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Prolog: Die Neugierde des Plinius

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Im 16. Jahrhundert wird die Geschichte vom Tod des Plinius auf folgende Weise erzählt: „Und als Plinius […], der danach verlangte, die Ursache des ständigen Brandes jenes Berges zu erkennen, hinging, um ihn zu betrachten, und sich ihm allzu sehr näherte, war er verwundert, dass ihn sogleich die Flammen überfielen und dass sein Körper zu Asche wurde.“1 Der Text entstammt einem der sogenannten Prodigienbücher, die den Leser des 16. Jahrhunderts immer wieder zum Erstaunen über monströse Geburten, ungewöhnliche Tiergeschöpfe und wundersame Ereignisse aufforderten.2 Die Überschrift des Kapitels, in dem sich die Passage findet, heißt: „Wundersamer Tod des Plinius, mit einer kurzen Beschreibung der Ursache der Flammen, welche an verschiedenen Orten der Erde entweichen“ (Abb. 1).


Abb. 1: „Der Tod des Plinius“, Holzschnitt aus Boaistuau, Histoires prodigieuses, 1560

Pierre Boaistuau, der Autor des staunenerregenden Berichts, war freilich nur einer von vielen, die im 16. Jahrhundert das denkwürdige Ende des Plinius memorierten. Auch in anderen Prodigiensammlungen war immer wieder die Rede davon, dass Plinius der Ältere, der Verfasser des berühmtesten naturhistorischen Werkes des Altertums, von großer Neugierde erfasst worden war, den ausbrechenden Vesuv zu studieren, und darauf in den Flammen des Berges umkam.3 Die Erzählung wurde zum festen Topos, erschien auch in den weniger wunderträchtigen naturgeschichtlichen Werken des 17. Jahrhunderts und wurde schließlich zum unverrückbaren Memorabile der Italienreisenden im 18. Jahrhundert.

Vergleicht man die Erzählung mit dem berühmten Brief von Plinius dem Jüngeren, in dem dieser dem befreundeten Tacitus die Ereignisse der Augusttage des Jahres 79 n. Chr. schildert, so werden die eigenmächtigen Veränderungen, die die späteren Autoren vornahmen, schnell deutlich. Boaistuau spricht von einem ständigen Feuerbrand, während der Vesuv vor seinem verheerenden Ausbruch ein friedlich begrünter Berg war, von dessen vulkanischem Charakter im Altertum nur wenige etwas vermuteten. Plinius der Ältere starb auch nicht, weil er sich dem aktiven Vulkan aus unbezähmbarem Wissensdrang genähert hätte. Zwar hatte er zunächst den Plan gefasst, die Aschenwolke vom Meer aus zu beobachten, war jedoch einem Hilfegesuch gefolgt und wollte Menschen aus den Siedlungen am Fuß des Vesuv retten. In Stabiae angelangt, erstieg er denn auch nicht die – hier schon weit entfernten – Hänge des Vesuv, sondern blieb in Meeresnähe: Plinius, ein schwerleibiger Mann, ruhte sich auf dem Anwesen eines Bekannten aus. Er starb am Tag darauf, nachdem der Wind immer mehr Asche herangetragen hatte; offenbar hatte Plinius schon lange an Asthma gelitten. Die Bekannten, um deren Rettung es ging, scheinen dagegen mit dem Leben davongekommen zu sein. Der ausführliche Bericht Plinius’ des Jüngeren lautet:

[Mein Onkel] war in Misenum und befehligte persönlich die Flotte. Am vierundzwanzigsten August, etwa um ein Uhr nachmittags, meldet ihm meine Mutter, es zeige sich eine Wolke von ungewöhnlicher Größe und Gestalt. Er hatte ein Sonnenbad genommen, darauf kalt gebadet, liegend etwas gegessen und war eben in seine Studien vertieft. Er verlangt seine Schuhe, ersteigt eine Anhöhe, von wo er diese Wundererscheinung am besten betrachten konnte. Die Wolke erhob sich – für die von weitem Schauenden war es undeutlich, von welchem Berg; dass es der Vesuv war, wurde erst später bekannt –, der Form nach einem Baum, und zwar am ehesten einer Pinie ähnlich. Denn sie wuchs wie auf einem sehr hohen Stamm empor und breitete gewissermaßen Äste aus; wahrscheinlich, weil sie durch einen frischen Luftzug hochgetragen wurde und dann, wenn dieser nachließ – vielleicht auch durch ihr Eigengewicht –, ihren Auftrieb verlor und sich in die Breite verflüchtigte. Bisweilen war sie weiß, bisweilen schmutzig und fleckig, je nachdem sie Erde oder Asche mit sich geführt hatte.

Dies schien ihm, als einem wissensdurstigen Manne, wichtig und wert, näher betrachtet zu werden. Er befiehlt, einen Schnellsegler seefertig zu machen. Mir stellt er frei, mit ihm zu kommen. Ich gab ihm zur Antwort, ich wolle lieber arbeiten; und zufällig hatte er selbst mir etwas zum Schreiben gegeben. Er verließ das Haus; da bekommt er eine Botschaft von Rectina, der Frau des Cascus, die durch die drohende Gefahr erschreckt war – denn ihr Landhaus lag am Fuße des Berges, und sie konnte nur zu Schiff fliehen; er möge sie aus der bösen Lage befreien, lautete die Bitte. Er ändert seinen Plan, und was er als Gelehrter begonnen, dem geht er nun als Held entgegen. Er lässt Vierruderer ausfahren, steigt selbst an Bord, nicht allein um Rectina, sondern vielen andern – die Küste war nämlich ihrer Lieblichkeit wegen stark besucht – Hilfe zu bringen. Er eilt dorthin, woher die andern fliehen, und steuert in geradem Kurs auf die Gefahr zu, so ganz frei von Furcht, dass er alle Veränderungen, alle Phasen dieses Unheils, wie er sie wahrnahm, diktierte und aufzeichnen ließ.

Schon fiel Asche auf die Schiffe – je näher sie herankamen, desto heißer und dichter –, schon fielen auch Bimssteine und schwarze, halbverbrannte und von der Hitze geborstene Steine, schon zeigte sich plötzlich eine Untiefe, und durch den Bergsturz wurden die Ufer unzugänglich. Er zögerte einen Augenblick, ob er umkehren solle, dann sagte er dem Steuermann, der zur Umkehr riet: „Dem Mutigen hilft Gott! Vorwärts zu Pomponianus!“ Dieser war in Stabiae, auf der andern Seite des Golfes – denn ein sanft geschwungenes Gestade umfasst das Meer in einem Bogen. Obschon dort die Gefahr noch nicht unmittelbar drohte, war sie doch sichtbar, und wenn sie sich steigerte, sehr nahe; Pomponianus hatte deshalb sein Gepäck auf Schiffe verladen lassen, zur Flucht entschlossen, wenn sich der Gegenwind gelegt hätte. Dieser Wind war für die Fahrt meines Onkels sehr günstig; er umarmt den Ängstlichen, tröstet ihn, muntert ihn auf und lässt sich, um dessen Furcht durch seine eigene Sorglosigkeit zu beheben, ins Bad tragen; nach dem Bad liegt er zu Tisch und speist frohgemut oder, was gleich groß ist, tut, als sei er frohgemut.

Unterdessen leuchteten aus dem Vesuv an verschiedenen Orten sehr breite Feuergarben und hohe Feuersäulen auf, deren Glanz und Helligkeit durch das Dunkel der Nacht noch gesteigert wurde. Mein Onkel sagte zur Beschwichtigung der Angst immer wieder, das seien Herdfeuer, die die Bauern in ihrer Aufregung nicht gelöscht hätten, und verlassene Landhäuser, die jetzt leer daständen und brennten. Dann begab er sich zur Ruhe und schlief wirklich tief ein. Denn sein Atemholen, das bei ihm wegen seiner Körperfülle schwer und mit Schnarchen verbunden war, wurde von denen, die sich vor seiner Tür befanden, gehört. Aber der Hof, durch den man zu seinem Zimmer gelangte, war bereits so hoch mit Asche und Bimssteinen angefüllt, dass ihm bei längerem Verweilen im Schlafgemach der Ausgang verwehrt worden wäre. Man weckt ihn, er steht auf und begibt sich zu Pomponianus und den andern, die wach geblieben waren. Sie beraten gemeinsam, ob sie im Hause bleiben oder sich im Freien aufhalten sollten. Denn infolge häufiger und heftiger Beben begannen die Häuser zu schwanken und schienen, gleichsam aus ihren Fundamenten gehoben, sich bald hierhin, bald dorthin zu bewegen. Unter freiem Himmel andrerseits war das Herabfallen der wenn auch leichten und vom Feuer angefressenen Bimssteine zu fürchten. Man entschloss sich nach einem Vergleich der Gefahren doch zu dieser Lösung. Bei meinem Onkel allerdings trug ein Vernunftgrund über den andern den Sieg davon, bei den übrigen eine Furcht über die andere. Sie legen Kissen auf den Kopf und binden sie mit leinenen Tüchern fest. Dies war ihr Schutz gegen die herabfallenden Steine.

Schon war es anderswo Tag, hier aber Nacht, schwärzer und dichter als alle Nächte; doch erhellten sie viele Fackeln und verschiedene Lichter. Man beschloss, zum Strand zu gehen und aus der Nähe zu schauen, ob das Meer schon einen Versuch gestatte; es war immer noch stürmisch, und der Wind blies aus der Gegenrichtung. Hier legte sich mein Onkel auf ein ausgebreitetes Leintuch, verlangte mehrmals kaltes Wasser und trank. Dann treiben die Flammen und der Vorbote der Flammen, der Schwefelgeruch, die andern in die Flucht, ihn veranlassen sie zum Aufstehen. Gestützt auf zwei junge Sklaven erhob er sich und brach sogleich wieder zusammen, weil ihm, wie ich vermute, durch die zu dicke Luft das Atmen verunmöglicht und die Luftwege verschlossen wurden, die bei ihm von Natur aus schwach und eng und häufig entzündet waren. Als es wieder Tag wurde – es war nach dem, den er zuletzt erlebt hatte, der dritte –, fand man seine Leiche unversehrt, unverletzt und mit den Kleidern, die er zuletzt getragen; sein Aussehen glich eher einem Schlafenden als einem Toten.4

Dieser Bericht vom Tod des Plinius ist durch Aufbau und Stil einer der beeindruckendsten Brieftexte des Altertums. Auch die Genauigkeit in der Beschreibung der Ausbruchsphasen hat späteren wissenschaftlichen Untersuchungen standgehalten; Rekonstruktionen des eruptiven Verlaufs anhand der Schichtung des Auswurfmaterials haben den Bericht bestätigt.5

Die Briefe Plinius’ des Jüngeren waren seit 1502 in gedruckter Form zugänglich. Man kann sich also fragen, warum die Autoren des 16. Jahrhunderts sich nicht genauer an diesen detailreichen historischen Text hielten. Was führte zu der eigenartigen Verkürzung der Erzählung vom Tode des älteren Plinius, wobei nun die ursprüngliche Absicht des Gelehrten – das Naturphänomen näher in Augenschein zu nehmen – für die Tat selbst genommen wurde? Hätte nicht eine um nur wenige historische Elemente erweiterte Erzählung, in der auch die Änderung des Plans und der Rettungsversuch, der im eigenen Tod endete, einen Platz gefunden hätten, eine ebenso charakteristische und staunenswerte Geschichte ergeben? Im Kontext der naturgeschichtlichen Prodigien war dies offenbar nicht der Fall. Denn staunenswert war an der vom Neffen überlieferten Geschichte vor allem der große Gleichmut im Angesicht der näherrückenden Bedrohung. Plinius, von dem man weiß, dass er der Lehre der Stoa zuneigte, war in der Erzählung des Neffen zum moralischen Vorbild geworden – doch gerade diese Eigenschaft war im naturgeschichtlichen Kontext nicht entscheidend. Es ging den Autoren des 16. Jahrhunderts nicht darum, die Reihe der um ihrer virtus gepriesenen Römer zu erweitern, sondern darum, den Einen zu zeigen, der sein Leben bis zum letzten Augenblick der Erkundung der Natur geweiht hatte. Plinius, von dem der Neffe berichtet, er habe noch auf dem Schiff seine Beobachtungen diktiert – und von dem es in einem anderen Brief heißt, es sei seine Gewohnheit gewesen, sich sogar während des Essens vorlesen zu lassen und Notizen zu machen6 –, dieser Plinius war staunenswert um seines unerhörten Wissensdranges willen. So zog sich für die Autoren des 16. Jahrhunderts in der Erzählung vom Tod im Feuer des Vulkans das ganze Wesen dieses großen Neugierigen zu einer unüberbietbar eindeutigen Sinnfigur zusammen. Auch in späterer Zeit war es nicht die moralische Tat der Fahrt zu den Menschen von Stabiae, die es wert gewesen wäre zu memorieren, sondern das ins Extreme gesteigerte Wagnis des Naturstudiums (Abb. 2).


Abb. 2: „Die Naturerforschung: Plinius sucht zu ergründen/muß dadurch sein Leben enden.“ Kupferstich aus Cesare Ripa, Iconologia, in der erweiterten Ausgabe von J. G. Hertel, 1758–60 (Ausschnitt)

Den Autoren der Prodigienbücher geriet aus dem Blick, dass Plinius eigentlich einer der Ihren war – denn Plinius war wie sie vor allem ein Kompilator gewesen. Zu Anfang seiner Naturalis historia spricht Plinius davon, dass er 20 000 Fakten aus 100 Schriftstellern zusammengetragen habe.7 So geht das Wenige, was die Naturalis historia immerhin an eigenen Beobachtungen enthält, in der Masse des Übernommenen unter. Selbst die Grundeinstellung der Prodigienverfasser des 16. Jahrhunderts findet sich bei Plinius. Auch ihm geht es um das Entlegene und Staunenerregende. In der Naturalis historia heißt es: „Je mehr ich die Natur beobachte, desto weniger bin ich geneigt, irgendeine Aussage über sie für unmöglich zu halten.“8 Gewiss, er äußert hin und wieder Skepsis gegenüber manchen allzu frei fabulierenden Vorlagen, und er räumt auch dem täglich Erfahrbaren Platz ein, doch von irgendeiner Absicht, das Besondere mit dem überprüfbar Allgemeinen zu vermitteln wie es zum Beispiel für den in Regeln und Klassen denkenden Aristoteles charakteristisch war –, ist bei Plinius nichts zu spüren. Das „Wundersame“ sucht Plinius um seiner selbst willen auf, ob es nun um die Erzählung von Menschen geht, die sich auf einem einzigen riesenhaften Fuß fortbewegen, oder um die Eigenschaft des Diamanten, der sich nur dann spalten lässt, wenn man ihn in das warme Blut eines Ziegenbocks taucht.9 So kann denn auch bei Plinius von einem „Aufdecken der Geheimnisse der Natur“ im Sinn einer Suche nach den Ursachen in der Natur, wie es ihm die Prodigienautoren unterstellen, kaum die Rede sein. Tatsächlich zeigt auch der Brief des Neffen, dass Plinius die Aschenwolke des Vesuv lediglich genauer betrachten wollte. Von einer Ergründung der Ursachen des Phänomens wird nicht gesprochen.

Gleiches gilt für die Darstellung von vulkanischen Phänomenen in der Naturalis historia. Geradezu programmatisch setzt Plinius die Wunderformel an den Anfang seines Abschnitts über die Feuerberge: „Aber unter den Wundern der Berge: der Ätna glüht stets bei Nacht und nährt seine Feuer mit genügend Brennstoff für sehr lange Zeit.“10 Die darauf folgende Beschreibung dieses berühmtesten aller Vulkane des Altertums ist nur zwei Sätze lang und wird schnell abgelöst von der Aufzählung weiterer vulkanischer Erscheinungen im Mittelmeerraum (die im geografischen Teil der Naturalis historia noch kurz ergänzt werden). In Kampanien entgehen Plinius die vulkanischen Phänomene fast ganz: Die Besonderheiten der Phlegräischen Felder werden nur kurz gestreift, und unerwähnt bleibt, dass der Vesuv in seiner Gipfelregion Spuren eines alten Vulkanismus zeigt. Für Plinius ist der Vesuv mit seinen fruchtbaren Hängen kein schlafender Vulkan, sondern ein Berg wie jeder andere.11 Nun hatte es zwar seit Menschengedenken keinen Ausbruch des Vesuv gegeben, doch Gelehrte wie Strabon, dessen Schriften Plinius kannte, hatten den Berg immerhin als erloschenen Vulkan gedeutet.12

So reflektieren die Erzählungen des 16. Jahrhunderts vom Tod des Plinius – wie unbewusst auch immer – zugleich die Lücke in der Naturalis historia. Da dies Werk nur knapp aufzählend und gleichsam aus der Ferne über Vulkanisches berichtet, konnte dem Renaissanceleser die genaue Beschreibung eines Vulkans aus der Nähe als ein von Plinius selbst empfundenes Desiderat erscheinen. Zugleich aber verwies der tödliche Ausgang dessen, was als das „letzte plinische Projekt“ gelten konnte, auf das Paradox, dass das Erfassen einer solch unerhörten Naturerscheinung zwar die Annäherung verlangt, dass die Nähe aber den Neugierigen verzehrt.

Wenn in den Prodigienbüchern auch die Monster und erschreckenden Himmelserscheinungen überwiegen, so verzichtet doch kaum einer der Autoren auf die Erwähnung von Erdbeben und Vulkanen. Dabei kommt es zu starken Standardisierungen, auch dann, wenn sich die Verfasser von neuem Erfahrungsmaterial leiten lassen, das sie aus den Berichten von Entdeckungsreisenden beziehen.13 Wundersam sind Vulkane vor allem deswegen, weil, wie betont wird, derjenige, der sich einem aktiven Vulkan nähert, auf eine verkehrte Welt stößt. Der Aufstieg zur kalten Spitze des Berges führt in seine heißeste Region. Im Aschenregen wird der Tag zur Nacht, während die Nacht taghell wird durch die glühende Lava. Das Feuer des Vulkans ist flüssig wie Wasser.14 Wirft man Erde in vulkanische Öffnungen, wird das Feuer gelöscht, Wasser dagegen facht das Feuer an.15 Die lebensbedrohendste Landschaft ist zugleich die fruchtbarste.

Damit benennen die Texte des 16. Jahrhunderts ein wichtiges Strukturmerkmal der Erfahrung, das für die Wahrnehmung des Vulkans auch noch lange nach dem Verschwinden dieser das Paradoxe privilegierenden Schreibtradition bestimmend sein wird. Der Vulkan wird immer wieder als ein Ort der Verkehrung erlebt werden. Das zeigt im 18. Jahrhundert Goethes fasziniertes Erschrecken ebenso wie die Freude des Marquis de Sade am bouleversement der Natur. Selbst unser heutiger, noch immer vom aktiven Vulkan gebannter Blick hat mit solch sinnverwirrender Suspendierung der Alltagserfahrung zu tun: Das Anorganische „lebt“, das Steinerne wird zum Leichtesten und Flüchtigsten.

Überstieg auch die Wissbegier des 16. Jahrhunderts nicht immer die Stufe des Wunders und gab sich oft mit der Haltung des Erstaunens vor dem kaum zu Deutenden zufrieden, so war damit freilich nicht jede Bewegung der Neugierde stillgestellt. Die menschliche Neugierde mit ihrer Zieloffenheit und Wahrnehmungsmobilität ließ sich im Zeitalter der kontinentalen Entdeckungen nicht mehr an textuell Vorgegebenes fesseln. Sie verließ die Phase des Wunders, in der das alte christliche Verbot der curiositas in seiner Radikalität schon nicht mehr gegolten hatte, in der es aber auch noch nicht vollständig entmachtet war.16 Nun begann eine „nach vorne gerichtete“ Geschichte der Wahrnehmung, die ihre Legitimation zwar auch noch aus dem plinischen Modell beziehen konnte – Plinius als der große Wissenshungrige –, die aber gerade das maßlos Kompilatorische der plinischen Schriften als Erfahrungshindernis verwerfen musste.

Es sind nun oft die fernab von den europäischen kulturellen Zentren sich bewegenden „Neugierigen“ – Seeleute, Kolonialbeamte, Kaufleute und Missionare –, die ohne den Ballast des immer schon Geschriebenen erste Versuche unternehmen, die rätselhaften Phänomene des Vulkanischen genauer zu erfassen.17 Oft überwiegen hier der chronikalische Gestus und die bloße Bestandsaufnahme der angerichteten Schäden, doch wie schon der Brief Plinius’ des Jüngeren zeigt, kann auch die detaillierte Chronik eines Ausbruchs zu ersten wichtigen Erkenntnissen führen. Es ist die Kombination von eigener Neugierde und der Pflicht zu genauem Berichten, die in der Zeit der Entdeckungen und der ersten Kolonialreiche einer neuen Empirie den Boden bereitet. Besondere Brisanz gewinnen frühneuzeitliche Berichte über Besteigungen von Vulkanen. Ein Beispiel aus der Geschichte der portugiesischen Eroberung der Molukken zeigt etwas von dem neuen Geist, der dafür sorgt, dass die befreite Neugierde dem immer schon Gewussten und zu mythischer Erzählung Geronnenen den Kampf ankündigt. Es ist die Geschichte einer Ermächtigung (Abb. 3).


Abb. 3: „António Galvão“, zeitgenössischer Holzschnitt

Der Bericht über die Besteigung des Vulkans von Ternate findet sich in der Geschichte der Entdeckung und Eroberung Indiens durch die Portugiesen, einem in schlichter Sprache geschriebenen Werk über die Ruhmestaten portugiesischer Seefahrer und Gouverneure, das 1551–61 erschien.18 Der Autor, Fernão Lopes de Castanheda, war in den Jahren 1528–38 selbst in Asien gewesen. Allerdings weist in der folgenden Passage nichts darauf hin, dass er die Besteigung selbst miterlebt hat.19 Im Zentrum dieses und weiterer Kapitel von Castanhedas Werk steht António Galvão, Gouverneur des Archipels seit 1536, der für den Chronisten zum idealen christlichen Statthalter wird, mit der Fähigkeit zur Befriedung der von den Portugiesen eroberten Gebiete (Abb. 4).

Die Mauren des Landes [= die mohammedanischen Inselbewohner] wollten glauben machen, dass es auf dem höchsten Punkt der Insel zwei große Schlünde gäbe, wobei in dem einen stets Feuer und dem anderen kochend heißes Wasser sei, und dass dieses Wasser gleich einer Lagune wäre, von einem Sandstrand umgeben, wo man Fußspuren von Menschen fände, manche eine Elle und andere zwei Ellen lang. Diese Menschen besäßen eine riesige Größe und übermäßige Kräfte, und sie ernährten sich von wilden Tieren, die es dort gäbe; und es seien diese Menschen, die das Feuer entfachten. Niemand habe bisher gewagt, dorthin zu gehen, weil der Ort sehr steil und kalt sei und weil man dort auf eben diese Menschen stieße. Diese Kunde hätten sie von ihren Vorfahren. Und sie erzählten auch andere staunenerregende Dinge, denen António Galvão einigen Glauben schenkte, da er einige Male von der Festung aus gesehen hatte, wie das Feuer im April, Mai, September und Oktober auf diesem Berg emporschoss […], und zwar wesentlich stärker, wenn sich der Regen mit dem Wind mischte. Und sobald dieses Feuer emporschoss, gab es eine so schreckliche und fürchterliche Explosion, dass die ganze Insel zitterte und sich sogleich ein dicker schwarzer Rauch erhob, mit großen Feuerzungen, dem Schlund der Hölle ähnlich, von dem berichtet wird. Und Steine springen in die Luft, groß wie Kisten und glühend, die im Umkreis einer Meile niederfallen, so groß ist die Kraft, die sie hervortreibt. Und danach fällt eine große Menge Asche nieder, die ringsum eine beachtliche Fläche bedeckt; und wenn dieses Feuer brennt, gehen die Bewohner der Insel wie auch die der anderen Orte hinaus, wobei sie viel zu erschrocken sind, um hinzusehen, obgleich sie daran gewöhnt sind. Und als António Galvão alle diese Wunder von dem Berg gehört hatte, beschloss er, ihn aus der Nähe zu betrachten, obwohl er auch vernommen hatte, dass weder die Bewohner des Landes noch die Portugiesen, welche die Besteigung versucht hatten, sich dorthin hatten begeben können. Denn er war neugierig auf seltsame Dinge.20

Galvão, der dafür gesorgt hat, dass das Fort in sicheren Händen zurückbleibt, macht sich mit zehn Dienern, drei Portugiesen und zwanzig Eingeborenen auf den Weg. Das Ziel der Unternehmung ist den Begleitern zunächst nicht bekannt, und als sie es erfahren, kehren einige von ihnen sofort um. Für die Übriggebliebenen sind die Schwierigkeiten des Aufstiegs groß: Zu bewältigen sind tiefe Geländefurchen, ein unüberwindlich erscheinender Felsvorsprung und ein nur mit Hackmessern zu durchdringender Regenwald.

Und er ging weiter mit ihnen durch einen Wald mit großen Laubbäumen, bis sie zu einem anderen Wald gelangten, dessen Bäume ganz zerknickt und gespalten waren; und der Boden sah aus wie von Schweinen bearbeitet. Und es gab Steine, große und kleine, von denen manche tief ins Erdreich eingeschlagen und andere an der Oberfläche geblieben waren. Dies waren die vom Feuer getriebenen Geschosse, welche die Schäden im Wald verursachten; und der Ort war so erschreckend, fürchterlich und dunkel, weil die Sonne dort nicht hinkam, dass es schien, dass dort die Dämonen wohnten; und tatsächlich waren sie alle von Angst ergriffen. Und als sie ihren Weg fortsetzten, verließen sie das Dickicht und sahen die Sonne, die ihnen Mut zurückgab. Indem sie sich einen Weg durch den dichten Wald mit sehr großen Bäumen bahnten, die vom Feuer geröstet waren und sofort zerbrachen, gelangten sie an einen Ort, der einen Radius von einer Meile hatte und der völlig mit Asche und mit bröckeligem Schutt bedeckt war. Dies alles war Folge des Feuers, und in der Mitte befand sich der Schlund, aus dem das Feuer hervorkam. Die Mauren wollten sich vor Angst nicht weiter aus dem großen Wald herauswagen, ebenso die Portugiesen, als sie dies sahen. Galvão ließ sie dort zurück und ging auf den Feuerschlund zu. Als dies einer aus der Gruppe sah, ein Schwarzer mit Namen Miguel Anjo, erregte er sich über die Diener des António Galvão, weil sie diesem nicht folgten. Und sie überwanden sich, weil sie die Schande fühlten. So liefen die Mauren, die ihren Mut wieder gefunden hatten, ihm nach, und er kam an den Feuerschlund, der groß und rund war und an verschiedenen Stellen Rauch entweichen ließ. Und zum Inneren führten einige Stufen aus lebendigen Steinen in eine Wendel hinab, welche das Feuer geschaffen hatte. Dies war so gut geraten, als wenn man einen Kompass benutzt hätte, und einige Portugiesen und Mauren stiegen hinab, weil es dort nicht sehr hoch war und weil sie einige grüne und gelbe Flecken sehen wollten, die auf den Steinen erschienen, wobei sie erkannten, dass es Bitumen war. Dies brachten sie mit, und es wurde wie Öl, nachdem es eine Nacht im Wasser gelegen hatte. Und während sie aufbrachen, um nach der Lagune mit kochendem Wasser zu suchen, die es dort gar nicht gab, erhob sich ein Wind, so dass der Rauch sofort begann, aus dem Schlund hervorzugehen. Und sie brachten sich in Sicherheit, so schnell sie konnten. Und Gott wollte nicht, dass das Feuer emporschösse, weil keiner dies überstanden hätte. Und so kehrten sie alle in die Festung zurück, wo man sie für tot gehalten hatte, und groß war das Erstaunen, sie lebend wieder zu sehen. Und die Mauren hielten es für eine Großtat, dass António Galvão den Mut gehabt hatte, diesen Schlund zu besehen und sich ihm zu nähern. Und sie sahen ihn an, wie auch diejenigen, die mit ihm gegangen waren, wie man etwas Sonderbares ansieht.21


Abb. 4: „Ternate“, Kupferstich aus François Valentyn, Oud en Nieuw Oost-Indi n, 1724–1726

Die Erzählung der Bewohner von Ternate verschafft dem Naturgeschehen eine anthropomorphe Dimension: Das Vulkanfeuer gehorcht dem Willen menschenähnlicher Wesen. Es sind riesenhafte Gestalten, wie sie auch aus anderen Vulkansagen bekannt sind.22 Die mythische Erzählung zielt auf Begreiflichkeit und Begründung, doch bleibt hier einiges unerklärt. So erhält zum Beispiel die heiße Lagune, die vermutlich auf die Beobachtung zurückgeht, dass Wasserdampf an den Eruptionen des Pic de Ternate beteiligt ist, in dem Treiben der Riesenmenschen keine Erläuterung.

Bezeichnend im Kontext von Castanhedas Geschichte der „christlichen Eroberung“ Asiens ist, dass der mohammedanische Glaube, dem die Inselbewohner durch ihren jahrhundertelangen Kontakt mit der arabischen Welt anhängen, offenbar nur eine dünne Schicht bildet, die für ältere Vorstellungen durchlässig bleibt. Nun lassen sich zwar auch für die christlich-europäische Neuzeit genügend vorchristliche Beispiele der Naturimagination beibringen,23 doch der Bericht des Chronisten Castanheda lässt solche traditionellen Formen des Naturglaubens gegenüber dem Projekt der modernen Welterkundung als hoffnungslos inadäquat erscheinen.

Entschiedener Vertreter dieser neuen Einstellung ist António Galvão. Dabei beginnt auch für ihn alles mit dem Staunen über den wundersamen Feuerberg. Doch während das Staunen der anderen, ähnlich dem Staunen in den Prodigienbüchern, sich im machtlosen Verharren vor der dunklen Gewalt erschöpft, ist für Galvão das Wunder des Vulkans Anreiz zum Überschreiten einer Grenze. Dabei spielt das Paradox eine Rolle, dass die Wahrheit der Erzählung der Inselbewohner durch deren Vorfahren als verbürgt gilt, dass zugleich aber beteuert wird, kein Mensch hätte je diesen Schreckensort aufsuchen können. Welcher Wert kommt dann also der Rede von dem doppelten Schlund zu? Galvão entschließt sich zu einer gefahrvollen Autopsie.

Indem António Galvão den Krater selbst in Augenschein nimmt, zeigt er sich in einer spezifischen Tradition: Die portugiesischen Seefahrer sind zu diesem Zeitpunkt bereits seit über hundert Jahren als überaus geschickte Navigatoren und genaue Geografen tätig. Ihre Kunst der Kartierung und Navigation hat zu einer bis dahin unvorstellbaren Erkundung und Eroberung weit entfernter Inselreiche geführt. Es ist dieses frühkoloniale Projekt, das den Rahmen für die Neugierde Galvãos abgibt. Wahrscheinlich bestand im 16. Jahrhundert zu keinem Zeitpunkt eine politische oder ökonomische Notwendigkeit, den Pic de Ternate zu erkunden, doch die gleichsam innervierten Haltungen des portugiesischen Seefahrers – Mut, Ausdauer und Lust an der Empirie des Fremden – treiben Galvão hinauf und lassen ihn selbst dann weitergehen, wenn die Begleiter angstvoll zurückbleiben. Am Ende steht ein Triumph: der Sieg des forschenden, nichts für unüberwindlich haltenden Geistes über ein älteres Weltverhältnis, das sich mit einem in immergleicher Rede festgelegten Wissen bescheidet. Von diesem älteren Horizont aus gesehen, erscheint der, der das Undenkbare gewagt hat, sich nun genauso weit „draußen“ zu befinden wie die staunenerregende Naturerscheinung selbst: Er wird selbst zum Wunder.

Schönheit und Schrecken der Vulkane

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