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I Das Skelett – Archiv des Lebens 1 „Gratuliere, Ihr Kind ist ein Schwein“ – die Römer in Schwäbisch Gmünd

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In diesem Kapitel sollen zwei Aspekte näher beleuchtet werden, die bei der Knochenarbeit von wesentlicher Bedeutung sind: die Unterscheidung von Menschen- und Tierknochen und die Begutachtung von verbrannten Skelettresten. Vor allem Letzteres stellt besondere Anforderungen an die Erfahrung des Bearbeiters. In zwei Fällen, bei denen der Verdacht bestand, das Opfer eines Verbrechens könnte vom Täter verbrannt worden sein, war der Autor als Gutachter involviert. Doch beide Male stellte sich heraus, dass die in der asservierten Ofenasche vorgefundenen Knochenteile tierischen Ursprungs waren.

Menschen von Tieren zu unterscheiden, vermag jedes Kleinkind. Aber von Fell oder Federkleid und jeglichen Weichteilen befreit, ist es nicht mehr ganz so einfach – sofern nicht gerade imposante Fangzähne, Hornzapfen oder Krallenbeine erkennbar sind. Auch Größe und Form der Knochen vermögen entscheidende Hinweise zu liefern. Das Problem stellt sich in der Regel auch seltener, wenn komplette Skelettreste vorliegen. Die große Herausforderung liegt darin, einzelne, vielleicht nur bruchstückhaft erhaltene Tierknochen zwischen menschlichen Überresten oder isolierte Menschenknochen unter größeren Mengen von Tierknochen aufzuspüren. Dabei hat es der Anthropologe im Prinzip einfach: Was nicht Mensch ist, muss Tier sein. Dann sind die Archäozoologen gefragt.

Aber, die Knochengröße ist nur bedingt aussagekräftig, denn Einzelknochen von Säuglingen oder Föten können durchaus mit „Hühnerbeinen“ verwechselt werden. Entscheidend sind die morphologischen Unterschiede zwischen den Spezies. Partielle Ähnlichkeiten in Form und Feinbau bestimmter Knochen- oder Zahnabschnitte bestehen etwa zwischen Mensch und Bär, Mensch und Pferd, besonders aber zwischen Mensch und Schwein. Sie hängen unter anderem damit zusammen, dass Bären und Schweine wie Menschen Allesfresser und Bären wie Menschen Sohlengänger sind und dass sich daher im Laufe der Evolution bei diesen Spezies vergleichbare Strukturen entwickelt haben. Die physiologischen Ähnlichkeiten von Schwein und Mensch wurden und werden in der Medizin oder auf experimenteller Ebene genutzt, zum Beispiel bei Crashtests, Transplantationsversuchen oder in der Herz-Kreislauf- und Trauma-Forschung.

Bei der Ansprache von Leichenbränden kommt erschwerend hinzu, dass Hitzeeinwirkung mit starker Fragmentierung sowie Schrumpfung und Deformation des Knochenmaterials einhergeht. Die Höhe der Temperatur, die auf den Knochen eingewirkt hat, lässt sich anhand typischer Veränderungen der Färbung, Konsistenz und Oberflächenbeschaffenheit, des Auftretens charakteristischer Hitzerisse oder mithilfe physikalisch-chemischer Nachweisverfahren bestimmen. Der Schrumpfungsgrad gegenüber frischen Knochen wird im Schnitt mit rund zwölf Prozent angegeben, kann aber bei vorwiegend spongiösen Partien bis 25 Prozent oder mehr betragen. Viele Leichenbrände zeigen indessen kein homogenes Erscheinungsbild – einzelne Skelettelemente dokumentieren unter Umständen verschiedene Verbrennungsgrade. Folglich kann der Bearbeiter versucht sein, die niedrigeren Temperaturen ausgesetzten, also weniger geschrumpften und deswegen robuster erscheinenden Knochen einer anderen Person zuzuschreiben, obwohl sie zu demselben Individuum gehören wie die stärker verbrannten und deshalb graziler wirkenden Stücke.

Auch hitzebedingte Verformungen können die Beurteilung erheblich erschweren. Dazu kommt, dass bei (prä-)historischen Leichenbränden häufig nur noch Bruchstücke im Zentimeterbereich angetroffen werden. Trotz aller dieser Einschränkungen sind Spezialisten in der Lage, einzelne Tierknochen aus menschlichen Brandresten und umgekehrt auszulesen. Für Tierknochen charakteristisch sind dabei neben anderem ihre zumeist glatte Innenund Außenoberfläche, gröbere Bälkchen im Bereich der Metaphysen und feinere Spongiosa im Bereich der Gelenkenden. Im Zweifelsfall hilft eine histologische Untersuchung weiter, denn unter dem Mikroskop zeigen sich markante artspezifische Unterschiede in Größe, Form und Anordnung der sogenannten Osteone, der kleinsten Bausteine des Knochens. Bruchstücke eines tierischen Schädeldachs können anhand typischer Strukturen auf der Innenseite oder des Verlaufs der zumeist enger gezackten, aber weniger kompliziert mäandrierenden Schädelnähte von den menschlichen Pendants unterschieden werden.


Der „Klassiker“ bei der Verwechslung von Menschen- und Tierknochen: Lose proximale Gelenkenden von Oberschenkelknochen von Mensch (obere Reihe) und Schwein (untere Reihe); a) Oberseite, b) Unterseite.

In Brandgräbern aus der Römerzeit sind Beimengungen von Tierknochen als Reste von Speisebeigaben nahezu obligatorisch. Mit weitem Abstand am häufigsten sind dabei Skelettteile vom Schwein vertreten. Aus antiken Schriftquellen ist überliefert, dass Schweinefleisch bei den Römern beliebter und gleichzeitig teurer war als Rindfleisch und deswegen wohl auch im Bestattungsritual eine bevorzugte Rolle spielte. Detaillierte Studien deuten auf Abstufungen, wonach das Alter und bestimmte Körperteile der Tiere auf das Alter und Geschlecht des Verstorbenen sowie dessen soziale Stellung abgestimmt waren.

Der entscheidende Faktor im Rahmen der Untersuchung ist der Anthropologe, denn nur die Tierknochen, die er im Leichenbrand als solche erkennt, werden von ihm separiert und zur weiteren Bearbeitung an den Archäozoologen übergeben. Das hört sich trivial an, doch es bedarf großer Erfahrung, um nichts zu übersehen. Idealerweise würde auch der Tierknochenspezialist das gesamte Konvolut noch einmal durchackern – aber das geschieht aufgrund des damit verbundenen zusätzlichen Zeitaufwands und Mangels Verfügbarkeit versierter Fachleute in der Praxis so gut wie nie.

Vor diesem Hintergrund seien exemplarisch einige Kenngrößen zum Brandgräberfeld vom Schirenhof bei Schwäbisch Gmünd vorgestellt. In Klammern erscheinen Vergleichszahlen zu den ebenfalls römerzeitlichen Friedhöfen von Stettfeld [SF] und Schankweiler [SW], um aufzuzeigen, wie stark die Ergebnisse voneinander divergieren können. Am Schirenhof wurden in 304 Gräbern (SF 307; SW 73) 27,2 Prozent Kinder und Jugendliche (SF 16 Prozent; SW 25 Prozent) gefunden. Unter den Erwachsenen herrscht ein deutliches Frauendefizit (SF leichter Männerüberschuss; SW nahezu ausgeglichenes Verhältnis) vor. Das durchschnittliche Sterbealter der Erwachsenen liegt bei etwas unter 40 Jahren (SF 41,5 Jahre; SW 38,7 Jahre). Die Leichenbrände der Frauen wiegen im Mittel 450 g (SF 530 g; SW 200 g), diejenigen der Männer 600 g (SF 770 g; SW 230 g). Der Anteil an Gräbern, die Tierknochen enthalten, beträgt knapp 60 Prozent (SF ca. 70 Prozent; SW 80 Prozent).

Um einige der aussortierten Tierknochen stichprobenartig zu prüfen und hinsichtlich ihrer Spezies bestimmen zu lassen, hatte der seinerzeit in Freiburg mit dem Schirenhof-Material beschäftigte Doktorand den damaligen Archäozoologen des Landesdenkmalamts Baden-Württemberg, Dr. M. Kokabi, um Mithilfe gebeten. Voller Stolz präsentierte er diesem auch die von ihm vorab als Mutter-Kind-Gräber bestimmten Doppelbestattungen. In diesem Zusammenhang fiel dann der legendäre Satz: „Gratuliere, Ihr Kind ist ein Schwein!“ Im vorliegenden Fall waren offensichtlich Knochenreste eines jungen Schweins versehentlich als menschlich angesprochen worden. Am Ende der Untersuchung lag der Anteil an Doppelbestattungen tatsächlich bei nur 1,6 Prozent (SF 3,6 Prozent; SW 9,6 Prozent plus eine Dreifachbestattung).

Die Brandgräber vom Schirenhof sind noch aus einem anderen Grund bemerkenswert: Bei vier Individuen (ein acht- bis zehnjähriger Knabe, eine jüngere Frau und zwei über 40-jährige Männer) wurden Anzeichen von Periostitis (Knochenhautentzündung), zum Teil vergesellschaftet mit Kallusbildungen, als mögliche Folge von Verletzungen angesprochen. Hier könnten Unfälle oder häusliche Gewalt infrage kommen. In einem Fall (50- bis 60-jähriger Mann) wurde vom Bearbeiter eine „tangentiale traumatische Abscherung am Schädeldach“ diagnostiziert, womit wahrscheinlich eine sogenannte Abkappung gemeint ist. Darüber hinaus sind aus der Literatur kaum Befunde aus Brandgräbern bekannt, die auf instrumentelle Einwirkung oder tätliche Auseinandersetzungen schließen ließen – am Schirenhof als römischem Militärstandort allerdings durchaus vorstellbar.

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