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Die Eltern in der Defensive

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Vor einiger Zeit saß ich mit einer Journalistin der italienischen Zeitung La Repubblica in einem Restaurant in Mailand. Wir hatten soeben eine Pressekonferenz in der großen, schönen Buchhandlung Feltrinelli hinter uns gebracht, und nun war es an der Zeit, etwas zu essen und ein eingehendes Interview zu den Werten der Familie zu führen.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis eine kleine Familie hereinkam, bestehend aus Mutter, Vater, Großmutter und einem 3-jährigen Jungen, und sich am Nachbartisch niederließ. Im Folgenden entwickelte sich dort ein Drama in mehreren Akten, als hätte ich es in Auftrag gegeben, um die erste Frage der Journalistin zu beantworten. Sie lautete folgendermaßen: »Was ist der häufigste Fehler, den junge Eltern heutzutage in Europa machen?« Eine klassische Journalistenfrage, die natürlich unmöglich zu beantworten ist. Deshalb war mir die Familie am Nebentisch eine große Hilfe.

Das Ganze beginnt damit, dass die Eltern den jungen Mann im chor fragen, wo er sitzen wolle. Er entscheidet sich für den Platz neben seiner Mutter, beginnt aber schon bald in einem disharmonischen Tonfall zu jammern und zu klagen. Der Vater versucht, seinen Sohn mit großen Gebärden und lustigen Grimassen aufzuheitern, und zaubert schließlich ein kleines Päckchen aus seiner Jackentasche hervor. »Na, was ist das wohl?«, fragt er seinen Sohn, der statt zu antworten vom Stuhl hüpft und ihm das Päckchen aus der Hand reißt. Da er Probleme hat, den Gegenstand vom Geschenkpapier zu befreien, werden seine Klagelaute immer schriller. Der Vater bietet seine Hilfe an, wird jedoch abgewiesen, und auf einmal hört sich der Junge so an, als sei er mit etwas Hartem geschlagen worden.

Der Inhalt des Päckchens erweist sich als kleines elektronisches Spiel, das die Eltern in der Hoffnung auf ein ruhiges Mittagessen gekauft haben. Der Vater erklärt seinem Sohn, er müsse zunächst die Batterien einsetzen, damit das Spielzeug funktioniert, aber der Junge will davon nichts wissen, sondern beklagt sich lautstark darüber, dass das Gerät nicht funktioniert. So vergehen die ersten zwanzig Minuten, in denen der Kellner ein ums andere Mal gebeten wird zu warten, weil bisher keiner die Zeit gefunden hat, sich mit der Speisekarte zu beschäftigen. Alle Erwachsenen sehen den Jungen eindringlich an und reden auf ihn ein, um ihn zur Ruhe zu bringen.

Endlich setzt sich der Junge auf den Schoß seines Vaters und will sich das Spiel beibringen lassen, lässt seiner Frustration aber immer wieder freien Lauf. Ehe die Erwachsenen sich entscheiden können, was sie essen wollen, versuchen sie aus dem Jungen herauszubekommen, was er essen möchte – ohne Erfolg. Sie unterbreiten ihm verschiedene Vorschläge, die allesamt abgelehnt werden. Schließlich scheint es der Mutter zu gelingen, ihren Sohn davon zu überzeugen, dass er ein großer Liebhaber von »Gnocchi mit Tomatensauce« ist.

Als das Essen auf den Tisch gestellt wird, greift der Vater sofort zur Gabel seines Sohnes und versucht, ihm ein paar Gnocchi in den Mund zu schieben. Der Junge heult auf, weil das Essen zu heiß ist, worauf die beiden Frauen auf der anderen Seite des Tisches den Vater mit Ratschlägen und Vorwürfen überhäufen. Mit der Stimmung steht es nicht zum Besten, doch gelingt es allen Erwachsenen, die leicht erstarrten »kinderfreundlichen« Mienen beizubehalten, während ihre Körper sich dem kleinen Goldschatz wohlwollend entgegenneigen. Die Erwachsenen haben inzwischen ihr eigenes Essen in Angriff genommen, doch ihre gesamte Aufmerksamkeit wird von der Frage beansprucht, was der Junge denn nun essen will, da er seine Gnocchi verschmäht. Er lehnt jeden Vorschlag ab, und erneut scheint es so zu sein, als habe er ein stillschweigendes Abkommen mit seiner Mutter geschlossen – diesmal soll es Pizza sein. Als die Pizza kommt, will er sie nicht essen. Mutter und Großmutter greifen zu einem alten Trick, probieren ein Stück von der Pizza und übertreffen sich mit Lobeshymnen, wie fantastisch sie schmecke. Auch das hilft nicht.

Doch immerhin verschafft der Junge seiner Familie eine kurze Atempause, da er plötzlich einen Hund entdeckt hat, der zu einem anderen Tisch gehört. Zum Luftholen kommen seine Familienangehörigen trotzdem nicht, weil sich all ihre Aufmerksamkeit nun auf den Jungen und den Hund richtet, während das Essen mechanisch in ihren Mund wandert und der Vater Wein trinkt, als wäre es Wasser.

Nachdem er an den Tisch zurückgekehrt ist, erklärt der Junge, er sei hungrig, wolle aber keine Pizza. Die anschließenden langwierigen Verhandlungen enden damit, dass er den Vorschlag seiner Großmutter – eine Portion Schokoladeneis – annimmt. Sein Vater scheint nicht gerade begeistert von diesem Vorschlag zu sein, enthält sich aber eines Kommentars und bestellt sich einen Grappa.

Schließlich serviert der Kellner das Eis mit großer Geste und ironischem Lächeln. Die Mutter beugt sich über den Tisch, bemächtigt sich des Eislöffels und füttert ihren Sohn. Der spuckt das Eis umgehend auf die Tischdecke und beklagt sich lauthals, dass keine Nüsse im Eis seien. Daraufhin isst die Mutter das Eis auf, der Vater trinkt noch einen Grappa und bezahlt die Rechnung.

Dies ist eine Szene von der Art, die Psychologen veranlasst, moralisierende Bestseller über »Kleine Tyrannen« zu schreiben.

Nachdem die Familie das Lokal verlassen hatte, sah mich die Journalistin mit blanken Augen an und sagte, sie habe gerade ihre eigene Familie von außen betrachtet. Sie war erschüttert, und wir haben die nächste halbe Stunde unseres Gesprächs dazu verwendet, den gesamten Verlauf noch einmal durchzugehen und die alternativen Möglichkeiten der Eltern zu skizzieren.

Sie sagte, sie und ihr Mann (die drei Kinder haben) gehörten einer Elterngeneration an, die ich als Neoromantiker bezeichne. Sie gehen voll und ganz im »Projekt Kind« auf und wollen nur eins: eine glückliche und harmonische Familie.

Sie haben durchaus die richtigen Bücher gelesen, jedoch die Kapitel über unumgängliche und notwendige Konflikte ausgelassen. Sie verwenden – wie die Mailänder Familie – all ihre Energie, Kreativität und Liebe darauf, Konflikten und Frustrationen aus dem Weg zu gehen. Es besteht für Eltern jedoch gar kein Grund, die Frustration ihres Kindes, die natürlicherweise bei einem »Nein« erfolgt, persönlich zu nehmen oder sie als Zeichen ihres Versagens aufzufassen. Trauer, Enttäuschung, Wut – das sind völlig normale und wichtige Emotionen, die zu empfinden dem Kind überhaupt nicht schaden, die es im Gegenteil reifen lassen, sofern es von den Eltern deshalb nicht kritisiert oder lächerlich gemacht wird.

Die defensive Haltung, bei der alles darum geht, vorzubeugen, zu verhindern und Konflikte aufzuhalten, entwickeln Eltern schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt. Sie versuchen ein positives Vorbild zu sein, indem sie allzeit gefasst und ruhig reagieren, aber wie sollen Kinder von ihnen so wichtige Eigenschaften wie Konfliktfähigkeit, Frustrationstoleranz oder Empathie lernen? Ihr ständiges Bemühen um Harmonie führt natürlich dazu, dass sie nichts als Disharmonie und Konflikte bekommen. Wenn ein Kind ständig schlecht gelaunt und in Machtkämpfe mit den Eltern verstrickt ist, versucht es nur sein Recht darauf zu erstreiten, traurig, ängstlich, wütend oder verzweifelt sein zu dürfen, ohne dass dies für seine Eltern ein Problem ist, weil sie es sich sofort wieder als ihr eigenes Versagen ankreiden.

Neoromantische Eltern haben sich in die Idee hineingesteigert, dass Kinder sehr viel Aufmerksamkeit brauchen, und geben ihnen doppelt so viel, wie diese tatsächlich benötigen. So bekommen ihre Kinder nie die Möglichkeit zu lernen, dass auch andere Menschen Bedürfnisse, Grenzen und Gefühle haben. Die Kinder müssen hierfür einen hohen Preis bezahlen, wenn sie mit anderen Menschen zusammen sind.

Was wie Verwöhnung aussieht, ist also im Grunde mangelnde Fürsorge.

Die Lösung des Problems hat nichts mit Kindererziehung zu tun. Man muss den Eltern nur klarmachen, dass Kinder die Führung der Erwachsenen brauchen und dass es vollkommen in Ordnung ist, dass auch deren Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse am Tisch einen Platz einnehmen.

Kinder brauchen dies so sehr, dass eine schlechte Führung immer noch besser ist als gar keine Führung. In der Mailänder Familie war offensichtlich der 3-jährige Junge der chef, was schädlich für alle Beteiligten ist. Die Realität, die diesem Umstand zugrunde liegt, ist sicher sehr komplex, und die Eltern bräuchten eine gründliche Anleitung, wie sie ihre Liebe und ihr Engagement so kanalisieren können, dass es zum Wohlergehen der gesamten Familie beiträgt.

Meiner Ansicht nach ist es wichtig, die neoromantischen Eltern nicht zu verurteilen oder gar zu verdammen. Denn die logische Folge wäre ein neues Ungleichgewicht in Gestalt einer neokonservativen Welle, in der wieder lautstark nach »Gehorsam und Disziplin« gerufen wird.

Derzeit sehen wir eine wachsende Gruppe von Eltern und Pädagogen, die angesichts solcher Episoden wie im Restaurant zu den überkommenen Rezepten von vorgestern greifen. Sie wollen an eine Zeit anknüpfen, in der die Erziehung zu gehorsamen Kindern führte, die sich später zu neurotischen Erwachsenen entwickelten.

Diese Tendenz ist sehr betrüblich, und ich hoffe, dass sie von allein wieder verschwindet, indem die Kinder die Erwachsenen mit ihrer eigenen Herrschsucht konfrontieren.

Vier Werte, die Kinder ein Leben lang tragen

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