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5 Todesursache „Nasenzahn“ – ein Neolithiker aus Schwetzingen mit verhängnisvoller Fehlbildung

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Zu den Top Ten der Todesart natürlicher Tod gehören in Deutschland Herzinfarkt, Lungen- und Darmkrebs sowie Schlaganfall. Von den 868.356 im Jahr 2014 in Deutschland Verstorbenen erlagen allein 39 Prozent Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems und 26 Prozent bösartigen Neubildungen. Dagegen ist beispielsweise die sogenannte fatale familiäre Insomnie (tödliche familiäre Schlaflosigkeit) – sie befällt das zentrale Nervensystem, wird autosomal dominant vererbt, trifft Männer und Frauen gleichermaßen und verläuft zu 100 Prozent letal – extrem selten. Deren ersten Symptome treten im Schnitt mit 50 Jahren auf. Aber auch tödliche Krankheiten hinterlassen keineswegs immer Spuren am Skelett, so zum Beispiel Ebola oder Pest, die den Betroffenen zu schnell töten, als dass der Körper zum Beispiel mit Veränderungen am Knochen darauf reagieren könnten. Andere Infektionskrankheiten wie Tuberkulose oder Syphilis manifestieren sich nur bei einem bestimmten Prozentsatz der Erkrankten an bevorzugten Skelettelementen (Wirbelsäule, Schädel, Langknochen). Bei der Lepra können unter Umständen Jahrzehnte zwischen der Infektion und dem Auftreten charakteristischer Knochenläsionen liegen, in denen der Betreffende reichlich Gelegenheit hat, einer anderen Todesursache zum Opfer zu fallen.

Erste Gräber waren Ende 1988 bei Erschließungsarbeiten für ein neues Wohngebiet in Schwetzingen entdeckt worden. Nach Abschluss der Ausgrabungen im Gewann „Schälzig“ im September des Folgejahres lagen auf einer Fläche von 4000 m² mehr als 200 Bestattungen vor, die der frühneolithischen Kultur der Bandkeramik zugeordnet werden konnten. Trotz der langen Liegezeit von rund 7000 Jahren waren die menschlichen Überreste sehr gut erhalten – sie dienen bis heute als Ausgangsmaterial für Wachstumsstudien, Isotopen- und DNA-Analysen zur Untersuchung der damaligen Lebensverhältnisse. Im Zuge der anthropologischen Bearbeitung kamen dann die Befunde zutage, die das traurige Schicksal eines Bandkeramikers offenbarten.

Grab 6 gehört zu den Bestattungen, die bei den Bauarbeiten angeschnitten worden waren – es fehlen der rechte Unterschenkel und beide Füße. Den Verstorbenen hatte man, abweichend von der zeitüblichen seitlichen Hockstellung, in Rückenlage mit nur leicht nach rechts angewinkelten Beinen und über der Brust zusammengeführten Händen niedergelegt und mit einem Steinbeil (Flachhacke) sowie einem Knochengerät ausgestattet. Sein Schädel war auf die linke Seite gekippt, sein Mund stand weit offen, als würde er einen letzten Schrei ausstoßen. Die Weisheitszähne waren bereits durchgebrochen und vollständig entwickelt, ihre Kauflächen aber noch kaum abgenutzt. Das zum Brustbein weisende Ende des Schlüsselbeins, die Wirbelscheiben und der Beckenkamm sind verwachsen. Die Symphysenfuge am Becken weist noch klar strukturierte Riefen auf. Demnach lässt sich ein Sterbealter von 25 bis 30 Jahren annehmen. Die überwiegende Zahl der Einzelmerkmale, die am Schädel wie auch am Becken zur Geschlechtsdiagnose herangezogen werden können, weist die Person zweifelsfrei als Mann aus. Er war etwa 1,69 m groß, auffallend grazil gebaut und mit lediglich schwachen Muskelansatzstellen versehen. Es finden sich dezente Hinweise auf Mangelerscheinungen und am linken Schienbein Spuren einer Knochenhautentzündung. Den interessantesten Befund liefert jedoch das Gebiss des jungen Mannes.

Als Erstes fielen markante Stellungsanomalien ins Auge, vor allem nach buccal verkippte Backenzähne im Unterkiefer, einhergehend mit fortgeschrittenen Auflösungserscheinungen des Alveolarknochens und übermäßigen Konkrementablagerungen. Die Symptome sind auf der linken Seite deutlich stärker ausgeprägt als rechts. Dort sind sogar die Kauflächen der Backenzähne von Zahnstein überkrustet, was darauf hindeutet, dass der Mann aus Grab 6 in den letzten Wochen oder Monaten seines Lebens kaum noch feste Nahrung zu sich genommen hat. Weitere Veränderungen sind ein stark atrophierter und deformierter linker Unterkieferast mit feinporösen Knochenauflagerungen, wie sie ebenso am linken Jochbein und in der linken Schläfenregion zu beobachten sind – alles offenbar auf einen weit ausgreifenden entzündlichen Prozess zurückzuführen, der die gesamte linke Gesichtshälfte betraf. Als Entzündungsherd kann ein unter Zahnmedizinern als Mesiodens bezeichneter zusätzlicher Zahn ausgemacht werden, der links neben der Crista nasalis zwischen den beiden mittleren oberen Schneidezähnen in umgekehrter Richtung gewachsen ist und hier über 9 mm in die Nasenhöhle hineinragt: ein sogenannter Nasenzahn mit konischer Krone und fast 19 mm Länge, der als Ursache des Gesamtbefundes angesprochen werden kann. In seiner unmittelbaren Umgebung finden sich besonders massive Entzündungserscheinungen. Der junge Bandkeramiker aus Grab 6 dürfte demnach über längere Zeit von heftigen Fieberschüben geplagt und letztlich qualvoll an einer Sepsis gestorben sein. Die zusätzliche Zahnanlage, die während des zweiten Schwangerschaftsmonats durch Abkapselung von aktiven Zellen der Lamina dentalis im Mutterleib erfolgte und für die äußere Einflüsse während der Embryonalentwicklung wie auch genetische Faktoren – vielleicht mit dem X-Chromosom verlinkt – als Ursachen diskutiert werden, war sein Todesurteil.


Schwetzingen, Grab 6. Das Gebiss des 25- bis 30-jährigen Bandkeramikers weist im Oberkiefer einen zusätzlichen Zahn (Neoplasma) auf, der nach oben in Richtung Nase gewachsen ist. Das Gebilde wird als „Nasenzahn“ bezeichnet.

Mesiodentes treten heute zweimal häufiger bei Männern auf als bei Frauen. Sie sind an sich gar nicht so selten (0,1 bis 2 Prozent), verharren jedoch meistens im Kieferknochen, gehen bisweilen mit einer Zahnlücke zwischen den oberen mittleren Schneidezähnen (Diastema) einher und werden vom Zahnarzt am ehesten bei der Anfertigung eines Orthopantomogramms, einer Panorama-Röntgenaufnahme des Gebisses, entdeckt. Dass sie in umgekehrter Richtung wachsen und in die Nasenhöhle durchbrechen, ist allerdings eine absolute Rarität. Heutzutage hätte man einen solchen Nasenzahn operativ entfernt, Antibiotika verabreicht, und die Sache wäre erledigt gewesen.

Hinsichtlich der Diskussion über eine erbliche Komponente bei der Ausbildung eines Mesiodens kommt einer zweiten Grablege aus Schwetzingen besondere Bedeutung zu: Grab 26, ebenfalls am Westrand des Friedhofs angelegt und nur fünf Meter von Grab 6 entfernt. Hier war der Leichnam eines sehr schlank gebauten, rund 1,70 m großen, etwa 30-jährigen Mannes in linksseitiger Hockstellung, mit sekundär in Bauchlage verkipptem Oberkörper, stark angewinkelten Armen und beiden Händen vor dem Gesicht beigesetzt worden. Man hatte ihm vier Pfeile und einen sogenannten Schuhleistenkeil – sämtlich offenbar in einem Köcher über der linken Schulter getragen – mitgegeben. Sein Skelett weist diverse morphologische Ähnlichkeiten mit dem Mann aus Grab 6 auf, unter anderem eine eher frauentypisch scharfkantige obere Begrenzung der Augenhöhle. Nur die Armknochen lassen ein kräftigeres Muskelmarkenrelief erkennen, was in Kombination mit einem deformierten linken Daumen auf exzessiv betriebenes Bogenschießen hindeuten könnte.

Auch dieser Mann trägt einen Mesiodens: 15,3 mm lang, mit Wuchsrichtung Nasenhöhle, aber (noch) nicht durchgebrochen – in diesem Fall passend zu markanten Stellungsanomalien im Bereich der oberen Frontzähne. Dazu kommen eine starke Interdentalabrasion, die auf häufig grobe Nahrungsbestandteile schließen lässt, sowie deutliche Hinweise auf Mangelsituationen, die über längere Zeiträume andauerten. Neben dem schlechten Allgemeinzustand sind keine Hinweise auf die Todesursache zu finden.

Alleine dass ein derart seltenes Phänomen unter zweihundert Bestattungen gleich bei zwei Personen auftritt, die zudem noch nahe beieinander beerdigt wurden, lässt eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen den beiden vermuten. Es könnte sich um Onkel und Neffe, um Brüder oder vielleicht sogar Zwillinge handeln. Auch eine Verwandtschaft über die väterliche Linie ist denkbar. Man darf gespannt sein, was die aktuell in Arbeit befindlichen DNA-Analysen ergeben werden.

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