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2. No Satisfaction in der Waldbühne

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September 1965

Viele Fragen bewegten Mitte der 1960er Jahre die Menschen in Berlin: Werden die Russen als Erste auf dem Mond sein? Bleibt Hertha in der Bundesliga? Wann kommt das Farbfernsehen?

Die Frage, die Ricky jedoch mehr als alles andere interessierte, lautete: Wer ist besser, die Beatles oder die Rolling Stones?

An seiner Schule waren die Meinungen geteilt. Bei den Jungen hielten sich die Anhänger beider Bands in etwa die Waage. Die Mehrheit der Mädchen bevorzugte dagegen die Beatles. Ricky war natürlich für die Stones, obwohl er insgeheim auch die Musik der Beatles mochte. Jedoch ging es ja nicht nur um Musik, sondern auch um Haltung und Ausstrahlung. Da waren die Rolling Stones einfach kompromissloser. Die machten ihr Ding, egal was die Leute sagten, selbst wenn Presse und Öffentlichkeit sie für langhaarige Penner hielten. Diese rebellische ihr-könnt-mich-mal-Pose der Stones imponierte Ricky. Er spürte sie in Mick Jaggers Art zu singen, in seinen lässig dahingerotzten Phrasierungen.

Ihm gefiel auch, dass man das rebellische Potenzial der Stones selbst nutzen konnte. Er hatte es zu Hause bereits öfter nach einem Streit mit seinem Vater probiert. Er legte einfach eine ihrer Platten auf und drehte den Lautstärkeregler ein klein wenig höher als normal. Noch vor Ende des Stückes würde sein alter Herr mit hochrotem Kopf ins Zimmer stürmen:

»Mach sofort die Affenmusik aus! Wir sind doch nicht im Urwald! Früher hätte es so was nicht gegeben …und so weiter und so weiter

Das funktionierte wie auf Knopfdruck. Es bestätigte Ricky, dass er auf der richtigen Seite stand. Die Zukunft gehörte ihm: Time is on my side, yes it is!

Die Beatles hielt Ricky dagegen für zu harmlos und angepasst. Yesterday mit dem schauderhaften Violinenarrangement gefiel zum Beispiel sogar seiner Mutter. Gegen Paul McCartney als Schwiegersohn hätte sie vermutlich auch nichts einzuwenden. Das war ihm peinlich.

Neben Beatles- und Stones-Fans gab es an der Schule natürlich auch einige, denen Beatmusik völlig egal war. Die zuckten bei dem Thema nur mit der Schulter. Das waren meist Langweiler, die Ricky ignorierte. Die hörten entweder gar keine Musik oder nur Beethoven und Mozart. Mit Klassischer Musik konnte Ricky nichts anfangen. Sie war für ihn kalt und leblos, eben Musik von bereits begrabenen Toten für noch lebende Tote.

Problematischer lag der Fall bei Folkmusic. Eigentlich hielt Ricky auch davon nicht viel. In letzter Zeit verkniff er sich jedoch diesbezügliche hämische Bemerkungen, die ihm sonst immer leicht über die Lippen kamen. Er hatte es sich nämlich deshalb mit Babsi Schumann, seinem heimlichen Schwarm aus der Parallelklasse, verscherzt. In ihrer Gegenwart hatte er einmal abfällig von Schrammelmusik fürs Lagerfeuer gesprochen. Da hatte sie ihn angegiftet:

»Deine Rolling Stones schreien doch nur rum, haben aber nichts zu sagen. Die einzigen, die eine Botschaft haben, sind doch Sänger wie Bob Dylan, Donovan oder auch Joan Baez.«

Um sie wieder zu versöhnen, übte Ricky dann extra Blowin‘ in the Wind auf der Gitarre ein, aber es nutzte nichts mehr.

Rickys Identifikation mit den Stones hatte auch zur Folge, dass ein großer Teil des Repertoires der Beat Masters aus Coverversionen ihrer Stücke bestand. Die Beat Masters hatten sich inzwischen einen Namen in der Berliner Beatszene erspielt. Sie traten mehrmals im Monat bei Tanzveranstaltungen oder in Jugendclubs auf. Eine kleine Fanschar begleitete sie regelmäßig zu den Auftritten. Auch Bommi tauchte häufig auf und kam für ein paar Stücke mit seiner Blues Harp auf die Bühne.

Ricky wollte unbedingt den neuesten Hit der Rolling Stones ins Programm aufnehmen: I can’t get no Satisfaction. Die Platte war bisher nur in den USA erschienen. Dort hatte sie eingeschlagen wie eine Bombe. In Deutschland war der Song noch so gut wie unbekannt. Die Plattenfirma wollte ihn erst zur Tournee der Rolling Stones im September veröffentlichen.

Die geplante Deutschlandtournee war für Beatfreunde das Ereignis des Jahres. Auch nach Berlin sollten die Stones kommen. Ricky konnte sich noch genau an das Tourneeplakat erinnern, das er unvermittelt an einer Litfaßsäule prangen sah. Er hielt es zunächst für einen Scherz oder ein Missverständnis. Da stand:

heißer geht’s nicht mehr! Bravo präsentiert: einmaliges Sensationsgastspiel mit der härtesten Band der Welt: The Rolling Stones - ein Leckerbissen für alle Beatfreunde. Waldbühne - Mittwoch, 15. September 1965, 20.00 Uhr.

Sofort besorgte sich Ricky eine Eintrittskarte für acht Mark im Vorverkauf.

Ende August sollten die Beat Masters im Seeschlösschen, einem bekannten Tanzlokal in Hermsdorf, auftreten. Ricky hatte eine Idee.

»Es wäre doch toll, wenn wir dort als erste Berliner Band Satisfaction spielen würden, noch bevor der Song hier im RIAS läuft. Das wäre doch eine gute Reklame. Ich sehe schon die Überschrift in der B.Z.: Die Beat Masters sind Berlins Antwort auf die Rolling Stones

Die anderen Bandmitglieder waren schnell überzeugt. Was Ricky noch fehlte war der Text von Satisfaction. An Songtexte kam man nur schwer heran. Meist blieb nichts anderes übrig, als den Text selbst von der Platte oder einem Bandmitschnitt abzuhören. Ricky verbrachte in der kommenden Woche jedenfalls viel Zeit an seinem Tonbandgerät. Bereits mehrere Dutzend Male hatte er das Tape auf seinem Grundig TK14 zurückgespult, sich immer wieder einzelne Passagen angehört, aber er kam einfach nicht weiter. Mick Jaggers Aussprache war völlig anders als das Englisch, das Ricky in der Schule lernte. Außerdem hatte der Radiomitschnitt eine schlechte Qualität. Oft übertönte Hintergrundrauschen den Gesang. Das Einzige, was Ricky wirklich verstand, waren einzelne Wordfetzen wie car, radio oder information.

Ohnehin fand Ricky die Texte von Beatsongs eher unbedeutend. Eigentlich war es immer das Gleiche: Liebesfreud, Liebesleid, Liebeskummer. Wichtig waren beim Beat doch vor allem ein Rhythmus der in die Beine ging und ein Refrain, den man mitsingen konnte. Die englischen Originaltexte mit vernünftiger Aussprache hörte man bei kaum einer Berliner Amateurband. Das störte auch niemanden. Ricky füllte fehlende Textpassagen mit einem lautmalerisch angepassten Fantasie-Englisch. Nur der Refrain musste stimmten, denn den kannten die Leute. Der Inhalt der einzelnen Strophen interessierte dagegen wenig. Ricky sang bei den Beat Masters zum Beispiel Roll Over Beethoven. Da gab es lange Strophen, von denen Ricky, auch nach intensivem Abhören, höchstens die Hälfte verstanden hatte. Die fehlenden Passagen improvisierte er. Lediglich die letzten Silben jeder Zeile mussten beachtet werden, damit sich alles reimte, zum Beispiel D.J. - play oder today - say. Aus der Originalzeile Gonna write a little letter, gonna send it to my local D.J., wurde dann zum Beispiel gonne leitaliddl ledda gonne reidid mei lodl dijä. Das hatte fast etwas Dadaistisches, fand Ricky.

Erwartungsvoll präsentierten die Beat Masters Satisfaction als Höhepunkt ihres Auftritts im Seeschlösschen. Die Reaktion des Publikums enttäuschte sie jedoch. Es gab keinen Jubelsturm, sondern nur verhaltenen Beifall. Die meisten Gäste wollten eben Stücke hören, die sie bereits kannten, aber Satisfaction hatte in Berlin noch niemand gehört. Ein oberschlauer Fan hielt das Ganze sogar für einen Gag der Beat Masters.

»Das mit dem angeblichen Hit von den Stones ist doch frei erfunden, oder? Das Stück habt ihr euch doch selbst ausgedacht. Es hört sich jedenfalls so an. Meine Empfehlung wäre: Spielt lieber was Richtiges von den Stones.«


Es war nur noch eine Woche bis zum Konzert der Rolling Stones in der Waldbühne, da wurde Ricky auf dem Schulhof von Christian Kowalski, genannt Crazy Chris, aus der Parallelklasse angesprochen. Der spielte Rhythmusgitarre und sang bei The Rockets. Das war die andere Beatband an der Schule, die zu Rickys Leidwesen erfolgreicher war als die Beat Masters.

»Tag, Ricky, ich würde gerne was mit dir besprechen, aber nicht jetzt. Ich muss erst mal in den Physikraum. Hast du nach der Schule einen Augenblick Zeit?«

»Klar, Chris«, antwortete Ricky etwas verunsichert. Normalerweise gingen sich die beiden aus dem Weg. Man respektierte sich zwar, aber es gab eben auch eine Rivalität zwischen den Gruppen. »Ich habe nach der sechsten Stunde Schluss. Da können wir uns treffen.«

»Gut, ich warte vor dem Ausgang auf dich.«

Ricky fragte sich, was Crazy Chris von ihm wollte. Die Rockets und die Beat Masters - das war ein wenig wie Beatles und Rolling Stones. An der Schule war man entweder Fan der einen oder der anderen Band. Die Rockets waren jedoch eindeutig im Vorteil, denn sie hatten einen richtigen Manager. Der hatte es sogar geschafft, sie ins Vorprogramm der Rolling Stones in der Waldbühne zu bringen. Ricky würde lügen, wenn er behauptete, darauf nicht neidisch zu sein.

Als Ricky nach Schulschluss aus dem Tor kam, wartete Chris auf der anderen Straßenseite und rauchte eine Zigarette.

»Hallo, Chris, alles klar für eure große Show mit den Stones?«

»Deshalb wollte ich eigentlich mit dir reden. Der Auftritt ist eine tolle Sache und eine große Chance. Da wollen wir uns natürlich optimal präsentieren. Ingo, unser Sologitarrist, der immer die zweite Stimme singt, hat sich leider stark erkältet. Der kriegt kaum noch einen Ton raus. Gitarre spielen kann er noch. Er will auf keinen Fall den Auftritt verpassen, aber den Gesang bringt er nicht mehr. Ich wollte dich fragen, ob du uns in der Waldbühne gesanglich unterstützen könntest.«

Ricky war sofort Feuer und Flamme. Er versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen.

»Im Prinzip wäre das schon machbar«, sagte er betont lässig. »Was wollt ihr denn so spielen?«

»Auf jeden Fall Needles and Pins von den Searchers, das geht nur mit einer zweiten Stimme. Auch If I Fell von den Beatles haben wir im Programm. Das kannst du ohne zweiten Sänger auch vergessen. Bei den anderen Stücken müsstest du meist nur beim Refrain die Harmonien singen. Viel mehr gibt es eigentlich nicht zu tun. Ansonsten kannst du ab und zu Tamburin spielen. Der Auftritt soll sowieso nur 20 Minuten dauern, also Zeit für maximal sechs Stücke. Kohle gibt’s leider keine. Wir bekommen auch nichts. Aber du könntest die Rolling Stones aus der Nähe erleben.«

Das Geld war Ricky egal. Er hätte sogar noch draufgezahlt, um auf der gleichen Bühne wie Mick Jagger zu stehen. Noch am selben Abend kam Ricky in den Übungsraum der Rockets. Die Gesangsparts waren kein Problem für ihn und schnell einstudiert. Gegen Ende der Probe schaute noch der Manager der Band vorbei.

»Alles klar Jungs? Vergesst nicht, dass ihr am Mittwoch pünktlich um 16 Uhr zur Mikrofonprobe in der Waldbühne sein müsst. Steckt euch auch ein paar Stullen ein, denn Verpflegung gibt es nicht, und der Abend wird lang.«

In der Nacht vor dem Auftritt machte Ricky vor Aufregung kaum ein Auge zu. Am liebsten wäre er am nächsten Tag nicht zur Schule gegangen, aber vormittags schwänzen und abends vor tausenden Fans auf der Bühne stehen, das ging nicht. Um 15 Uhr traf er sich mit Crazy Chris und den Rockets. Sie fuhren gemeinsam im VW-Bus der Band zur Waldbühne. Dort war noch nichts los, keine Spur von den Rolling Stones.

»Die Stones landen erst um 17 Uhr in Tegel mit einer Maschine aus München«, sagte ein Mann vom Tourneemanagement. »Dann fahren sie noch zu einen Empfang im Springer Verlag. In die Waldbühne kommen sie bestimmt nicht vor 21 Uhr.«

Ricky war enttäuscht. Er hatte gehofft ein Autogramm zu bekommen, vielleicht sogar ein paar Worte mit Keith oder Mick zu wechseln. Die Mikrofonprobe dauerte nur zehn Minuten, den Rest der Zeit saß Ricky nur herum. Die Techniker schienen sich nicht besonders für den Sound der Vorgruppen zu interessieren. Vor allem nicht bei den beiden Berliner Amateurbands, die das Programm eröffnen sollten. Sie waren mehr damit beschäftigt, sich um die Anlage der Stones zu kümmern.

In der Abenddämmerung, ab 19 Uhr, begann sich das Halbrund der Waldbühne langsam zu füllen. Um 20 Uhr war die Arena mit mehr als 20 000 Menschen voll besetzt. Die Rockets sollten als erste Band spielen. Vom Wartebereich der Musiker führte ein Tunnel zur Bühne. Auf dem Weg dadurch bekam Ricky weiche Knie.

Einer der Polizisten, die herumstanden, rief ihm zu: »Na Jungs, dann spielt mal ‘nen schönen Walzer, so richtig zum Mitschunkeln!«

Die Bühne war hell erleuchtet. Die Zuschauerränge lagen dagegen vollkommen im Dunkeln. Ricky hatte den Eindruck einer bedrohlich brodelnden, schwarzen Wand gegenüberzustehen. Nur gelegentlich wurde der Nachthimmel durch einen Feuerwerkskörper erhellt, der irgendwo aus dem Publikum aufstieg. Der Lärm von den Tribünen machte eine Verständigung auf der Bühne fast unmöglich. Ein Conférencier eröffnete die Veranstaltung.

»Jetzt geht’s los, Leute. Bravo präsentiert die Rolling Stones. Erst haben wir aber ein paar Gruppen, die euch in Stimmung bringen. Als erste Band, für euch exklusiv, extra aus Charlottenburg angereist: The Rockets. Hoffentlich zündet die Rakete!«

Auf ein Zeichen des Drummers setzte die Band ein. Ricky hörte so gut wie nichts von seinem Gesang. Trotzdem ging der Auftritt gut über die Bühne. Es war jedoch keine gute Idee, einen Beatles-Song auf einem Stones Konzert zu präsentieren. If I fell wurde von Pfiffen und Schmährufen begleitet. Ein angebissener Apfel flog knapp an Rickys Kopf vorbei. Dann war der Auftritt jedoch schon vorbei. Kaum war der Schlussakkord des letzten Stückes verklungen, schob man die Verstärker zur Seite. Die nächste Band wartete bereits. Ricky war verschwitzt, aber erleichtert, dass er den Auftritt geschafft hatte.

Hinter der Bühne sah er das Schlagzeug mit der Aufschrift The Rolling Stones. Da entschied Ricky sich, nicht mit den anderen zurück zum Wartebereich zu gehen, sondern einfach im Rückraum der Bühne zu bleiben. Von hier hatte man einen guten Blick auf das Geschehen, wenn auch nur von hinten. Die folgenden Vorgruppen machten ihre Sache nicht besser oder schlechter als die Rockets. Ricky war froh, dass sie als erste gespielt hatten, denn das Publikum wurde immer ungeduldiger. Der letzten Vorband hörte niemand mehr zu.

Um 21.30 Uhr war es endlich so weit. Die Stones kamen auf die Bühne. Sie waren erst kurz vorher mit einer großen Mercedes Limousine eingetroffen. Ricky stand nur wenige Meter entfernt, als sie aus dem Zugangstunnel kamen. Mick und Keith unterhielten sich. Sie schienen keine besonders gute Laune zu haben. Brian Jones kam als Letzter. Er war nicht allein, sondern hielt eine blonde Frau im Arm. Bevor er zu den anderen ging, gab er ihr noch einen langen Kuss. Danach schritt er lächelnd, langsamen Schrittes, nach vorn und schnappte sich seine Gitarre. Noch einmal drehte er sich zu der blonden Schönheit um, die jetzt in Rickys Nähe stand. Später erfuhr er, dass es Anita Pallenberg war, eine Schauspielerin, die Brian Jones erst am Vorabend in München kennengelernt hatte. Ricky war beeindruckt von Brian. Der stand lässig lächelnd im Scheinwerferlicht mit weißen Jeans, weißem Pulli und einer futuristischen Firebird Gitarre. Brian Jones war mit Abstand der coolste Typ, den Ricky je in seinem Leben gesehen hatte.

Dann legten die Stones los: Everybody needs somebody to love. Der Sound war natürlich besser als bei den Rockets, aber auch nicht überragend. Eigentlich hatte Ricky mehr erwartet. Die Stones wollten gerade in das zweite Stück übergehen, da stürmten jugendliche Fans die Bühne. Die Band hatte kaum noch Platz, sich zu bewegen. Mick sang noch ein paar Zeilen von Pain in my Heart, dann flüchtete er nach hinten. Auch die anderen Stones verließen die Bühne. Es folgte ein großes Pfeifkonzert. Ricky konnte sehen, wie Mick Jagger wild mit den Armen herumfuchtelte und auf Charlie Watts einredete. Er schien richtig sauer zu sein. Brian ging derweil zu seiner Anita, die ihn anstrahlte.

Der Ordnungsdienst konnte die anstürmenden Jugendlichen nicht mehr in Zaum halten. Da griff die Polizei ein und räumte die Bühne unter Schlagstockeinsatz. Fünf Minuten später setzten die Stones ihr Konzert ohne Kommentar fort. Spaß schien ihnen das Gastspiel jedoch nicht mehr zu machen. Nur Brian lächelte zufrieden und drehte sich öfter um. Nach einigen weiteren Stücken spielten die Stones schließlich ihre aktuellen Hits The Last Time und I can’t get no Satisfaction.

Auf Satisfaction war Ricky besonders gespannt. Als die Beat Masters das Stück eingeübt hatten, versuchten sie vergeblich so zu klingen wie das Original. Jetzt hörte Ricky, dass sich Satisfaction live gespielt auch bei den Stones ganz anders anhörte als auf der Platte. Dann folgte noch I’m Alright. Das war eigentlich kein richtiger Song, sondern nur ein Gitarrenriff mit zwei wechselnden Akkorden. Mick improvisierte über Textzeilen wie it's alright oder do you feel it. Solche Jams bauten die Rolling Stones gern in ihre Auftritte ein. An guten Tagen dauerte I’m Alright länger als fünf Minuten. Heute kam jedoch bei der Band keine Stimmung auf. Nach weniger als zwei Minuten beendeten sie den Vortrag und verschwanden von der Bühne.

Im Publikum herrschte Verwirrung. War das jetzt eine Pause? Kämen sie wenigstens noch mal für ein paar Zugaben zurück? Das konnte doch nicht alles gewesen sein. Die Show hatte kaum 25 Minuten gedauert. Aber es war alles. Die Rolling Stones kehrten nicht mehr zurück. Sie hatten die Arena bereits verlassen. Eine Stimme aus dem Lautsprecher verkündete schließlich:

»Bitte räumen Sie die Waldbühne, die Veranstaltung ist beendet!«

Viele Jugendliche drängten nun auf die Bühne. Ricky wollte zurück in den Tunnel, der zum Wartebereich führte. Dabei wurde er von einem Polizisten unsanft zur Seite gestoßen und an den Bühnenrand gedrängt.

»Hey, was soll denn das? Ich muss da rein!«, rief Ricky empört.

»Hau ab, du Gammler, sonst kannst du was erleben!«, entgegnete der Beamte und drohte mit seinem Gummiknüppel.

Es gab keine Chance, in den Tunnel zu gelangen. Ricky konnte die Waldbühne nur über den Zuschauerbereich verlassen. Plötzlich wurde das Bühnenlicht abgeschaltet. Nur wenige Laternen in den Gängen spendeten noch fahles Licht. Ricky war genervt und frustriert. Damit war er offensichtlich nicht allein. Er sah, wie Sitzbänke aus der Verankerung gerissen und Laternen umgebogen wurden. Flaschen flogen nach vorne. Hinten zündete jemand einen Stapel Bravo-Hefte an, die wie Zunder brannten. Ricky wollte so schnell wie möglich weg, aber es gab kein Durchkommen. Die Ausgänge waren völlig verstopft. Er wich zur Seite aus, hier war es etwas ruhiger. Hinter sich vernahm er laute Knackgeräusche. Als er sich umdrehte, sah er, wie Jugendliche von oben auf die Eternitflächen der Sitzbänke sprangen, die sofort zerbarsten. Da sprach ihn jemand von der Seite an.

»Hey, Ricky, bist du gar nicht auf der Party der Rolling Stones? Ich hab‘ dich doch vorhin noch auf der Bühne bewundert.«

Ricky erkannte die Stimme sofort.

»Wo kommst du denn so plötzlich her, Bommi? Von wegen Party! Ich hab‘ nicht mal ein Autogramm von den Stones bekommen. Die sind gleich wieder weg.«

»Na, die richtige Party findet sowieso hier statt, wenn du mich fragst«, sagte Bommi mit breitem Grinsen.

Seit der Sache im Fuchsbau hatten sich Ricky und Bommi angefreundet, obwohl sie außer der Musik nicht viel verband. Nach neun Schuljahren hatte Bommi eine Lehre auf dem Bau angefangen, aber nach einem Jahr abgebrochen. Er ließ sich eben nicht gern rumkommandieren. Eigentlich war er ein umgänglicher Typ, aber wenn jemand ihn wegen seiner langen Haare oder seiner Jeansjacke blöd anmachte, dann langte er auch mal hin. Um etwas zu verdienen, machte er ab und zu einen Gelegenheitsjob. Die meiste Zeit verbrachte er jedoch mit seinen Kumpels auf den Stufen der Gedächniskirche, hörte Musik aus dem Kofferradio und las Abenteuerromane.

»Ich hab‘ mir mehr von den Stones versprochen als diese müde Kurzvorstellung«, sagte Bommi. »Mick Jagger hat ja nicht mal Mundharmonika gespielt. Weiter hinten hast du kaum noch vernünftig gehört, nur Scheppern und Wummern. Da hört sich ja das Knacken der Bänke besser an.« Daraufhin sprang er wieder auf eine Eternitfläche, die sofort nachgab.

»Ja, ich kann schon verstehen, dass du sauer bist, und für dein Eintrittsgeld mehr erwartet hast«, entgegnete Ricky.

»Klar habe ich mehr erwartet, aber mit Geld hat das nichts zu tun. Du glaubst doch nicht, dass ich bezahlt habe. Wir haben uns vor dem Eingang verabredet, vielleicht hundert Mann, viele aus dem Märkischen Viertel. Wir haben einfach die Ordner zur Seite geschoben und sind ohne Kontrolle reinspaziert. Die haben genug verdient. Die Bude war doch voll. Jetzt wollen wir noch etwas Spaß haben.« Dabei sprang er wieder auf eine Bank. »Die Scheißbullen denken wohl, sie können sich alles erlauben. Hast du gesehen, wie sie auf die Leute eingedroschen haben? Aber hierher ins Dunkel trauen sie sich nicht. Die fühlen sich nur stark, wenn sie in der Überzahl sind.«

Dann ging die Bühnenbeleuchtung wieder an. Eine Hundertschaft Polizei mit gezogenen Gummiknüppeln kam zum Vorschein.

»Wir sollten jetzt besser abhauen, bevor es ungemütlich wird«, bemerkte Bommi daraufhin.

Inzwischen waren die Ausgänge wieder frei. Die meisten Zuschauer befanden sich bereits auf dem Heimweg. Ricky schloss sich Bommi und seinen Freunden an. Ohne Probleme verließen sie das Gelände in Richtung S-Bahn. Es wurde wenig gesprochen. Nur als ein Funkwagen langsam an ihnen vorbeifuhr, rief Bommi:

»Riecht ihr nichts? Es muffelt hier plötzlich so nach Rindfleisch!«

Die Ansage löste allgemeines Gelächter aus. Einer aus der Gruppe ergänzte: »Wie macht der Bulle?« Er lieferte die Antwort gleich mit: »Muh, macht der Bulle!«

Am S-Bahnhof war es jedoch mit der Ruhe vorbei. Offensichtlich war seit längerem kein Zug mehr gekommen. Die Leute drängelten sich auf dem Bahnsteig. Die Stimmung unter den Wartenden war gereizt. Als endlich eine S-Bahn einfuhr und die Türen sich nicht sofort öffneten, traten einige Hitzköpfe gleich dagegen. Ricky und Bommi drängelten sich in einen Wagon. Kaum war der Zug abgefahren, rief jemand ‚ich brauche Frischluft‘ und schleuderte seine Bierflasche gegen die Scheibe. Das war der Auftakt. Bald war keine Scheibe mehr ganz. Ricky wurde angst und bange. Dann ging ein Deckenlicht zu Bruch und Glasscherben regneten herunter. Im Halbdunkel sah Ricky nicht mehr, wo Bommi war. Es war ihm auch egal. Er wollte nur noch raus. Eigentlich hatte Ricky noch ein paar Stationen zu fahren, aber lieber würde er zu Fuß gehen. Während der Zug in den nächsten Bahnhof einfuhr, kämpfte er sich zur Tür durch. Er zwängte sich nach draußen und stolperte auf den Bahnsteig. Schnell machte er, dass er wegkam. Als er auf die Straße gelangte, war die S-Bahn immer noch nicht weitergefahren. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich eine Bushaltestelle. Er hatte Glück. Es kam gerade ein Doppelstockbus, der zum Stuttgarter Platz fuhr. Von dort konnte er bequem nach Hause laufen.

Nachts ließ Ricky den Abend noch einmal Revue passieren: Micks schlechte Laune, die grüblerische Miene von Keith, Brians Lächeln und die Blondine an seiner Seite. Brian schien sich mehr für seine Freundin als für die Show in der Waldbühne zu interessieren. Vielleicht hing das ja alles irgendwie zusammen. Mit diesem Gedanken schlief er schließlich ein.

Erst Jahre später erfuhr er mehr. Die Rolling Stones hatten die Schauspielerin Anita Pallenberg am Vorabend auf einer After-Show-Party in München kennengelernt. Sowohl Mick als auch Keith hatten sich um sie bemüht. Sie entschied sich jedoch für Brian und wurde schließlich seine ständige Begleiterin. Brian hielt sich für den wichtigsten Mann der Stones, schließlich hatte er die Band gegründet. In letzter Zeit war er jedoch von Mick und Keith musikalisch immer mehr an den Rand gedrängt worden. Sie waren es, die die großen Hits der Band, wie The Last Time und Satisfaction, geschrieben hatten. Sie bestimmten in zunehmendem Maße die musikalische Richtung. In Anitas Zuneigung fand Brian die Bestätigung, dass er immer noch der glamouröseste Typ in der Band war. Beim Auftritt genoss er offensichtlich seinen Triumph. Ricky meinte sich aber zu erinnern, dass Mick bei Time is on my Side öfter zu Brian geschaut hatte. Er ahnte wohl, dass die Zeit für ihn arbeitete.

Wenige Jahre nach dem Waldbühnenauftritt war Mick Jagger der Boss der Rolling Stones. Anita Pallenberg war mit Keith Richards liiert und Brian Jones war tot.

Am Tag nach dem Konzert musste Ricky natürlich jedem von seinem Auftritt mit den Rolling Stones berichten. Er merkte dabei, wie sich die Ereignisse des vorangegangen Abends mit jeder Wiederholung mehr und mehr verklärten. Wenn alle Leute es toll fanden, dass er mit den Stones auf einer Bühne gestanden hatte, dann war es vermutlich auch so, selbst wenn er den Abend eigentlich anders erlebt hatte.

Vor der letzten Unterrichtsstunde sprach ihn dann noch Babsi Schumann an.

»Ich habe dich gestern in der Waldbühne gesehen«, sagte sie lächelnd. »Hatte eine Eintrittskarte geschenkt bekommen. Viel habe ich ja nicht von dir gehört, aber ich fand dich nicht schlecht. Was du an den Rolling Stones findest, weiß ich immer noch nicht. Ich fand sie langweilig und bin schon vor dem Ende gegangen. Sag‘ mal Ricky, was ich dich fragen wollte. Kannst du mir nicht zeigen, wie man Blowin‘ in the Wind spielt? Du kennst doch die Akkorde. Ich habe zum Geburtstag nämlich eine Gitarre geschenkt bekommen.«

»Klar, mache ich gerne«, antwortete Ricky und versuchte dabei lässig zu wirken. »Wann passt es dir denn?«

»Willst du vielleicht morgen Nachmittag zum Kaffeetrinken zu mir kommen?«

Abschied von der Wielandstraße

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