürliche Reaktion auf den unnötigen Kummer, der Ihrem Enkel zugefügt wird.

Ihr Sohn und Ihre Schwiegertochter sind davon überzeugt, dass es wichtig ist, konsequent zu sein. Also: »Wenn Papa Ja sagt, sagt Mama auch Ja«, und beide halten auch eine Stunde oder eine Woche später an diesem Ja fest. Doch ist es wirklich wichtig für Kinder, dass ihre Eltern auf diese Weise einig oder konsequent sind?

Die Antwort lautet Nein. Es ist wichtig, dass Eltern sich ihre Meinung nicht von Kindern, Schwiegermüttern oder Leitartikelschreibern diktieren lassen und willens sind, sich die nötige Zeit für Reflexion und Dialog oder andere Aktivitäten zu nehmen, die Eltern innere Sicherheit geben. Ihre Beschreibung der vielen Qualitäten Ihres Enkels deutet darauf hin, das Ihr Sohn und seine Frau ihrem Kind sehr viel mehr und Besseres anzubieten haben als dieses eingeübte Verhaltensmuster. Also hoffe ich, dass sie selbst eines Tages entdecken werden, was für einen prachtvollen Sohn sie haben.

Ohne etwas über Ihr Verhältnis zu Ihrem Sohn und Ihrer Schwiegertochter zu wissen, glaube ich, dass Sie in dieser Hinsicht auf die Vorzüge Ihres Alters, Ihrer Erfahrung und Flexibilität setzen können. Lehnen Sie sich also in Ruhe zurück und lassen Sie den Dingen ihren Lauf. Solange die Eltern das Kreuz ihrer eigenen Konsequenzgläubigkeit tragen wollen, sollten Sie sich meiner Meinung nach besser nicht einmischen.

Lassen Sie Ihr Enkelkind hingegen so oft wie möglich in den Genuss Ihrer Gelassenheit kommen, wenn die Eltern nicht anwesend sind.

Als Großvater kann ich gut verstehen, dass Sie emotional auf der Seite Ihres Enkels stehen. Da aber von einer Vernachlässigung der Fürsorgepflicht nicht im Entferntesten die Rede sein kann, möchte ich vorschlagen, dass Sie emotional Ihrem Sohn die Stange halten. Denken Sie nur an all die überschäumende Freude und spontanen Liebesbekundungen, die ihm entgehen, weil er so sehr damit beschäftigt ist, den Erzieher zu spielen. Er muss alles, was er wahrnimmt, erst durch seinen aufgesetzten pädagogischen Filter laufen lassen, und auf diese Weise schafft er zwischen sich und seinem Kind eine unnötige Distanz. Das ist traurig für ihn, und vielleicht gelingt es Ihnen ja, ein wenig von diesem Gedankengut in seinen viel beschäftigten Papa-Kopf hineinzuschmuggeln.

Anders ausgedrückt: Die Beziehung zu Ihrem Enkel ist vermutlich weitaus weniger erschütterbar als die Beziehung zu Ihrem eigenen Sohn und seiner Partnerin, und auch auf diese sollten Sie achtgeben. Ihr Enkel ist in keiner Weise in Gefahr, und sollte er Sie eines Tages vorwurfsvoll ansehen und fragen, warum Sie nicht eingegriffen haben, wenn seine Eltern kompromisslos und ungerecht waren, dann können Sie reinen Gewissens antworten:

»Weil mir die Beziehung zu deinem Vater so wichtig war, und weil ich wusste, dass du schon zurechtkommst.«

Vier Werte, die Kinder ein Leben lang tragen

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