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3. Jules und Jim und Sylvie und Albert

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Oktober 1966

Es war Freitagabend kurz vor 6 Uhr. Albert hatte endlich sein Referat für das Hauptseminar in Makroökonomie fertiggestellt. Das Abtippen des Textes auf Matrizen war die letzte, aber auch lästigste, Aufgabe bei jeder schriftlichen Ausarbeitung. Auf einer Matrize mit Durchschlag ließen sich keine Fehler korrigieren. Einmal vertippt war für immer vertippt. Bei kleineren Patzern durfte man das fehlerhafte Wort mit ‚XXX‘ überschreiben. Das akzeptierte der Professor noch. Größere Aussetzer erforderten jedoch das Neuschreiben der ganzen Seite. Zum Glück hatte ihm seine Mutter geholfen, die als Büroangestellte im Maschineschreiben versiert war. Alberts Ausarbeitung umfasste immerhin 20 Seiten. Ohne Hilfe hätte er das ganze Wochenende an dem Text gesessen. Wohl dem Studenten, der eine Mutter oder Freundin hat, die Maschineschreiben kann, dachte Albert, als er die fertigen Matrizen in einem Aktendeckel verstaute. Er nahm sich vor, gleich morgen eine Schachtel Katzenzungen als Dankeschön für seine Mutter zu besorgen.

Was jetzt noch zu tun war, konnte er am Montag im Institut erledigen: Kopien des Referats anfertigen mit der Nudelmaschine. So nannte man den Spiritusdrucker, in den die Matrizen zur Vervielfältigung eingelegt wurden. Morgens vor der ersten Vorlesung war noch kein großer Andrang am Hektographen. Man musste die Matrize auf eine Trommel spannen und dann kurbeln. Bei jeder Umdrehung spuckte die Maschine ein blassblau bedrucktes Blatt aus, das penetrant nach Spiritus roch. Wenn man genügend Kopien für die Seminarteilnehmer gezogen hatte, spannte man die nächste Matrize auf die Walze. Albert hasste den Geruch in der fensterlosen Hektographenkammer. Ihm wurde immer übel davon.

Jetzt hatte er erst mal ein unbeschwertes, arbeitsfreies Wochenende vor sich. Er verspürte Lust, abends noch etwas zu unternehmen. Um sich mit einem Freund zu verabreden, war es jedoch bereits zu spät. Da fiel ihm ein, dass im Centre Culturel Français der Film Jules und Jim gezeigt wurde. Den hatte er zwar schon gesehen, im Kulturzentrum lief er jedoch im französischen Original mit deutschen Untertiteln. Allein die sonore Stimme von Jeanne Moreau, die die weibliche Hautrolle in der Dreiecksgeschichte spielte, war ihm den Weg von Charlottenburg zur Müllerstraße im Wedding wert. Ein Pluspunkt von Kulturveranstaltungen mit französischen Themen war, dass man immer mit einem Frauenüberschuss im Publikum rechnen konnte - mindestens zwei zu eins. Hier bot sich häufig die Gelegenheit, jemanden kennenzulernen. Bei solchen Anlässen bedauerte es Albert manchmal, Nichtraucher zu sein. Eine Zigarette lässig im Mundwinkel platziert, wie er es bei Belmondo in Außer Atem gesehen hatte, das hätte bestimmt Eindruck gemacht. Zumindest trug er immer ein Feuerzeug bei sich, um Damen bei Bedarf Feuer anzubieten.

Der Kinosaal war gut gefüllt, als Albert kurz vor Vorstellungsbeginn eintraf. Ein kurzer Rundblick bestätigte ihm, dass seine zwei-zu-eins-Regel auch heute zutraf. Obwohl Alberts Sprachkenntnisse ganz passabel waren, er hatte sein Schulfranzösisch immerhin mit einem Sommersprachkurs in Savoyen aufgepeppt, fand er die deutschen Untertitel des Films hilfreich. Andererseits kannte er die Handlung ja bereits. Die Dialoge erschienen ihm auch weniger interessant als die Atmosphäre der Leichtigkeit, die der Film trotz des tragischen Endes ausstrahlte. Bei den Filmvorführungen im Centre Culturel gefiel Albert auch, dass man danach etwas trinken und über den Film reden konnte.

Noch ganz gebannt von Jeanne Moreaus Charme, ging er nach der Vorstellung zur Bar, um sich einen Rotwein zu bestellen. Vor ihm stand eine junge Frau mit halblangen, blonden Haaren, die unschlüssig auf das Getränkeangebot schaute. Als sie Albert hinter sich bemerkte, sagte sie lächelnd, während sie den Kopf wendete:

»Allez-y, Monsieur, ich weiß noch nicht, was ich trinken will.«

Das Deutsch der Blondine war fehlerfrei. Erst bei genauerem Hinhören bemerkte man einen kleinen Akzent, der verriet, dass es nicht ihre Muttersprache war. Albert war von der Stimme sehr angetan. Die junge Frau gefiel ihm, auch wenn er sie nicht für eine überragende Schönheit hielt. Auf einer Skala von eins bis zehn war sie vielleicht eine Sieben. Eine Zehn - das waren unerreichbare Schönheiten wie Catherine Deneuve, Claudia Cardinale oder auch Marianne Niemann aus seinem Uni-Seminar. Die schöne Marianne, die von allen Kommilitonen umschwärmt wurde.

Dass er die junge Unbekannte, die ihm den Vortritt an der Bar ließ, zwar durchaus attraktiv, aber nicht überwältigend schön fand, hatte den Vorteil, dass nicht jene Nervosität aufkam, die ihn regelmäßig in Gegenwart makelloser Schönheit überfiel. Im Gespräch mit der schönen Marianne fielen ihm meist nur Banalitäten ein, die er stammelnd hervorbrachte. Der unbekannten Blondine empfahl er dagegen jovial:

»Also ich nehme immer den Rotwein, französischen Rotwein. Der ist gut, schmeckt richtig süffig«.

»Was ist es denn für ein Rotwein? Ich meine, woher kommt er?«

»Na, aus Frankreich, habe ich doch gesagt.«

Die junge Frau verdrehte die Augen. »Mais de quelle région? Aus welcher Gegend kommt denn der Wein?«

»Keine Ahnung, ist das nicht egal? Hauptsache er ist aus Frankreich und schmeckt nach Urlaub.«

Die Blondine schaute zweifelnd. Konnte jemand, der offensichtlich eine gewisse Bildung hatte und sich sogar französische Filme ansah, wirklich so ignorant sein? Zumindest bestätigte es ihre kulinarischen Erfahrungen der letzten Wochen: In Berlin gab es zwar viel Kultur in Museen und Theatern, aber keine Ess- und Trinkkultur.

»Ich glaube, ich nehme dann doch lieber eine Coca Cola«, erklärte sie resignierend.

»Warten Sie, ich bringe Ihnen eine mit«, bot Albert an. »Darf es einfach eine Cola sein oder möchten Sie wissen, aus welcher Gegend sie stammt und ob sie im Holzfass gelagert wurde?«

»Très drôle, sehr witzig«, entgegnete die Frau mit leichtem Grinsen. Der Kerl verstand zwar offensichtlich nichts von Wein, schien aber immerhin einen gewissen Sinn für Humor zu haben. Außerdem fand sie, dass er ganz passabel aussah. »Das ist eben der Unterschied, Monsieur. Bei Wein möchte ich schon Genaueres wissen. Ich stamme eben aus einer Weingegend. Bei Cola und Berliner Bouletten finde ich es dagegen besser nicht zu viel zu fragen, sonst vergeht einem am Ende noch der Appetit.«

Albert bestellte die Getränke an der Bar und erkundigte sich beim Barmann nach der Herkunft des Weins. Als Antwort bekam er nur ein kurzes: »Vin de Pays, Landwein.«

»Eigentlich kann man mit der braunen Brause ja nicht anstoßen«, sagte Albert, während er seiner neuen Bekannten die Coca Cola reichte. »Aber, was soll’s. Ich bin Albert, Albert Bergmann aus Charlottenburg.«

»Enchantée, ich heiße Sylvie Ginglinger und komme aus Alsace, also dem Elsass.«

»Ach, dann sind Sie ja eine halbe Deutsche! Deshalb sprechen Sie unsere Sprache so gut.«

Sylvie rümpfte die Nase.

»Von den Deutschen vereinnahmt zu werden, das mögen wir Elsässer überhaupt nicht. Wir haben da schlechte Erfahrungen gemacht. Sie werden bei uns kaum jemanden finden, der für einen Deutschen gehalten werden möchte. Nicht einmal meine Großmutter, die Goethe über alles liebt und den halben Faust auswendig kann.«

»Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich will Sie nicht heim ins Reich holen. Aber historisch und kulturell ist das Elsass doch sehr deutsch geprägt, meinen Sie nicht?«

»Ihr Deutsche landet immer schnell bei Blut und Boden. Für uns geht es weniger darum, wo man herkommt, sondern darum, wo man hin will. Wichtig ist doch, welcher Nation man sich zugehörig fühlt. Wir sind Français de Coeur, unser Herz ist französisch. Seit der Revolution identifizieren wir uns mit Frankreich.«

Albert überlegte, was er über das Elsass wusste.

»Ich habe mal einen guten Wein aus dem Elsass getrunken, eine Spezialität, den Edelzwicker. War zwar etwas säuerlich, aber sonst nicht schlecht.«

»Ein Edelzwicker ist nun wirklich keine Elsässer Spezialität, sondern Resteverwertung. Manchmal kann er ganz gut schmecken. Das ist aber Glückssache. Mein Großvater war Winzer. Den guten Wein hat er in Flaschen gefüllt, unterschieden nach Rebsorten, also Silvaner, Riesling oder Gewürztraminer. Diese Flaschen hat er dann unter seinem Namen verkauft. Der Rest der Ernte ging an einen Großhändler. Der kam mit seinem Tankwagen. Da füllte er alle Reste ein. Die hat er dann in Flaschen abgefüllt, bunte Etiketten mit Störchen und Elsässer-Mädchen draufgeklebt und nach Deutschland als Edelzwicker verkauft. Mein Großvater sagte dazu immer: ‚Assez-bien pour les Bosch! Gut genug für die Deutschen.‘«

»Das ist nicht sehr freundlich ausgedrückt. Wir sind beim Essen und Trinken eben nicht so anspruchsvoll wie ihr. Wieso sind Sie eigentlich nach Berlin gekommen, wenn Sie in Frankreich alles besser finden?«

Sylvie dachte, das frage ich mich manchmal auch. Sie wollte Albert jedoch nicht verschrecken. Deshalb antwortete sie diplomatisch:

»Nein, nein. Es gibt vieles, was mir in Deutschland gefällt, zum Beispiel die Musik oder die Literatur. Vieles funktioniert hier auch besser als in Frankreich. Wegen des guten Essens bin ich allerdings nicht hier, obwohl ich Berliner Weiße mit Schuss gerne trinke. Ich studiere Germanistik. Im Augenblick bin ich nur kurz in Berlin, um mir ein Zimmer zu suchen. Im Januar komme ich dann für ein Jahr als Austauschstudentin an die Freie Universität.«

»Mein Lieblingsschriftsteller ist ein Franzose, Albert Camus. Irgendwann möchte ich ihn auch mal im Original lesen. Den ganzen französischen Existentialismus finde ich toll: Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt. Das Leben hat nur den Sinn, den man ihm selbst gibt und so weiter.«

»Für den Existentialismus interessiert sich in Frankreich wirklich niemand mehr, außer ein paar Ketterauchern im Rollkragenpullover«, bemerkte Sylvie beiläufig, während sie eine Packung Gauloise aus der Handtasche hervorkramte. Das gab Albert Gelegenheit, ihr Feuer anzubieten. »Die Fähigkeit des Menschen, sich wirklich frei zu entscheiden, wird von den Existentialisten überschätzt. Heute ist der Strukturalismus in Mode.«

»Ja, ich habe schon mal vom Strukturalismus gehört«, antwortete Albert nachdenklich. »Du denkst, dass du frei bist, aber alles, was du tust, ist doch von der Gesellschaft eingetrichtert und von Ritualen gesteuert. Vielleicht ist da ja etwas dran, trotzdem gefällt mir die Idee nicht. Es erinnert mich zu sehr an einen Film, den ich mal gesehen habe. Da sind Menschen von Außerirdischen ausgetauscht worden. Die Replikanten sahen genauso aus wie die Originale, waren aber völlig willenlose Roboter. Eigentlich ist der Strukturalismus eine sehr bequeme Lebenseinstellung. Schuld an dem, was mir misslingt, sind immer andere, irgendwelche dunklen Mächte, die an den Strippen ziehen. Ich selbst trage keine Verantwortung. Wenn beispielsweise ein Mann Sie dumm anquatscht und belästigt, kann er immer behaupten: Ich kann nichts dafür! Ich bin eine Marionette meiner Triebe und der patriarchalen Strukturen!«

»Oui, peut-être, aber dann kann ich auch nichts dafür, wenn er von mir spontan eine Ohrpfeife bekommt.«

»Eine was? Eine Ohrpfeife?« Albert konnte sich vor Lachen nicht mehr halten. »Was soll das denn sein?«

»Une gifle, vous comprenez?«

»Entweder Ohrfeige oder Backpfeife. Sie sollten sich entscheiden. Aber, wenn ich es mir recht überlege, hören sich Ohrpfeife und Backflöte auch nicht schlecht an. Man sollte die Ausdrücke im Duden aufnehmen.«

»Ohrfeige, -pfeife oder -pflaume, ist doch egal. Hauptsache es macht die Wangen rot!« Jetzt musste auch Sylvie lachen.

»Entschuldigen Sie, ich wollte mich nicht über Sie lustig machen. Ihr Deutsch ist wirklich hervorragend. Kleine Schnitzer wirken da eher charmant.« Albert beeilte sich das Gesprächsthema zu wechseln. Bei Filmen kannte er sich besser aus als im Strukturalismus. »Ich finde Jules und Jim ist ein wirklich gelungener Film von Truffaut mit einer guten Geschichte und tollen Darstellern. Mir hat auch Schießen Sie auf den Pianisten mit Charles Aznavour gefallen. Truffaut zeigt, dass eine Geschichte erst dann zu Ende gedacht ist, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.«

Dieser bedeutungsschwere Gedanke - Albert hatte inzwischen vergessen, wo er ihn aufgeschnappt hatte - gehörte seit Jahren zu seinem Standardrepertoire bei cineastischen Gesprächen.

»Ich finde das Ende des Films gar nicht so schrecklich. Es wäre doch viel schlimmer gewesen, wenn Jules und Catherine weiter zusammengelebt hätten ohne sich zu lieben, wenn sie sich das Leben weiter zur Hölle gemacht hätten«, entgegnete Sylvie.

»Es ist wenigstens ein richtiges Ende. Ich sehe jedenfalls lieber französische als deutsche Filme: Truffaut, Louis Malle, Melville, die Nouvelle Vague eben. Bei uns werden doch nur Winnetou- und Edgar Wallace-Filme gedreht oder Heimatschnulzen. Wissen Sie, wenn ich Elsässer wäre, würde ich auch lieber Franzose sein wollen als Deutscher. Da hat man es leichter in der Welt. Ihr Franzosen seid beliebt und werdet überall für eure Lebensart beneidet. Uns Deutschen begegnet man dagegen mit Misstrauen, wegen Hitler und dem Weltkrieg. Das kann ich natürlich verstehen.«

»Sie sollten sich das vielleicht nochmal überlegen. Wenn Sie nämlich Franzose wären, hätte man Sie zum Militär eingezogen und womöglich in den Krieg nach Algerien geschickt. So ist es einigen Freunden von mir ergangen. Ich glaube, die hätten gerne mit Ihnen getauscht. Ihr Berliner müsst nicht mal zur Bundeswehr. Das ist hier doch eine île des bienheureux

»Sie meinen wirklich, diese von Stacheldraht eingekreiste Halbstadt wäre eine Insel der Glückseligen? Na, ich weiß nicht. Dazu fehlen mindestens noch ein paar Palmen und Sandstrand. Das Wetter müsste auch besser sein.«

»Viele Franzosen sind froh, dass Ost- und Westdeutschland sich gegenseitig in Schach halten«, fuhr Sylvie fort, nachdem sie ihre Gauloise im Aschenbecher ausgedrückt hatte. »So kommt ihr wenigstens nicht auf die Idee, gemeinsam über den Rhein zu ziehen. Ein französischer Schriftsteller hat einmal gesagt: Ich liebe Deutschland so sehr, dass es mich freut, dass es zwei davon gibt. Die Mauer und der Stacheldraht sind furchtbar. Ich kann andererseits auch verstehen, warum die DDR die Grenze geschlossen hat und niemanden mehr in den Westen fahren lässt. Es sind einfach zu viele nicht mehr zurückgekommen. Du bildest Handwerker, Ärzte und Ingenieure aus. Die sagen dann: Danke schön für die gute Ausbildung, aber jetzt gehen wir in den Westen, weil wir dort mehr verdienen und uns ein besseres Leben leisten können

»Das sehen Sie zu einseitig«, protestierte Albert. »Ich kenne viele, die von drüben gekommen sind. Denen ging es nicht ums Geld, sondern um Freiheit. Sie wollten einfach nicht mehr drangsaliert werden und sich vorschreiben lassen, wie sie zu leben haben. Dass man dahin zieht, wo es einem besser geht, ist doch völlig logisch, zumal, wenn man im gleichen Land mit der gleichen Sprache bleiben kann und dafür nicht - wie unsere Vorfahren - nach Übersee auswandern muss.«

»Oui, vous avez raison, Sie haben recht. Freiheit ist wichtig. Den ständigen Verlust von Menschen hätte die DDR jedoch nicht mehr lange verkraftet. Sie mussten etwas dagegen tun. Was ich nicht verstehe ist, warum die DDR nicht erlaubt, dass ihr eure Verwandten und Freunde im Osten besucht - außer zu Weihnachten. Was soll das bringen? Ihr bleibt doch bestimmt nicht drüben.«

»Es sind eben politische Spielchen, die in Berlin gespielt werden, wenn Sie mich fragen. Das war schon immer so. Die DDR will als Staat anerkannt werden und West-Berlin von der Bundesrepublik trennen. Das akzeptieren wir im Westen nicht. Wir haben einen Alleinvertretungsanspruch.«

»Aber die DDR ist doch ein Staat, sogar ein ziemlich stramm organisierter, wie ich finde. Was sollte die DDR denn sonst sein?«

»Was weiß ich, die Zone oder der kommunistische Machtbereich mit Spalterfahne. Sie müssen dabei immer eines bedenken, sonst begreifen Sie nicht, wie die Dinge in Berlin laufen: Hier geht es immer ums Prinzip, nie um den gesunden Menschenverstand. Jede Seite hat Angst, ihr Gesicht zu verlieren, wenn sie der anderen auch nur ein Stückchen entgegenkommt.«

»Schon das Wort Alleinvertretungsanspruch klingt gruselig in meinen Ohren wie Ermächtigungsgesetz oder Reichsbürgersteigsfegeverordnung.«

Albert schaute verwundert.

»Was soll denn die Reichsbürgersteigsfegeverordnung sein? Davon habe ich ja noch nie gehört.«

»Was sind Sie denn für ein Deutscher? Sie kennen nicht einmal die Fegeverordnung?«, fragte Sylvie keck. »Vielleicht heißt sie jetzt auch Bundesbürgersteigsfegeverordnung.«

»Meinen Sie nicht, dass Sie ein klein wenig übertreiben? So weit geht die Bürokratie in Deutschland nun doch nicht.«

Erst jetzt fiel Albert auf, dass die meisten Besucher inzwischen das Centre Culturel verlassen hatten. Auch der Barmann schien Feierabend machen zu wollen und begann den Tresen abzuwischen. Albert schaute Sylvie an.

»Ich glaube, man will hier schließen. Hätten Sie vielleicht Lust noch irgendwo etwas trinken zu gehen, da könnten Sie mir das mit der Bürgersteigsfegeverordnung näher erklären. Außerdem möchte ich unbedingt noch mehr über Elsässer Wein erfahren.«

»Bonne idée, sehr gerne, allons-y!«, sagte Sylvie mit einem Lächeln. Im Stillen dachte sie: Na endlich! Ich dachte schon, er würde nie fragen.

Abschied von der Wielandstraße

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