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Archetyp und Archaik: Plädoyer für eine normative Archäologie

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Wie nähert man sich dem Ursprung? Im Grunde ist das gar nicht so schwer: Man muss nur ein bisschen bohren und graben, eine juristische und moralische Archäologie betreiben, die das Archaische freilegt. Diese primitive, ursprüngliche, natürliche, kurz archaische Normativität liefert den Archetyp, den natürlichen Urtyp der nordischen Rasse. Die „Renovierung“ ist weniger Schaffen oder Einführung von Neuem als Wiederherstellung des Alten.

„Schicht um Schicht“ müssen die „Überschüttungen“ abgetragen werden, „um das unzerstörbare Gold deutschen Rechtsdenkens und deutschen Rechtslebens neu aufzuschürfen“.84 Diese Metaphorik des Versenkt- und Eingegrabenseins begegnet einem auf Schritt und Tritt. Alles an dieser ursprünglichen germanischen Kultur ist „Verschüttung“, „verschütteter Schatz“. Das ist zwar bedauerlich, gestattet aber auch ein wenig Hoffnung, weil man ja nur „ausgraben“ und „ans Licht tragen“ muss. Insofern ist das Problem tatsächlich leicht zu lösen, meint der Jurist Roland Freisler: „Die Kontinuität der lebendigen deutschen Rechtsentwicklung ist verschüttet worden“,85 begraben unter den Ablagerungen der Geschichte. Ähnliches behauptet auch das virile Geleitwort zur Reihe „Politische Biologie“, eine Aufsatzsammlung, erschienen bei dem berühmten Verleger Lehmann, einem Mäzen der Vordenker von Rassismus und Rassenhygiene seit den 1920er Jahren. Ziel dieser Reihe ist es, die „unserem Volk lange Zeit verschüttet gewesene arische Weisheit“86 zu erneuern, die „der Nationalsozialismus als erste und bisher einzige aller Staatslehren der Neuzeit erkannt und wieder zur Geltung gebracht“ hat, nämlich dass „eine nationalsozialistische Politik nur eine den Lebensgesetzen Rechnung tragende sein darf. Diesem Prinzip muß sich alles übrige im deutschen Leben einordnen.“ Für Herausgeber und Verfasser steht fest, „daß nur unter Beachtung der Grundlagen allen Lebens (Biologie) die Erhaltung der Lebensgrundlagen unseres Volkes (Politik) möglich ist“87.

Die Rassen sind stabile Phänomene, solange es nicht zu allzu heftigen Mischungen und Kontaminationen kommt. Dies gilt auch für den Rassengeist:

Das deutsche Rechtsgefühl ist stets das gleiche geblieben, wie eine Geschichte der Rechtswissenschaft auf rassischer Grundlage eindeutig beweist […]88 […] Das Recht hat nach indogermanischer Auffassung oder – rassisch gesprochen – nach der Auffassung der nordischen Rasse einzig und allein eine lebensgesetzliche Verrichtung – mit Fremdwörtern würde man sagen: biologische Funktion – auszuüben.89

Die Übernahme dieser Definition des Rechts durch den Nationalsozialismus bedeutet „Zurückfinden zur eigenen Art, Selbstbesinnung auf deutsche Art und deutsches Wesen“90. Dies findet die begeisterte Zustimmung des Innenministers Dr. jur. Wilhelm Frick, der in einem Beitrag zum Thema „Das nordische Gedankengut in der Gesetzgebung des Dritten Reiches“ Folgendes schreibt: „Wir haben dem Volk Gesetze gegeben, die diesem nordischen Gedankengut entsprechen. Wir wollen das Volk von dem Wahn internationaler Kreuz- und Querrassigkeit befreien und es zurückführen zu den reinen Quellen seines Wesens.“91

Das Zurückfinden zum ursprünglichen Empfinden und zum Rasseninstinkt hat eine doppelte Rechtfertigung: Es sorgt zum einen dafür, dass Sitten, Gebräuche und die Politik authentisch praktiziert werden; es erlaubt zum anderen den Anschluss an Wissensbestände und Reaktionsweisen, die nach Jahrtausenden von der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts voll bestätigt wurden. Im Lauf der Zeit hat sich der Instinkt zwar so weit abgestumpft, dass niemand mehr imstande ist, den Weg wiederzufinden, den die Natur uns weist, doch die Wissenschaft kann hier Abhilfe schaffen. Der Erbbiologe Ernst Lehmann zeigt sich erfreut darüber, dass der Mensch nunmehr über ein Wissen von Natur und Rasse verfügt, das es ihm gestattet, eine Beziehung zu den Gesetzen der Natur herzustellen, die er aufgrund verhängnisvoller Traditionen und kultureller Ablagerungen vergessen hatte: „Aufgabe der Biologie ist es, den ewigen Lebensgesetzen der Natur […] forschend nachzuspüren, die Kenntnis dieser Lebensgesetze zu verbreiten und in einer Zeit, in der weiten Kreisen der natürliche Instinkt verlorengegangen ist, den Weg, diesen Gesetzen nachzuleben, zu zeigen.“92 Glücklicherweise hat der Nationalsozialismus „ernst gemacht mit den lebensgesetzlichen Erkenntnissen. Ihm geht es wahrhaft um die Harmonie zwischen der Weltanschauung des deutschen Volkes und den Lebensgesetzen“93.

Die Germanen hatten auf der ganzen Linie recht, wie es die Erbbiologie in den Jahrzehnten vor der Machtübernahme dargelegt hat: „Wir müssen wieder ‚Dienst an der Rasse‘ treiben und zurück zu der bewundernswerten Weltanschauung unserer Vorfahren, die vor Tausenden von Jahren die erbliche Ungleichheit des Menschentums erkannt hatten […].“94 Die Verhaltensnormen, die dieses ursprüngliche instinktive Wissen hervorgebracht hat, wurden bestätigt von einer Wissenschaft, deren Ergebnisse die Gültigkeit der germanischen Moral belegen. So schreibt der Rassenhygieniker Arthur Gütt, SS-Angehöriger und einer der Väter des Zwangssterilisationsgesetzes vom 14. Juli 1933:

Da die Vererbungslehre uns nunmehr den Einblick in das Gesetz der natürlichen Vererbung […] gestattet, sollten wir den Mut zu Taten aufbringen, die unseren germanischen Vorfahren aus innerem blutsmäßigen Ahnen heraus jahrhunderte- und jahrtausendelang in vorchristlicher Zeit eine Selbstverständlichkeit waren.95

Was diese intuitiv wussten, ist nun wissenschaftlich belegt. Damit ist der Weg frei, auf diese Wissenschaft eine Politik zu gründen, das heißt Normen und Praktiken, Gesetze und Gebräuche. Dieser Rationalität und dieser wissenschaftlichen Grundlage lässt sich nichts entgegensetzen: „Nur eine mit den Ergebnissen der Erb- und Rassenforschung nicht im Widerspruch stehende Rechtsordnung kann vom deutschen Volke als gerecht und damit als richtig und artgemäß empfunden werden.“96

Zum Alten zurückkehren, um den Instinkt wiederzufinden, das Archaische wiederherstellen, um den Archetypus wiederzufinden, das ist eine der Aufgaben, die Himmler der SS stellt. So erläutert er in einer seiner typischen langen Reden, dass jeder neue Lebensabschnitt von einem jener alten Riten begleitet sein muss, die wiederzuerwecken er sich zur Aufgabe gemacht hat, „weil alles im Leben ja irgendwie durch Sitte geordnet sein muß“97. Es geht ihm dabei nicht um irgendwelche Sitten, sondern um solche, die, „davon können Sie überzeugt sein, dem alten Recht und den alten Gesetzen jahrtausendelanger Vergangenheit entsprechen“, denn „jede Lebensäußerung von uns muß allmählich wirklich in unsere innere Art hineinpassen“98. So erweckt Himmler das Fest der Sommersonnenwende neu und sorgt dafür, dass alle Feste des christlichen Kalenders ihren Ursprung und ihre ursprüngliche Bedeutung wiederfinden, so wie etwa Weihnachten nichts anderes ist als die christliche Fassung der Feier der Wintersonnenwende. Des Weiteren ordnet er an, dass jeder SS-Mann zu seiner Hochzeit einen Silberbecher erhält, dass der Leichnam bei Beerdigungen nach Norden ausgerichtet wird und dass die Kränze nicht aus ebenso übertriebenen wie geschmacklosen Blumengebinden bestehen, sondern „den Winter hindurch nur Kränze aus den Nadelhölzern – Fichte, Tanne oder Föhre – gegeben werden […] Im Sommer nehmen Sie Kränze aus Eichen- und Buchenlaubzweigen“99. Die SS-Publizistik veröffentlicht zahlreiche Artikel und Erläuterungen zur Bedeutung der Jul-Leuchter, dieser rituellen Beleuchtungskörper, zur Form des Weihnachtsgebäcks und zu den zahlreichen Runenelementen, die Ringe, Dolche und Revers zieren. Auch der Kalender der Fest- und Feiertage wird in einem offiziellen Führer100 sehr ausführlich dargestellt. All diese Veröffentlichungen, Diskurse und Praktiken, die heute noch angeführt werden, wenn vom realen oder vermeintlichen Okkultismus der SS die Rede ist, verweisen weder auf eine verbohrte Germanomanie, die es bei einigen tatsächlich gab, noch auf eine kitschige Esoterik, sondern auf die kohärente Absicht einer auf Riten gestützten Rückkehr zu den Ursprüngen und zum Rhythmus von Rasse und Welt: „Wir fühlen in uns den Puls der Jahrtausende“, so lautet ein ritueller Spruch vor den Sonnenwendfeuern.

In seiner zuvorkommenden Art bekräftigt Himmler, dass er keineswegs das Gewissen und Empfinden Andersdenkender verletzen wolle. Vielmehr wird man der Alten Welt in herablassender Menschlichkeit ihre Schimären und ihre Irrtümer lassen. Wenn die Frau eines SS-Manns bei seinem Tod einen Priester bestellen will, dann „habe ich nicht und haben wir nicht das Recht“, ihr, „der Frau eines Kameraden beim Tode ihres Mannes irgendwelche Dinge schwer (zu) machen“101. Das gilt auch für andere Gruppen:

Ich glaube, so müssen wir das bei den alten Leuten […] insgesamt halten und lassen. Ich habe deshalb auch überall Verständnis gezeigt[…], wenn mir jemand sagt: Mit Rücksicht auf meine Eltern muß ich mein Kind noch taufen. – Bitte! Jawohl! Man kann Menschen mit 70 Jahren nicht umwandeln. Es hat keinen Zweck, Menschen mit 60 oder 70 Jahren die Ruhe ihres Herzens zu stören. Das will das Schicksal und das wollen unsere Ahnen frühester Zeit nicht; die wollen lediglich, daß wir es für die Zukunft besser machen.102

Das „Ahnenerbe“, das wissenschaftliche Forschungszentrum der SS, und seine Zeitschrift Germanien sowie eine Vielzahl der von der SS herausgegebenen oder finanzierten Veröffentlichungen, ebenso wie diejenigen der Gottgläubigen, dieser antichristlichen und rassistischen Verehrer germanischer Gottheiten, erforschen unermüdlich diese Riten und ihren Sinn. Laut Himmler geht es darum, „dem deutschen Volk […] die außerchristlichen arteigenen weltanschaulichen Grundlagen für Lebensführung und Lebensgestaltung zu geben“. In einer ständigen dialektischen Bewegung zwischen Gegenwart und Vergangenheit soll „das Urbild der Ahnen“ erschlossen werden, um so für die SS „mit rein weltanschaulichem Willen das Weltbild der Germanen richtungsweisend für ihre eigene Daseinsform zu erwecken“103 und eine „Umwertung fast aller Jahrhunderte“ vorzunehmen als Grundlage der nationalsozialistischen Weltanschauung.

Das Gesetz des Blutes

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