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Eine weitere Frau, die »zu sehr liebt«

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Das bin ich: eine Frau, 36, geschieden, Single, drei tolle Kinder im Alter von 10, 8 und 4 Jahren, Lehrerin mit Vollzeitstelle.

Als mein Exmann und ich uns kennenlernten, war er 22 und ich 21 Jahre alt. Wir waren 14 Jahre zusammen.

Unsere Beziehung war fast in all den Jahren von einem mangelnden Respekt mir gegenüber geprägt. In den Zeiten, in denen ich es am meisten gebraucht hätte (während der Schwangerschaften und im Wochenbett), hat er nur wenig Liebe und Fürsorge gezeigt. Entwürdigender war es jedoch, dass die Kinder und ich bei ihm nie die erste Priorität hatten. Wenn ich krank im Bett lag, hatte er keine Lust, mir Medizin aus der Apotheke zu holen. Ganz zu schweigen von seinen geringschätzigen Blicken und seiner Art, mit mir zu reden.

Natürlich hatten wir auch viele schöne Erlebnisse zusammen, doch er dachte stets hauptsächlich an sich und seine Karriere. Er nahm es als Selbstverständlichkeit, dass seine Freunde, Interessen oder Feste jederzeit Vorrang hatten. Ich war ja sowieso zu Hause. Hingegen musste ich mit Engelszungen auf ihn einreden, wenn ich einmal etwas anderes vorhatte. Mein Nein wurde oft nicht gehört oder respektiert.

Er kontrollierte mich und hielt mich »am Boden«, indem er mich zum Beispiel ständig kritisierte. An allem, was ich tat, gab es etwas auszusetzen, an meiner Haushaltsführung, meiner Art, mit dem Geld umzugehen, an den hohen Stromkosten, dem großen Verbrauch von Toilettenpapier, dem Betragen der Kinder und so fort. Nach und nach habe ich alle eigenen Bedürfnisse unterdrückt, um die Kinder zu versorgen und Konflikte mit meinem Ehemann zu vermeiden.

Mein Mann war jahrelang in der freien Wirtschaft tätig, hat sehr viel gearbeitet und dabei viel Geld verdient. Nebenbei hat er auch noch unser Haus renoviert und ausgebaut. Im Nachhinein hat er gesagt, dies sei seine Art gewesen, uns seine Liebe zu zeigen.

Nach außen hin ist er eine finanzstarke, umgängliche, beliebte und allgemein anerkannte Person. Mein Fehler besteht sicherlich darin, dass ich mich all die Jahre unterdrücken ließ, obwohl ich stets versucht habe, meine Meinung zu sagen.

Vor ein paar Jahren kam es so weit, dass ich mich nicht mehr allen Anforderungen gewachsen fühlte, die an mich gestellt wurden, angefangen von den politischen Forderungen an uns Lehrer bis zu den Forderungen meines Mannes bei uns zu Hause. Ich verfiel in tiefe Depression und Angst. Von diesem Moment an wusste ich, dass ich nicht mehr mit meinem Mann zusammenleben konnte, doch hatte ich weder die Energie noch die Stärke, ihn zu verlassen.

Außerdem fühlte ich große Trauer, Verzweiflung und Scham und hatte ein schlechtes Gewissen den Kindern gegenüber, weil es mir nicht gelungen war, ihnen eine behütete Kindheit und ein Familienleben zu geben, wie ich es mit meinen verheirateten Eltern erlebt hatte. Ein ganzes Jahr lang war ich krankgeschrieben.

Vor einem Jahr brachte ich dann endlich die nötige Kraft auf, meinen Mann zu verlassen und in eine eigene Wohnung zu ziehen. Ich tat das nicht, weil ich einen anderen kennengelernt hätte, sondern weil ich einfach nicht mehr daran glauben konnte, dass unsere Beziehung sich jemals verbessert.

Ein Jahr zuvor hatten wir den Rat eines Familientherapeuten eingeholt. Das hatte zwar zu gewissen praktischen Änderungen geführt, was die Aufgabenverteilung zu Hause anging, doch wie sehr kann man sich schon tatsächlich gegenseitig verändern?

Als ich den entscheidenden Schritt machte, nahm mein Mann es sehr schwer und ließ sich krankschreiben. Das ganze letzte Jahr hindurch sind wir weiterhin regelmäßig zum Familientherapeuten gegangen. Jetzt brauche ich Ihren Rat, wie ich ein gutes Verhältnis zu meinen Kindern aufrechterhalten kann.

Mein Exmann hat mich aus unserem Haus herausgekauft und eine neue hübsche Freundin, die er den Kindern frühzeitig vorgestellt hat und die jetzt mit ihm und den Kindern zusammenwohnt. Sie scheint eine nette, kluge und reflektierte Frau zu sein, die ihre Rolle als Bonusmutter auf eine sichere Weise gut ausfüllt. Da sie selbst ein Scheidungskind war, hat sie großes Verständnis für eine Lebenssituation, in der die Kinder zu gleichen Teilen bei ihrer Mutter und bei ihrem Vater leben, wie das bei unseren Kindern der Fall ist. Die Kinder haben sie sehr gern. Sie sehen ja, dass es dem Vater wieder gut geht. Ich habe mehr Schwierigkeiten damit, dass mein Exmann auf einmal den »Superdad« herauskehrt und sich sehr um eine enge und gute Beziehung zu seinen Kindern bemüht.

Nach all den Jahren unserer Ehe ist es ein merkwürdiges Gefühl, beiseitegeschoben zu werden, obwohl es natürlich schön ist, dass er endlich Zeit für seine Kinder hat und ein guter Vater ist. Ein seltsames Gefühl, sie »verloren« zu haben, während er von seinen Kindern vergöttert wird. Die Kinder haben ja nur selten erlebt, dass wir uns lautstark gestritten haben. Sie haben gar nicht verstanden, warum ich ausgezogen bin. Meine Trauer, Tränen und Verzweiflung haben sie nicht mitbekommen, weil ich sie in all den Jahren vor ihnen versteckt habe. Er hingegen hat offen vor den Kindern geweint und ihnen seine Trauer gezeigt, nachdem ich ausgezogen war.

Nach unserer Trennung hat er sich geweigert, den Kindern ein differenziertes Bild unserer Ehe zu vermitteln. Anderen gegenüber gab er zu, dass er mich schlecht behandelt hat und dass er viele seiner Entscheidungen im Nachhinein bereut. Doch zu den Kindern sagt er davon kein Wort. Es scheint ihm sehr recht zu sein, vor ihnen als Opfer unserer Ehe und als ihr Held dazustehen. Ich habe den Kindern meine Sicht unserer Ehe ganz bewusst verschwiegen, um sie zu schützen, doch finde ich es äußerst schwierig, damit zu leben, dass sie weiterhin glauben werden, ich sei die Böse gewesen, die einfach abgehauen ist …

Ich finde, er sollte dieses Bild geraderücken, nicht ich.

Die Kinder und ich hatten bisher ein gutes Verhältnis. Doch ich spüre in letzter Zeit, dass vor allem meine 10-jährige Tochter nicht mehr so viel Vertrauen zu mir hat wie früher und sich nicht mehr mit den vagen Begründungen zufriedengibt, mit denen ich unsere Trennung erkläre. Daher frage ich mich, was man sagen kann und zu welchem Zeitpunkt man sich eventuell zu dem ganzen Vorgang äußern sollte.

Ich glaube nicht daran, dass es richtig ist, allen meine Geschichte zu erzählen, und ich will auch nicht über den Vater der Kinder herziehen, aber ein etwas differenzierteres Bild von dem, was geschehen ist, habe ich doch verdient. Was meinen Sie?

Dazu kommt noch, dass sich mein Exmann nicht an Verabredungen hält, die wir während der Familienberatung getroffen haben. Er behandelt mich so respektlos wie früher, indem er meine Wünsche und Anfragen ignoriert, und das wirkt sich dann auch auf die Kinder aus, wenn sie bei mir sind. Es fehlt beispielsweise immer etwas, wenn er sie zu mir bringt. Wenn ich mich dann nach den fehlenden Kleidungsstücken, Gegenständen, Geburtstagseinladungen etc. erkundigen will, ist er beim Training oder eben nicht erreichbar. Außerdem ändert er in den Ferien Verabredungen, wie es ihm gerade passt.

Darum fällt es mir äußerst schwer, über seinen Mangel an Respekt mir gegenüber einfach hinwegzusehen, zumal den Kindern, wenn sie bei mir sind, immer irgendetwas fehlt. Dass die drei ihn dann ganz automatisch in Schutz nehmen und alles »gar nicht so schlimm« finden, ärgert mich sehr – wobei ich mir Mühe gebe, mir meinen Ärger nicht anmerken zu lassen.

Ich möchte die Gespräche bei der Familienberatung beenden, weil er sich ja doch nicht an unsere Verabredungen hält. Außerdem habe ich es satt, dass er sich dort als Opfer aufführt. Ich habe allerdings Angst, dass er das später gegen mich verwenden wird und behauptet, dass ich nicht »alles für die Kinder tun« würde. Was meinen Sie? Hat es noch Sinn, die Gespräche fortzusetzen? Und muss ich damit leben, dass die Kinder glauben, ich hätte die Familie im Stich gelassen?

Eine sehr frustrierte Mutter


Antwort von Jesper Juul:

Danke für Ihre anschauliche Beschreibung, die ich mir ein wenig zu kürzen erlaubt habe. Wie ich sehe, haben Sie verstanden, dass zwei dazugehören, um die Art der Dynamik zu schaffen, die Ihre Beziehung geprägt hat. Darum werde ich mich in meiner Antwort nicht auf Ihren Exmann beziehen. Er lebt sein eigenes Leben – wie Sie und ich – so gut er kann und entrichtet unterwegs seinen Preis.

Ich möchte mich darauf beschränken, die Gedanken zu kommentieren, die Sie sich über sich selbst und Ihr Verhältnis zu Ihren Kindern machen. Gemeinsam mit Ihrem Exmann haben sie gelernt, sich wie ein Opfer zu benehmen. Sie haben Ihren Kindern über Jahre hinweg vorgelebt, dass es in Ordnung ist, dass man Ihre Grenzen und Bedürfnisse missachtet. Kinder brauchen jedoch Eltern, die ein gutes Rollenmodell abgeben, an dem sie sich orientieren können. Jungen brauchen dazu erfahrungsgemäß besonders ihre Väter und Mädchen ihre Mütter. Ab einem gewissen Alter, in das auch Ihre 10-Jährige passt, versuchen Töchter herauszufinden, ob und inwieweit sie ihren Müttern ähnlich sind. Darum ist Ihre Tochter natürlich auch diejenige, die am kritischsten ist und das wenigste Vertrauen hat. Sie steht zwischen einer Mutter, der es an Selbstrespekt fehlt, und einem Vater mit großem Ego, und verständlicherweise gerät sie in Zweifel, woher sie eigentlich die Stärke und Selbstsicherheit nehmen soll, die sie im Leben dringend nötig haben wird. Es ist also an der Zeit, dass Ihre Tochter ein neues weibliches Rollenmodell bekommt, statt des selbstverleugnenden Wesens, das sie bisher gekannt hat. Sonst laufen Sie Gefahr, dass sie den mangelnden Respekt ihres Vaters Ihnen gegenüber kopiert, schon allein deshalb, weil sie Ihnen auf gar keinen Fall ähnlich werden will.

Eine Ihrer Fehleinschätzungen besteht im übrigen darin, dass Sie sich dazu entschieden haben und offenbar an dieser Entscheidung festhalten, Ihre Kinder vor Ihren Gefühlen und Erlebnissen »schützen« zu wollen. Das ist sicherlich ein typisch mütterlicher Instinkt, der aber für niemand sonderlich konstruktiv ist. Ihre Kinder haben feine Antennen und spüren genau, dass Sie sich über Ihren Exmann ärgern. Doch statt das auszusprechen, sagen Sie etwas Harmloses oder gar nichts. Damit sind Sie nicht authentisch und verwirren besonders Ihre Älteste, die nie genau weiß, woran sie ist. Von sich selbst zu erzählen ist ja etwas anderes, als über den Exmann herzuziehen. Auf diese Art erfahren Ihre Kinder, »wer« Sie sind, und ich kann Ihnen versichern, dass sie sich genau danach sehnen.

Das ist zugleich der Schlüssel für Ihr zukünftiges Verhältnis zueinander.

Dasselbe gilt für Ihre Gespräche bei der Familienberatung. Sagen Sie die Wahrheit über sich selbst, ehe Sie die Gespräche eventuell einstellen. Verabschieden Sie sich von der Strategie, sich selbst treu bleiben zu wollen, und finden Sie sich nicht mit den Manipulationen Ihres Exmanns ab, was den Umgang mir Ihren Kindern angeht. Eine Zeit lang werden Sie sich vielleicht egoistisch vorkommen, doch angesichts Ihrer Geschichte sollten Sie dies als Zeichen betrachten, dass Sie auf dem richtigen Weg sind. Und wenn andere Sie so nennen – durchaus als Kompliment.

Ansonsten empfehle ich Ihnen das Buch Wenn Frauen zu sehr lieben von Robin Norwood (siehe Bücher >). Es hat Tausenden von Frauen dabei geholfen, mehr Selbstrespekt zu entwickeln.

Vier Werte, die Kinder ein Leben lang tragen

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