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Höllenmahnung

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Am Anfang stehen Vergil und die Bibel. In Vergils Erzählung vom Besuch seines Helden Aeneas in der Unterwelt erscheint diese zunächst nicht als Ort der absoluten Verdammung, sondern als Stätte des reduzierten Seins, entsprechend der antiken (und orientalischen) Vorstellung vom Totenreich als Schattenwelt. Doch Vergils Unterwelt ist zugleich ein Konstrukt, das sich aus verschiedenen mythologischen Elementen zusammensetzt, und so erblickt Aeneas hier nicht nur die Elysischen Felder, sondern auch „Plutos wuchtige Burg“, von „Phlegethons höllischer Flut“ umgeben.34 In dieser vom Feuerfluss eingeschlossenen Strafhölle erleiden die Toten große Pein. Da Aeneas der Zutritt durch das „Tor des Fluches“ verwehrt ist, lässt er sich von seiner Führerin Sibylle von dem Grauen, das im Inneren herrscht, und von dem Abgrund des Tartarus berichten. Durch das Bild des Phlegethon, das auf Platons Beschreibung des Erdinneren zurückgeht,35 wird der Gedanke eines Tiefenfeuers ins Spiel gebracht. Bei Vergil steht es in einer auffälligen Beziehung zum Beginn der Unterweltfahrt, denn schon als Aeneas durch eine Opferzeremonie die Erlaubnis zum Eintritt in die Totenwelt erhält, hört er ein starkes unterirdisches Donnergrollen. Den Zugang zum unterirdischen Reich bildet eine Spalte am Averner See. Dessen vulkanische Qualität betont die Aeneis, wenn sie von den gefährlichen Dämpfen spricht und davon, dass kein Vogel je über den dunklen See geflogen sei.36 Vergil kannte den Averner See in der Landschaft der Campi phlegraei, deren vulkanischer Charakter im Altertum unstrittig war: Die Solfatara hieß Forum Vulcani. Allerdings sollte es – wie zu zeigen sein wird – noch lange dauern, bevor man die Form des Avernus selbst auf die eines erloschenen Kraters zurückführen würde.

Das große Ansehen des Vergil im Mittelalter führte dazu, dass seine Vorstellung von der Burg des Höllenfürsten im feurigen Fluss zur Ausformung der Bildwelt der christlichen Hölle beitrug. Den Grundstock bildeten freilich die biblischen und apokalyptischen Texte. Im Alten Testament, etwa in den Psalmen, ist das Dasein in der Unterwelt zunächst nur ein Existieren in Düsternis und Tiefe, doch bilden sich langsam Strafvorstellungen heraus, bei denen das Feuer eine zentrale Rolle spielt (Jes. 5, 14; Jes. 66, 24). Das Neue Testament setzt dann bereits eine Welt voraus, in der die „Hölle wie auch ihr Feuer […] für die Hörerinnen und Hörer der Jesusbotschaft geläufige Vorstellungen“ sind.37 So erscheint im Evangelium des Matthäus die Strafhölle mit ihrem Feuer als etwas Bekanntes (Matth. 5, 21f.; Matth. 25, 41ff.), ebenso wie bei Lukas (Luk. 16) und in der Offenbarung des Johannes. Allerdings wird die genaue Bildlichkeit der Hölle erst in der Folgezeit ausgeformt, zunächst in der sogenannten Offenbarung des Petrus, die um das Jahr 135 entsteht.

Der unbekannte Verfasser dieses Offenbarungsbuches setzt wie alle Apokalyptiker mit der schärfstmöglichen Zweiteilung zwischen Auserwählten und Verworfenen ein: „Betreffs der Erwählten, die Gutes getan haben, sie werden zu mir kommen, indem sie den Tod verzehrenden Feuers nicht sehen werden. Die Bösewichter und die Sünder und die Heuchler aber werden in den Tiefen nicht verschwindender Finsternis stehen, und ihre Strafe ist das Feuer, und Engel bringen ihre Sünden herbei; und bereiten ihnen einen Ort, wo sie für immer bestraft werden, je nach ihrer Versündigung.“38 Es ist ein reicher Katalog der Strafen, den die Petrus-Apokalypse entfaltet, doch bei aller Variation der Pein bilden das quälende Feuer und die erschreckende Tiefe den Grundtenor. So heißt es von den Männern und Weibern, „welche einen Fehltritt begehen“: Sie „gehen rollend hinunter dahin, wo der Schrecken ist. Und wiederum, indem das bereitete [Feuer] fließt, steigen sie herauf und wieder herab und wiederholen so das Rollen.“ Und diejenigen, die sagten, „‚Wir sind gerecht vor Gott‘, während sie doch nicht nach der Gerechtigkeit getrachtet haben“, werden blind und stumm, pferchen sich zusammen und „fallen auf Kohlen nie verlöschenden Feuers“.39

In den folgenden Jahrhunderten wird die Gestalt der Hölle immer deutlicher festgeschrieben. Anteil daran haben die Dialoge des Papstes Gregor I., in denen zum ersten Mal aus christlicher Sicht über die Verbindung von Hölle und Vulkan gesprochen wird. Im Vierten Buch der Dialoge, wahrscheinlich in den Jahren 593/94 verfasst, geht es um „Zeugnisse für die vom gegenwärtigen Leben aus möglichen Einblicke in das Jenseits“.40 Gregor erzählt im 30. Kapitel von der Bestrafung des Königs Theoderich, der den Tod des Papstes Johannes im Gefängnis und die Hinrichtung des Senators Symmachus auf dem Gewissen habe. Ein „Einsiedler von großer Tugend“ auf der Insel Lipari habe seinen erstaunten Besuchern, die von Theoderichs Ableben noch nichts wussten, gesagt: „Und doch ist er tot. Gestern um 3 Uhr nachmittags wurde er, geführt von Papst Johannes und dem Senator Symmachus, ohne Gürtel und Schuhe zum benachbarten Vulkankrater gebracht und hineingestoßen.“ Gregor fügt hinzu, dass die Besucher nach ihrer Rückkehr hören, dass Theoderich an eben jenem Tag gestorben sei, an dem „sein Ende und seine Strafe dem Diener Gottes gezeigt wurden“. Es sei die gerechte Strafe für Theoderich gewesen, von denen ins Feuer geworfen zu werden, die er ungerecht verurteilt habe.41

Die Erzählung beruht auf dem älteren Motiv des im Vulkan eingeschlossenen toten Herrschers. In der heidnischen Tradition war dies allerdings nicht mit dem Gedanken der Strafe verbunden. So gab es eine Erzählung über König Artus, der nach seinem Tod friedlich im Ätna saß, ohne Qualen zu erleiden.42 In der christlich bestimmten mittelalterlichen Sagenwelt gesellt sich dann zu Theoderich eine ganze Reihe von Herrschern, die um eines Vergehens willen in den Ätna verbannt werden. Dazu gehören Karl Martell und die Kaiser Karl der Große, Heinrich II. und Friedrich II. Auch auf die Mainzer Bischöfe Hatto und Johannes II. wartet die Feuerstrafe des Vulkans. Im isländischen Vulkan Hekla muss der dänische Prinz Magnus brennen.43

Was in diesen Volkserzählungen tradiert wird, erscheint auch in den Schriften mittelalterlicher Moralisten. So berichtet Caesarius von Heisterbach in seinem Dialogus de miraculis (um 1220) von einem Dekan, der vernommen habe, dass König Artus ihn zum „feierlichen Hoftag“ in den „Berg Gyber“ (Ätna) gebeten habe. „Der Dekan, der hörte, dass er zu Arturs Hoftage geladen sei, spottete darob. Bald aber erkrankte er und starb am festgesetzten Tag.“44 In der darauf folgenden Geschichte erzählt Caesarius „Von der Strafe Bertolfs, des Herzogs von Zähringen“:

Vor ungefähr drei Jahren kamen einige Leute bei demselben Berg Gyber vorbei und hörten eine gewaltige Stimme diese Worte rufen: Mach Feuer an! Nach kurzem Zwischenraum hörte man denselben Ruf. Als er zum dritten Male schrie: Mach ein großes Feuer an! antwortete einer: Für wen soll ich es anmachen? Und jener: Unser geliebter Freund kommt, der Herzog von Zähringen, der uns treu gedient hat. Jene merkten Tag und Stunde, meldeten in einem Brief dem Kaiser Friedrich, was sie gehört, und fragten an, ob irgendein Herzog von Zähringen in seinem Reich gestorben sei. Und es stellte sich heraus, dass gerade zur selben Zeit Herzog Bertolf von Zähringen gestorben war. Es war aber dieser ein unmenschlicher Tyrann, der Edle wie Geringe beraubte und vom katholischen Glauben abtrünnig war. Obgleich er ohne Nachkommen war, hatte er doch, vom Laster des Geizes getrieben, viel Geld angehäuft. Als aber sein Tod nahe war, bat er die Freunde, all seine Schätze zu einer Masse zusammenzuschmelzen. Nach dem Grund befragt, sagte er: Ich weiß, dass meine Verwandten sich über meinen Tod freuen und die Schätze unter sich teilen werden. Sind diese aber zu einer Masse geworden, so werden sie sich gegenseitig umbringen.45

Insgesamt sind es freilich nur wenige mittelalterliche Autoren, die die direkte Gleichung von Vulkan und Hölle übernehmen, und auch dort, wo dies geschieht, herrscht oft die vorsichtige Formel dicitur (es wird gesagt). Kaum einer der großen theologischen Lehrer spricht sich über den Ort der Hölle aus. Erst in der Neuzeit erscheint eine Reihe gelehrter geistlicher Schriften, die den Vulkan als Tor zur Hölle deuten. So verteidigt der Franziskaner Francisco Resta im Jahre 1643 die Ansicht, dass das Feuer vulkanischer Eruptionen in Wahrheit das Feuer der Hölle sei, der Jesuit Giovanni Andrea Massa beschäftigt sich 1708 mit der „Verbindung der Flammen des Ätna mit denen der Hölle“, und noch siebzig Jahre später sieht Antonio Vetrani in seinem Prodromo Vesuviano Ätna und Vesuv als Schlünde der Hölle.46 Für die geologisch Nachdenklichen unter den christlich-gelehrten Autoren stellt sich das Problem, dass das von Platon angedeutete und später oft postulierte Zentralfeuer der Erde sich ebendort befinden müsse, wo Bibel und Tradition das Feuer der Hölle angesiedelt hatten.47 Es entstand die Schwierigkeit, wie ein Übernatürliches und in seiner Intensität jenseits aller Vorstellung Liegendes wie das Feuer der Hölle – so hatte die kirchliche Lehre es seit jeher gesehen – zugleich eine empirische Qualität haben sollte.

Der Jesuitenpater Athanasius Kircher nahm in seinem berühmten Werk über den Aufbau der Erde, Mundus subterraneus (1665), seine Zuflucht zu einem Doppelcharakter des Feuers im Erdinneren: Das unzugängliche Höllenfeuer, das in seinen Eigenschaften alle bekannten Feuer übertreffe, sei zugleich das nährende Feuer der Vulkane.48 Von eindrucksvollen Illustrationen des „großen Leibes“ Erde unterstützt, zeigt Kirchers Text die Vulkane als Schlote, die über Feuerkanäle (pyragogi) und Feuerkammern (pyrophylacia) mit dem Zentralfeuer verbunden sind (Abb. 7). Durch diese Entlastungswege wird nach Kircher die explosive Kraft des Feuers in der Erdmitte gemindert, das sich gleichzeitig seiner Asche entledigen kann. Dem möglichen Einwand, dass die bei ihm so klar erscheinende geologische Tiefengliederung, in die auch Wasserreservoire und -kanäle als „Adern“ mit einbezogen waren, der Hölle keinen Ort mehr lasse, begegnete Kircher mit dem Hinweis, dass ja auch das Wasser von zweifacher Art sei: Es sei Element und sei doch zugleich das Wasser des Sakraments, das von Gott in der christlichen Taufe „verbessert“ werde:

[A]lso peinigt er auch die Gottlosen durch das wahre und eigentliche Elementarfeuer, doch durch die Größe seiner Macht und eine außergewöhnliche Kraft auf solche Weise erhitzt, dass es mit einer unendlich größeren Heftigkeit als das Elementarfeuer diejenigen peinigt, die der ewigen Verdammnis anheimgefallen sind.49

Mottoartig lässt Kirchers Buch schon in der Vorrede die Spannung erkennen, die ein solches Werk durchziehen muss, das den ernsthaften geologischen Entwurf mit einer traditionell christlichen Topografie verbinden will. Die Vorrede zeigt, wie der Autor zu seiner Beschäftigung mit Vulkanen kam. Er hatte 1638 Ätna und Stromboli gesehen, und das kalabrische Erdbeben des gleichen Jahres hatte einen tiefen Eindruck hinterlassen. So hatte er den Entschluss gefasst, den Vesuv, der sieben Jahre zuvor so verheerend ausgebrochen war, zu besteigen. Als Kircher sich auf dem Vesuvgipfel genaueren Beobachtungen und Messungen widmen will, wird er von dem Anblick des Kraterinneren übermannt. Schrecken und Bewunderung lassen ihn ausrufen: „O Tiefe des Reichtums der Weisheit wie der Kenntnis Gottes, wie unergründlich sind Deine Wege!“50 Es gehört zu den Paradoxien des Mundus subterraneus, dass Kirchers kühne Deutung der unsichtbaren Erdtiefe die Wege Gottes gerade ihrer Unergründlichkeit beraubt, dass der Autor aber dennoch auf seiner Vorstellungsohnmacht gegenüber dem göttlichen Wirken beharrt.


Abb. 7: „Pyrophylacia“, aus Athanasius Kircher, Mundus subterraneus, 1678

Den Aporien der Gleichsetzung von Höllen- und Vulkanfeuer entging eine andere Deutungstradition, deren Anfänge sich ebenfalls in den Dialogi des Papstes Gregor finden. Als Gregor erzählt, dass ein Sterbender davon gesprochen habe, dass das Schiff bereit sei, „mit welchem wir nach Sizilien fahren müssen“, ruft sein Zuhörer, ein junger Mönch, aus: „Das ist schrecklich, was du da erzählst; aber ich bitte dich, warum erschien der sterbenden Seele ein Schiff und warum sagte der Sterbende, dass er nach Sizilien fahren müsse?“ Gregors Antwort ist:

Die Seele bedarf keines Fahrzeuges, jedoch ist es nicht zum Verwundern, wenn dem noch im Leibesleben befindlichen Manne etwas erschien, was er leiblich zu sehen gewohnt war, damit er daraus abnehmen könnte, wohin die Seele geistigerweise kommen sollte. Wenn er aber sagte, dass er nach Sizilien fahre, was kann man da anderes darunter verstehen, als dass auf den Inseln dieses Landes mehr als sonstwo in einem aufsteigenden Feuer die Schlünde der ewigen Pein sich auftun? Leute, die es gesehen haben, erzählen, dass die Öffnungen sich von Tag zu Tag erweitern und größer werden; denn je näher das Weltende kommt und je größer die Zahl derer wird, die dort gewiss dem Feuer überantwortet werden sollen, umso mehr erweitert sich der Ort der Pein. Der allmächtige Gott wollte, dass zur Besserung der in dieser Welt Lebenden diese Erscheinung sich zeige, damit die Ungläubigen, welche nicht an die Höllenqualen glauben, die Orte der Pein sehen, nachdem sie nicht daran glauben wollen, wenn sie davon hören.51

Auch für den zur gleichen Zeit lehrenden Gregor von Tours besteht kein Zweifel, dass der Ätna dazu da sei, damit die Sünder sich das „Höllenfeuer vorstellen“.52

Dass der Vulkan von Gott geschaffen sei, um die sündige Menschheit an das strafende Höllenfeuer zu erinnern, wird danach zur Hauptlinie der christlichen Deutung in Mittelalter und früher Neuzeit. Die Vulkane sind Höllenbilder. Das Jenseitige kann im Bild des Irdischen erscheinen – wie ja auch das Paradies im Bild des Gartens –, doch ist es mit dem Irdischen nicht zu identifizieren.

Eine Variante des Gedankens der Ermahnung durch den Vulkan stellt das Höllenschau-Kapitel im Faustbuch dar. Mephostopheles – so die Schreibung des Volksbuchs von 1587 – hat Faust versprochen, ihm alle Dinge über und unter der Erde zu zeigen. In Mephostopheles’ Auftrag fliegt Beelzebub mit Faust in den Vulkankrater einer Insel – mit „Schwebel, Pech und Feuerstrahlen“ – und gibt vor, dies sei die Hölle. Bezeichnend ist nun, dass dem Doktor Faust dieser Ort glaubhaft vorkommt. Er durchschaut die „Gaukelei“ nicht. Für ihn ist das, was die Hölle nur darstellen soll, die Hölle selbst.53 Dass Faust auf dieses Spiel hereinfällt, ist insofern kaum verwunderlich, als Fausts Welt von vornherein durchlässig ist für das Dämonische und Außerweltliche. Hier gibt es keine grundsätzliche Trennung von Irdischem und Nicht-Irdischem – ebenso wenig wie in der Sagen- und Legendenwelt der vorangegangenen Jahrhunderte.

Wo sich aber die Scheidung von geografisch Konkretem und Außerweltlichem als eine prinzipielle durchsetzt, muss die völlige Gleichsetzung von Vulkan- und Höllenfeuer als eine überlebte Denkform erscheinen. Es sind vor allem die humanistisch Gebildeten unter den Italienreisenden, die darauf bestehen, dass der Vulkan nicht mehr sein könne als ein Bild der Hölle. So geht am Ende des 17. Jahrhunderts John Evelyn auf Distanz zum Volksglauben, wenn er sagt: „[S]ome there are who maintaine it the very Mouth of Hell it selfe, others of Purgatory…“54 Andere englische Reisende – wie Lithgow und Brydone – wenden sich dezidierter gegen eine „papistisch“ inspirierte Folklore, wonach im Berg Ätna sich das Fegefeuer befinden oder gar die englische Königin Anne Boleyn für die „häretische“ Bekehrung ihres Mannes zum Protestantismus büßen soll.55

Für die Reisenden ist es freilich nicht zweifelhaft, wo der Grund für die von ihnen kritisierten Auffassungen liegt: „[C]ertainly it must be acknowledged one of the most horrid spectacles in the world“, sagt John Evelyn über die naheliegende Koppelung von Krater und Höllenpforte.56 Bei John Raymond heißt es: „The Vorago is so terrifyinga spectacle, that if I would paint Hell, this would be the best Patterne.“57 Damit wird etwas Wesentliches ausgesprochen: Auch dort, wo die Gleichsetzung von Hölle und Vulkan verworfen wird, hat der Vulkan die Funktion der Bildresonanz. Der Mensch bedarf des anschaulichen Bildes für den im Grunde unvorstellbaren Abyssus der Hölle. Zugleich verweist das Wort „Vorago“, das John Raymond verwendet, auf eine spezifische bildliche Vermittlung hin. Denn der Eingang zur Hölle wurde in der Kunst des Mittelalters als monströser Rachen oder Schlund dargestellt. In mittelalterlichen Bildern des Jüngsten Gerichts ist dies deutlich zu sehen, und auch in späterer Zeit blieb diese Vorstellung durch den Ausdruck „der Hölle Rachen“ noch lange in Kirchenlied und Predigt präsent. Da nun aber die frühneuzeitliche Leibmetaphorik der Erde den Vulkankrater gleichfalls zum Schlund (vorago) machte, kam es zur Kontamination. Den ikonografischen Übergang von der animalischen zur vulkanischen Höllen-Vorago zeigen Tafelbilder des späten 15. Jahrhunderts an, in denen die Öffnung der Hölle als kraterähnlicher und mit Felszähnen bewehrter Abgrund erscheint, aus dem Flammen emporzüngeln58 (Abb. 8).


Abb. 8: „Höllensturz“, Altarflügel des Triptychons mit dem Jüngsten Gericht von Hans Memling (Ausschnitt, 1467–71, Muzeum Narodowe, Danzig)

Wie wenig die Reisenden des 17. und 18. Jahrhunderts die alten Höllenmahnungen noch auf sich selbst beziehen, zeigt die Vesuvbeschreibung von Goethes Vater. Er findet es zwar „schade“, dass Neapel „mitsamt seiner ganzen Umgebung auf immer diesem Berg ausgeliefert“ sei, zugleich müsse „man dies aber auch als Segen für dieses Volk ansehen, das in einem irdischen Paradies lebt und gar zu leicht das himmlische vergessen würde, wenn es nicht so nahe bei diesem Höllenschlund lebte“.59

Als Johann Caspar Goethe im Jahre 1740 auf dem Vesuv steht, ist das gleichzeitige Nennen von Hölle und Paradies schon nicht mehr neu. Bereits das 17. Jahrhundert kennt die topische Klammer: Die „Hölle“ des Vesuvkraters befinde sich mitten im „Paradies“ der kampanischen Landschaft. Als im Jahr 1660 der Markgraf Christian Ernst von Bayreuth den Vesuv „mit großer Mühe“ erklommen hat, schaut er „mit Verwunderung in diese Hölle“ hinein. Der Begleiter des Markgrafen und Beschreiber der Reise, der Dichter Sigmund von Birken, fasst zusammen: „Man mag wohl von ihm sagen, wann er etlich Jahre gütig gewesen: Es stehe mitten im Paradeis die Höllenpforte.“60 Kaum ein Reisender, der in der Folgezeit nicht das Wort von der „Hölle im Paradies“ gebrauchte.

Klassische Texte hatten diesem Kontrast vorgearbeitet, als sie das Nebeneinander von Todesberg und glücklichem Kampanien beschrieben. Neben die Schrecken des Ausbruchs von 79 n. Chr. (und von Eruptionen wie denen von 203 und 512) trat der Blick auf die freundliche Umgebung. Gerade die verschütteten Städte am Vesuv hatten als Orte des sorglosen Lebens inmitten der von Klima, Boden und landschaftlicher Schönheit begünstigten Campania felix gegolten.

Als einer der Ersten hatte der im zweiten Jahrhundert v. Chr. lebende Historiker Polybios die kampanische Landschaft mit großer Genauigkeit dargestellt. Besonders die Ebene um Capua hatte er wegen ihrer Fruchtbarkeit und Schönheit gepriesen: Die Meeresnähe sorge für betriebsame Häfen, und die schönsten und bedeutendsten Städte Italiens befänden sich an dieser Küste.61 Später beschreibt Plinius die Gegend in preisenden Worten: Sie bringe trefflichen Wein hervor und besitze schöne Gestade.62

Vom Ruhm der Gegend zeugt noch Martial im Jahr 88 n. Chr., als er in einem Gedicht der Zerstörung Herculaneums und der ausgedehnten Weinhänge des Vesuv gedenkt:

Hier der Vesuv war eben noch grün vom Schatten der Reben,

und ein edles Gewächs hatte die Kufen gefüllt.

Hier sind die Höhen, die Bacchus vor Nysas Hügeln geliebt hat,

hier ist der Berg, drauf jüngst Satyrn noch Reigen getanzt.

Hier war der Venus Sitz, ihr lieber selber als Sparta,

hier die Stätte, berühmt, weil sie nach Herkules hieß.

Da Martial allerdings den Kreis des heiteren, von den Göttern gesegneten Lebens enger zieht als die bis zum Apennin reichende Landschaft der Campania, ist für ihn das Reich des sorglosen Daseins mit dem Ausbruch von 79 völlig zugrunde gegangen:

All das liegt nun in Flammen und trauriger Asche versunken.

Ach, dass sie dies vermocht, dauert die Götter nun selbst.63

An das alte Lob Kampaniens schließen die im 16. und 17. Jahrhundert verfassten Reiseführer an. Und auch nach dem Wiedererwachen des Vesuv 1631 bleibt der Topos vom glücklichen Kampanien bestehen. Üblich ist es nun, Paradies und Hölle in einem Atemzug zu nennen. Von 1740 an mehren sich die Stimmen, die dem Kontrast als visuelles Erlebnis auf dem Vesuv selbst Ausdruck geben. Der schweifende Blick geht von der staunenerregenden, aber nur schwer zu deutenden elementaren Gewalt hinüber zur Vertrautheit einer Kulturlandschaft. In der Folge sprechen auch die wenigen Besucher des Ätna, denen die äußerst beschwerliche Besteigung gelingt, von dem Erlebnis des Kontrasts, wobei Größendimension und Zeitpunkt – Sonnenaufgang – das Bild von der Erschaffung der Welt heraufbeschwören: Der donnernde Krater gemahnt an die Furchtbarkeit des uranfänglichen Chaos, während das bei dem ersten Licht sichtbar werdende Sizilien die Erde in ihrer Fülle „entstehen“ lässt.64

Der überforderten Anschauung hilft es wenig, wenn der Betrachtende sich sagt, dass das Gartenähnliche der Landschaft zu seinen Füßen gerade auch ein Produkt des Vulkans ist. Schon in einigen Texten des Altertums, dann aber in vielen Berichten seit der Renaissance, war darauf hingewiesen worden, dass die gepriesene Fruchtbarkeit ihren Ursprung in der Asche von Vulkanen hatte. Bereits Strabon hatte in der Passage, in der er den fast ganz begrünten Vesuv als Vulkan erkannte, vorgeschlagen, „den Grund für die Fruchtbarkeit des Landes rund um den Berg“ in dem „Aschenstaub“ zu sehen, den der Berg einst ausgestoßen habe. Er verglich den Vorgang mit dem noch stets zu beobachtenden in Sizilien, wo der „Aschenstaub“, den „das Feuer des Ätna hoch in die Luft trug, das Land für die Weinrebe geeignet machte, denn er enthält die Substanz, die sowohl die ausgebrannte Erde, wie auch den Boden fett macht, der die Früchte hervorbringt“.65

Freilich verzichten viele Autoren darauf – und mit ihnen die der meisten Reiseführer –, auf die Tatsache hinzuweisen, dass nur ein Teil der vulkanischen Lockerprodukte jene Fruchtbarkeit hervorbringt und dass gerade die erstarrte Lava mit ihrer enormen Festigkeit große Zeiträume der Erosion braucht, um zur Erdkrume zu werden. So hat das Auge „recht“, wenn es sich der allzu schnellen Gleichsetzung von Vulkan und Leben widersetzt: Die alten Laven, die oft gerade Gärten und Felder durchschneiden, behaupten in ihrer Härte und Farbe immer auch das Steinerne des Vulkans, das den Menschen nicht duldet.

Schönheit und Schrecken der Vulkane

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