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EINLEITUNG

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Im Jahr 1945 werden 18 Ärzte der Kinderklinik von Hamburg-Rothenburgsort von den britischen Besatzungstruppen der deutschen Strafjustiz überstellt. Ihnen wird die Ermordung oder Beihilfe zur Ermordung von 56 als krank geltenden Kindern mittels tödlicher Spritzen im Zeitraum zwischen 1939 und 1945 vorgeworfen. Das Landgericht Hamburg stellt im Jahr 1949 das Verfahren ein. Zwar wird laut Spiegel konstatiert: „‚Daß die Tötung von mindestens 56 Kindern im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort vorgenommen worden ist, steht objektiv fest […] – Außerdem sei klar, daß ‚die Tötung dieser Kinder objektiv rechtswidrig gewesen‘ sei.“ Gleichwohl halten sich die Richter an folgendes Argument: „‚Alle Angeschuldigten bestreiten […] ihre Schuld […], leugnen, überhaupt etwas Rechtswidriges getan zu haben […]‘“ und erklären, „‚an die Rechtmäßigkeit ihrer Handlungsweise geglaubt zu haben‘“.1

Die Ärzte haben tatsächlich in dieser Hinsicht gute Argumente auf ihrer Seite. Der Leiter des Klinik, Dr. Wilhelm Bayer, hat seinerseits die britischen Ermittler bereits wissen lassen, dass er die Anklage wegen „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ nachdrücklich zurückweise: „Was das angebliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit anbelangt, so muß ich das deshalb ablehnen, da ein solches Verbrechen nur gegen Menschen begangen werden kann, und die Lebewesen, die hier zur Behandlung standen, sind nicht als ‚Menschen‘ zu bezeichnen.“2 Dr. Bayer ist dabei durchaus aufrichtig. Er wiederholt lediglich, was Mediziner und Juristen seit Jahrzehnten den modernen Staaten raten: Sie müssten sich der überflüssigen Esser entledigen; diese seien lediglich ein Ballast, der ihre wirtschaftlichen und militärischen Leistungen beeinträchtige; diese kaum als Menschen zu betrachtenden Wesen seien minderwertige biologische Elemente, deren Erblasten und Pathologien sich auf dem Weg der biologischen Reproduktion übertragen. Diese Argumentation ist eine Folge der Entdeckung der Vererbungsgesetze, aber auch der Ängste der Jahrhundertwende und der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg. Als Antwort auf diese Befürchtungen und eindringlichen Aufforderungen erlässt die nationalsozialistische Regierung ein „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das zunächst die Sterilisierung von Individuen vorsieht, die von „Erbgesundheitsgerichten“ bestimmt werden, bevor im Oktober 1939 ein schriftlicher Befehl Hitlers deren Ermordung anordnet.

Die Hamburger Richter des Jahres 1949 finden das alles in Ordnung. Vier Jahre nach Kriegsende entlasten sie ihre Kollegen von der medizinischen Fakultät, indem sie noch deren merkwürdigste Argumente für stichhaltig erklären: „‚Dem klassischen Altertum war die Beseitigung lebensunwerten Lebens eine völlige Selbstverständlichkeit. Man wird nicht behaupten können, daß die Ethik Platos und Senecas, die u.a. diese Ansicht vertreten haben, sittlich tiefer steht als diejenige des Christentums.‘“3 Die humanistische Bildung, auf die sich viele Ärzte berufen, um zu rechtfertigen, was andere schockiert, ist Teil der gemeinsamen Erinnerung von Medizinern und Juristen an ihre Gymnasialzeit. Sie verfügen über die gleiche Bildung und die gleichen Ansichten: Ihr einziges Gesetz ist die „Biologie“ und deren Beglaubigung durch die Autorität der Antike im Gegensatz zu späteren, „lebensfeindlichen“ Normen.

Bayer wird zwar als Leiter der Klinik von Rothenburgsort entlassen, behält jedoch seine Zulassung zur Ausübung der Medizin. Diese wird im Jahr 1961 von der Hamburger Ärztekammer bestätigt, die sich nach der Veröffentlichung von Artikeln im Spiegel mit dem Fall befasst. Ein paar Jahre später gibt der Professor für Kinderheilkunde Werner Catel dem gleichen Magazin ein langes Interview. Der ehemalige Experte für die Operation T4 im gesamten Reichsgebiet – und als solcher verantwortlich für die Ermordung kranker Kinder – wischt jeden Vorwurf beiseite und plädiert wie eh und je für die Einrichtung von Kommissionen, bestehend aus Medizinern, Müttern, Juristen und Theologen, die über die Beseitigung unheilbar kranker Kinder entscheiden sollen. Diese Kommissionen erinnern sehr an die „Gerichte“, die von einem Gesetz des Jahres 1933 vorgesehen wurden. Dem Journalisten, der ihn daran erinnert, dass es in der Bundesrepublik die Todesstrafe nicht mehr gebe, entgegnet Catel:

Sehen Sie denn nicht, daß die Geschworenen stets über Menschen urteilen, wenn auch vielleicht über Verbrecher. Hier ist die Rede nicht von Menschen, sondern von Wesen, die lediglich von Menschen gezeugt wurden, die aber selber keine mit Vernunft oder Seele begabten Menschen sind oder je werden können.4

Arzt und Staat müssen aus purer „Humanität“5 handeln, um den Kranken, ihren Familien und der Gesellschaft unnötige Leiden zu ersparen. Die Ärzte Bayer und Catel verstehen nicht, inwiefern sie sich schuldig gemacht haben sollen. Die Kultur der Zeit mit ihrer humanistischen Bildung und der Staat brachten sie dazu, so zu handeln, wie sie es getan haben. Noch in der Nachkriegszeit gilt eine solche Argumentation als tragfähig, Gerichte pflichten ihnen bei und ein Leitmedium liefert ihnen eine Plattform. Sie selbst halten hartnäckig an ihrer Argumentation fest.

Die lange Reihe der „Nicht schuldig“-Behauptungen zu Beginn des ersten Nürnberger Prozesses ist wohl unter diesem Aspekt neu zu betrachten. Auf die Frage des Gerichts, ob sie sich als „schuldig“ oder „nicht schuldig“ betrachteten, antworteten ja alle Angeklagten verneinend. Diese lange Sequenz ist weithin bekannt und löst mit ihrem Zynismus bei jedem heutigen Betrachter unweigerlich Empörung und Zorn aus. Jeder Geschichtsinteressierte ist fassungslos angesichts der Erklärungen Eichmanns, der noch unmittelbar vor seiner Hinrichtung bestreitet, jemals unrecht gehandelt zu haben. Der gleiche Eichmann bekennt in seinen persönlichen Schriftstücken und seinen vertraulichen Mitteilungen an Freunde und Bekannte, er bedauere nur eines, nämlich dass er lediglich an der Tötung von fünf Millionen Menschen mitgewirkt habe, und nicht an der von elf oder zwölf, sprich der Gesamtheit der europäischen Juden6 laut Schätzung des Reichssicherheitshauptamts (RSHA).

Entgeistert nimmt man zur Kenntnis, was Otto Ohlendorf, Doktor der Wirtschaftswissenschaften, NSDAP-Mitglied seit 1925, Leiter der Einsatzgruppe D und als solcher verantwortlich für die Ermordung von 90.000 Menschen in der Ukraine und im Kaukasus, als Abschlusserklärung am Ende seines Prozesses in Nürnberg verlas. Im ganzen Verlauf des Verfahrens stritt er nichts ab, übernahm für alles die Verantwortung, verhielt sich dem Gericht gegenüber kooperativ und schloss mit einer demonstrativen Verteidigung seines Eintretens für den Nationalsozialismus, der ihm zufolge die einzige vertretbare Antwort auf die tiefe Verunsicherung seiner Generation darstellte.

Die Liste der Beispiele ließe sich nach Belieben verlängern. Wenn sich die Beschuldigten und Angeklagten für nicht schuldig halten, so geschieht das nicht aus Zynismus oder Lust an der Provokation, es ist weder Realitätsverleugnung noch Lüge, sondern beruht auf der von allen geteilten Überzeugung, richtig gehandelt zu haben. Ohlendorf spricht das in seiner Rede aus, wohl wissend, dass er damit sein eigenes Todesurteil formuliert. Eichmann wiederholt dies in den letzten Augenblicken seines Lebens. Mediziner und Juristen halten auch 1949, 1961 und 1964 noch aufrecht, was sie bereits lange vor 1933 gelesen, gesagt und geschrieben haben. In anderen Worten, in den Augen der Täter war ihr Handeln sinnhaltig. Nur will oder kann die Nachwelt diesen Sinn nicht erkennen. Der Autor und die Leser dieses Buches sind in einer Welt groß geworden, die auf den Werten des Universalismus und des politischen Liberalismus gründen. Die Universalität der Gattung Mensch und die politische Freiheit sind zwei Postulate, aus denen wir, so gut es eben geht, unser Rechtssystem, unser politisch-gesellschaftliches System und die Prinzipien unserer Schul- und Hochschulbildung ableiten. In einem solchen Zusammenhang sind die NS-Verbrechen von Grund auf unverständlich: Ein solches Ausmaß an Gewalt, an Radikalität und Humanitätsverleugnung ist im Wortsinne unfassbar, es scheint außerhalb des Menschenmöglichen zu liegen.

In Hinsicht auf den Nationalsozialismus und seine Verbrechen liefert die Presse mit ihren Leitartikeln und Kommentaren, kurz die öffentliche Meinung, gleich eine ganze Reihe von Erklärungen, die allesamt keine sind. Die NS-Täter seien „verrückt“ gewesen, heißt es. Wenn man aber die ganze NS-Hierarchie von oben bis unten durchgeht, so wird der Psychiater nicht recht fündig. Zwar mag es Verrückte in den Reihen der Nazis gegeben haben, doch kaum mehr als in jeder anderen Gruppe. Damit unterstehen annähernd alle Theoretiker und Akteure des Dritten Reichs weiterhin dem Schiedsspruch der Historiker.

Die Erklärung mit Hilfe des Begriffs Barbarei ist besonders verführerisch, weil sie mit einer hochwirksamen Dialektik operiert. Ihr zufolge stellt in der Mitte des 20. Jahrhunderts, mitten in einem Europa, das sich zunehmend zivilisiert in einem Prozess, wie er von der Aufklärung bis hin zu Norbert Elias beschrieben wurde, ein Land eine Ausnahme von dieser Regel dar: Deutschland, das am meisten alphabetisierte Land Europas, die Heimat so zahlreicher Nobelpreisträger, begeht entsetzliche Verbrechen. Das Paradoxon stellt sich etwas weniger krass dar, wenn man den Sonderstatus Deutschlands ins Feld führt: Dieses Volk, das im Schatten des Römischen Reichs in seinen Wäldern hauste, war halt schon immer anders als die anderen. Die gelehrtere Fassung dieser These wurde von manchen Historikern im Begriff des Sonderwegs gefasst, andere, die weniger sorgfältig, dafür effekthascherisch argumentieren, zogen eine gerade Linie von Luther zu Hitler.

Doch hält die These von einem Sonderstatus Deutschlands keiner Überprüfung stand. In kulturvergleichender Hinsicht genügt die Feststellung, dass nur ein verschwindend geringer Teil der Ideen, die von der NSDAP verbreitet wurden, den deutschen Herkunftsstempel trägt: Weder der Rassismus noch der Kolonialismus, weder der Antisemitismus noch der Sozialdarwinismus oder die Rassenhygiene sind zwischen Rhein und Memel entstanden. In Hinsicht auf die Praxis hätte die Shoah beträchtlich weniger Opfer gefordert, wenn sie nicht die beflissene Unterstützung durch französische und ungarische Polizisten gefunden hätte. Diese mögen teilweise nicht gewusst haben, wohin die Transporte gingen, gleichwohl waren sie auf die eine oder andere Art durchaus froh darüber, sich der Juden zu entledigen. Ähnliches gilt für baltische Nationalisten, ukrainische Freiwillige, polnische Antisemiten, kollaborationswillige Spitzenbeamte und Politiker. Vertreter all dieser Nationen und Kategorien haben weit mehr Juden geschlagen, verhaftet und getötet als Martin Luther oder Friedrich Nietzsche.

Haben sie diese Pseudo-Erklärungen hinter sich gelassen, stehen der Historiker und der Geschichtsbetrachter ratlos, ja entgeistert und verzweifelt da. Die Nähe von Weimar und Buchenwald ist vielfach festgestellt worden, sie bildet den Ausganspunkt zahlreicher schwindelerregender Reflexionen über das Humanum und seinen Widerpart, über die Dialektik von Kultur und Barbarei. In der Regel enden solche Erörterung mit der Feststellung, dass es unmöglich ist, verbindliche Aussagen zu diesen Fragen zu machen.

Alleine die Vorstellung, dass all die schrecklichen Dinge, die von den Nationalsozialisten geschrieben, ausgesprochen und begangen wurden, Menschenwerk sind, erscheint kaum fassbar – und das ist auch gut so. Ob man sie nun als Verrückte, Barbaren oder in der Sprache von Theologie oder Okkultismus als Verkörperungen eines grundsätzlich Bösen betrachtet, mit jeder derartigen Formulierung schließt man die Täter aus der menschlichen Gemeinschaft aus. Die deutsche wie die französische Rezeption des Films Der Untergang (2004) sind Teil dieses Eingrenzungs- und Ablehnungsphänomens: Es wurde als unangemessen, ja unerträglich betrachtet, dass man sah, wie Hitler Kuchen aß, freundlich mit seiner Sekretärin plauderte und mit seinem Hund spielte. Das Monster schlechthin nahm so menschliche, allzu menschliche Züge an. Dies galt als ausgesprochen gefährlich, vor allem unter pädagogischen Gesichtspunkten. Ob die Geschichte solchen Zwecken dienen kann und soll, steht auf einem anderen Blatt. Auf alle Fälle erweist man ihr einen Bärendienst, wenn man den NS-Verbrechern das Menschsein abspricht. Wenn wir sie aus der Gemeinschaft der Menschen ausschließen, ersparen wir uns alles Nachdenken über den Menschen, Europa, die Moderne, den Westen usw. Wir denken nicht nach über all diese Orte, an denen die NS-Verbrecher gegenwärtig und aktiv waren und die wir mit ihnen teilen. Zugegeben, ein solches Vorgehen ist ausgesprochen bequem. Der Gedanke, dass wir mit Leuten, die dermaßen monströse Auffassungen und Taten zu verantworten haben, auch nur das Geringste gemeinsam haben könnten, widerstrebt uns zutiefst. Gleichwohl dürfte es weder dem historischen Verständnis noch dem Verstand im Allgemeinen dienlich sein, wenn wir solchen Fragen aus dem Weg gehen, die unseren Ort und unsere Zeit betreffen.

Wir müssen uns damit auseinandersetzen, dass die Nationalsozialisten nicht nur Europäer des 20. Jahrhunderts, sondern schlicht und einfach Menschen waren. Menschen, die in besonderen Zusammenhängen aufgewachsen sind und gelebt haben – und eine der Aufgaben des Historikers ist es, diese Zusammenhänge zu erhellen –, die sich aber, wie wir und andere, in einem sinn- und wertehaltigen Kontext bewegten. Um es knapper zu fassen: Es ist sehr fraglich, dass ein Franz Stangl in Treblinka, ein Rudolf Höß in Birkenau oder ein Karl Jäger, der das Einsatzkommando 3 der Einsatzgruppe A leitete, Tag für Tag aufstanden und sich dabei schon auf all die Schandtaten freuten, die sie im Lauf des Tages begehen sollten. Diese Leute waren nicht verrückt und betrachteten ihre Taten nicht als Verbrechen, sondern als Aufgabe, als zwar unangenehme, aber notwendige Aufgabe.

Alle Quellen stimmen in dieser Hinsicht überein: Die Privatkorrespondenz, die Tagebücher, Erinnerungen, aber auch Reden wie die Heinrich Himmlers vom Oktober 1943 vor den Reichs- und Gauleitern in Posen bezeugen das. Die tägliche Arbeit mag wenig ehrenvoll und angenehm sein, sie kann auch, wie Himmler selbst einräumt, Gewissensprobleme verursachen; doch so schwer sie zu ertragen sein mag, sie bezieht ihren Sinn aus dem Platz, den sie in einem Gesamtentwurf einnimmt, der seinerseits „historisch“ und „ehrenvoll“ ist. Dieses Tun ist sinn- und wertbezogen, es ist das Werk von Menschen und überschreitet damit den Bereich, in dem Psychiater oder Zoologen ihre Urteile sprechen, und wird endlich wirklich Teil des Zuständigkeitsbereichs der Historiker.

Als von Menschen vollzogenes Tun ist es Teil eines Narrativs und eines Projekts, es ist eine Reaktion auf Ängste und Hoffnungen. Eine solche Aussage mag in Bezug auf das verbrecherische Handeln der Nationalsozialisten überraschen und sogar schockieren. Die Historiker haben dergleichen in der Regel wohlweißlich unterlassen, sei es aus heftiger persönlicher Abneigung, sei es, weil sich jede auf Verstehen oder gar Verständnis zielende Herangehensweise von selbst disqualifiziert. Es gibt hier eine nicht zu überschreitende Grenzlinie, die sich mit Hilfe eines alten Spruchs definieren lässt: Verstehen (zu verstehen suchen) heißt bereits verzeihen.

In seiner Studie über das 101. Reservebataillon der Polizei geht Christopher Browning allenfalls am Rande darauf ein, welchen Sinn ihre Handlungen in den Augen der Täter hatten; er begreift „Ideologie“ als vergebliches „Eintrichtern“ („inculcation“) bzw. als erzwungene und unwirksame „Gehirnwäsche“ („brainwashing“)7, nicht aber als (zumindest teilweise) Teilnahme an und Zustimmung zu einem Projekt, zu Inhalten, die der nationalsozialistische Diskurs anderen Vorstellungswelten, Zeiten und rhetorischen Formationen entlehnt. Die deutschen Historiker wiederum, die sich seit 1990 mit den Archiven befassen, die nach dem Ende der sowjetischen Ära in Ostdeutschland entdeckt wurden, unterziehen ihren Gegenstand einem Abkühlungsprozess: Sie stellen dadurch Distanz zum Nationalsozialismus her, dass sie sich mit Vorliebe mit den Beziehungen zwischen verschiedenen Institutionen, Verwaltungs- und Kommandostrukturen befassen, mit der Logik des Verwaltungshandelns und der praktischen Durchführung des Völkermords.

Auf diese Weise mag es einem gelingen, sich vor dem Gegenstand und dem Schatten, den er auf uns wirft, zu schützen, den Schock, die Emotionen und den Schmerz in Grenzen zu halten und historisch zu arbeiten, also Fakten zu sichern, Kontexte zu rekonstruieren und die Arbeit der Henker zu verfolgen, kurz das Verbrechen zu dokumentieren. Das ist gewiss verdienstvoll, denn die Holocaust-Leugner lauern überall. Aber man verfehlt auf diese Weise eben auch den Sinn dieses Tuns, denn die Gedankenwelt des Nationalsozialismus bleibt so im Wesentlichen unerkannt. Wir kennen zwar die Grundzüge der NS-Weltanschauung, auch wenn ihre Darstellung in Lehrwerken oft fehlerhaft ist. Gewiss haben sich große Historiker mit der Entstehung, Ausformulierung, Übernahme und Verbreitung dieser Vorstellungen befasst. Auch gehen die Biographien einiger Haupt- oder Nebenfiguren des NS-Systems auf Diskurse und Texte ein und liefern Zitate als Belege für ihre Aussagen.

Trotzdem ist festzuhalten, dass unseres Wissens es kaum je unternommen wurde, gewissermaßen kartographisch die Gedankenwelt zu erfassen, innerhalb dessen die NS-Verbrechen erst ihren Platz und ihren Sinn erhalten. Wir räumen gerne ein, dass die Historiker, über das oben Gesagte hinaus, tausend gute Gründe haben, sich nicht auf ein solches Unterfangen einzulassen: Warum soll man sich die Augen verderben mit der Lektüre dieser in gotischer Schrift auf schlechtem Papier gedruckten Texte? Die SA-Leute mit flacher Stirn und kurzgeschorenem Haar sind in der Regel keine großen Philosophen und was die Intellektuellen angeht – denn die gibt es durchaus in großer Zahl –, so ist das, was sie von sich geben, doch nur blanker Zynismus und zugleich pure Kosmetik. Es ist bloß das gefällige Beiwerk, das menschliche Monster zu dem beisteuerten, was allein letztendlich für den Historiker zählt: das Handeln.

Es gibt einen ganzen Berg an sogenannter grauer Literatur. Grau ist sie deshalb, weil sich nicht viele für sie interessiert haben: die Philosophen und Ideengeschichtler nicht, weil die Nazis ja zu dumm sind, um mit ihnen seine Zeit zu vergeuden; die Historiker nicht, weil ernsthafte Forschung sich mit sozialer Dynamik und gesellschaftlichem Handeln zu befassen hat. Gleichwohl wäre es falsch zu behaupten, dass sich niemand für diese Literatur interessiert hat. Einzelne Regionen dieses Kontinents sind durchaus von den Spezialisten einzelner Disziplinen erkundet worden. Insbesondere die Juristen befassen sich seit Jahrzehnten mit der Sozial- und Ideengeschichte ihres Standes zur Zeit des Nationalsozialismus. Sowohl die theoretischen Grundlegungen als auch deren juristische Umsetzungen sind Gegenstand zahlreicher Untersuchungen geworden.

Die Historiker dagegen halten sich ihrerseits vorsichtig zurück, auch wenn ein kleiner Teil der riesigen Menge an Studien zum Dritten Reich eine kulturalistische Herangehensweise an den Nationalsozialismus praktiziert. Doch auch deren Autoren bekennen sich nicht dazu, ihn verstehen zu wollen. Derartige Veröffentlichungen haben sich erst nach 1995 entwickelt. Das lässt sich auf zweierlei Weisen erklären. Die erste hat mit der Unmenge an Dokumenten zu tun, die man im ehemaligen Ostblock vorgefunden hat. Diese Erneuerung der Kenntnisse über die Verbrechen, aber auch die Pläne der Nationalsozialisten hat zahlreiche Historiker veranlasst, den Motiven zu diesem gigantischen Eroberungs-, Kolonisierungs- und Ausrottungs- wie biologischem Erneuerungsprogramm neu nachzuspüren. Der zweite Erklärungsansatz hängt mit dem Echo zusammen, das die Wanderausstellung Verbrechen der Wehrmacht in den Jahren von 1995 bis 2000 in Deutschland gefunden hat. Parallel zu ihr erschien ein publizistisch wie verlegerisch erfolgreiches Buch, das die NS-Verbrechen als notwendige Folge einer essentialistisch interpretierten deutschen Geschichte darstellte. Zu deren DNA gehörte demnach spätestens ab dem 16. Jahrhundert ein radikaler messianischer Antisemitismus. Das Buch liefert eine klare Antwort auf die Fragen, die in brutaler Weise von der Ausstellung gestellt werden: Deren Tafeln bestehen aus von Soldaten aufgenommenen Fotos; sie zeigen gewöhnliche Soldaten, die an Massakern bis hin zu Völkermord-Operationen teilgenommen oder ihnen zumindest beigewohnt haben.

Diese Fotos und die von ihnen enthüllten Tatsachen – über die die Historiker sich schon seit langem im Klaren waren – hatten schmerzliche Folgen. Wie konnten ganz normale Deutsche auf diesen Fotos abgebildet sein? Diese Fragen von Betrachtern und Medien verdrossen die Historiker, die sich schon seit langem gegen einen Diskurs wandten, der den fanatischen SS-Mördern die edlen Wehrmachtssoldaten gegenüberstellte. Vergebens war die Arbeit der Historiker gewesen, die den Quellen nachgingen (wo und wann wurden diese Bilder aufgenommen?) und sich um Kontextualisierung bemühten (die Massaker wurden für die Truppe überzeugend als legitime Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zur Absicherung der Front dargestellt), sie konnten nichts ausrichten. Trotz ihrer Arbeit marschierte die extreme Rechte auf, um die beleidigte Ehre des deutschen Soldaten zu verteidigen, und auf der Seite der am meisten betroffenen und aufrichtigen Menschen schlug das Pendel weit in die entgegengesetzte Richtung aus: Wenn mehr oder weniger alle Deutschen Ungeheuer gewesen waren, so lag das daran, dass sie seit jeher darauf aus waren, die Juden zu töten und Europa zu versklaven.

Um solchen Verallgemeinerungen und Essentialisierungen entgegenzutreten, machten sich die Historiker aufs Neue an die Arbeit. Deshalb wissen wir immer mehr über die Vorhaben, die historischen Kontexte und Ängste und auch über die Gedankenwelt der Handelnden. Im Anschluss an Omer Bartovs hervorragende Untersuchung zur deutschen Wehrmacht im Osten entstanden zahlreiche Monographien. Zugleich schlossen Christian Gerlach8, Dieter Pohl9 und Christoph Dieckmann10 ihre jeweiligen Arbeiten über Weißrussland, Galizien und Litauen ab.

Parallel dazu führte eine Historikergruppe ihre breitangelegte Untersuchung zu den ideologischen Motivationen der Eroberer und Kolonisatoren Osteuropas durch. Gestützt auf das MGFA, das Militärgeschichtliche Forschungsamt, erkundeten Jürgen Förster, Jürgen Matthäus und Richard Breitman die Ausarbeitung und Verbreitung sowie Rezeption der NS-Postulate und -Pläne in den kämpfenden Einheiten von Wehrmacht und SS.11 Ihnen gelang der Nachweis der hohen Bedeutung der weltanschaulichen Motivationen. Dies trifft umso mehr zu, als die nationalsozialistischen Vorstellungen im deutschen, europäischen, ja westlichen Kontext damals durchaus nichts Außergewöhnliches darstellten. Neuere Rezeptionsstudien, die sich auf die Verhöre von Gefangenen in britischem und US-amerikanischem Gewahrsam stützen,12 belegen, dass solche Ideen zum „Referenzrahmen“13 der damals Handelnden zählten.

Auch die NS-Elite wurde zunehmend unter dem Gesichtspunkt ihrer ideologischen Überzeugungen betrachtet. So hat Michael Wildt der Elite des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) eine beeindruckende Habilitationsschrift gewidmet. Er spricht von einer „Generation des Absoluten“14. Diese stand unter dem Eindruck der Not eines von Feinden umringten, kleiner und bedeutungsloser gewordenen und von vielfältigen Gefahren bedrohten Deutschlands, das ein für allemal zu retten sie angetreten waren. Christian Ingrao liefert in Croire et détruire15 eine sehr eingehende und präzise Sozial- und Ideengeschichte der leitenden Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes (SD). Auch er betont, dass wir es hier mit Intellektuellen zu tun haben, deren Handeln einem Sinnganzen angehört, das gerade deshalb so prägend wirkt, weil diese Männer aufgrund dienstlicher Sachzwänge und der spezifischen Verwendung von Humanressourcen in der SS in ihrer Tätigkeit zwischen Büroarbeit und Einsatz vor Ort wechselten. In der Biographie, die er einem dieser Männer, nämlich Werner Best, widmet, zeichnet Ulrich Herbert zur gleichen Zeit das Bild eines „handelnden Intellektuellen“, eines intellectuel d’action16, dem es, gestützt auf ein paar Postulate und eine perfekte Logik, gelingt, sein eigenes Tun und das geplante Handeln des Dritten Reichs zu rechtfertigen.17

All diese Untersuchungen und die aus ihnen resultierenden Lehren veranlassten einige Historiker dazu, sich mit den nationalsozialistischen Wertvorstellungen und Sinnorientierungen auseinanderzusetzen. Den Reigen eröffnete 2003 die amerikanische Historikerin Claudia Koonz. Mit dem bewusst provozierenden Titel ihres Buchs, The Nazi Conscience18, geht sie vom Vorhandensein einer nationalsozialistischen Moral, die über ihre eigene Kohärenz verfügt, aus. Raphael Gross, der Autor eines Buchs über die Beziehung Carl Schmitts zu den Juden, ist auch der Mitherausgeber des Sammelbandes Moralität des Bösen19 und legte unter dem Titel Anständig geblieben20 eine Zusammenstellung seiner eigenen Artikel zur NS-Ethik vor.

Diese Hinwendung zur Logik und internen Kohärenz eines sinnhaften NS-Diskurses schließt an ältere Arbeiten an, die sich bereits in den 1980er Jahren erkühnten, sich mit der Verführungskraft des Nationalsozialismus für Zeitgenossen auseinanderzusetzen. Nach der Erforschung der „Faszination des Nationalsozialismus“ und seines „schönen Scheins“21 konnte man sich nunmehr den Antworten des Nationalsozialismus auf die Fragen, die sich die Zeitgenossen stellten, zuwenden. Denn so merkwürdig das heute berühren mag – der Nationalsozialismus war nicht nur eine Ästhetik, sondern auch eine Ethik für verirrte und verwirrte Zeitgenossen.

Die Zeit der Entstehung des Nationalsozialismus war tief geprägt von der Frage nach Werten und moralischen Geboten. Das Ende des Ersten Weltkriegs stellt eine Katastrophe dar, die alte Traumata aktualisiert: diejenigen des Dreißigjährigen Kriegs, der Niederlage von 1806 und all jener Weltuntergänge, die seit der Reformation fester Bestandteil der deutschen Geschichte waren. Der Untergang des Kaiserreichs, aber auch die bürgerkriegsähnlichen Zustände zwischen 1918 und 1923, der Niedergang Deutschlands als Großmacht durch den Versailler Vertrag von 1919 und die Hyperinflation der Jahre 1922/23 beflügeln Propheten der Apokalypse wie Kulturpessimisten, aber auch Künstler, die beobachten und darstellen, wie der geordnete Kosmos der Vorkriegszeit dem Chaos weicht. Maler wie Otto Dix stellen seit ihren Erfahrungen in den Schützengräben des Weltkriegs zerfetzte Körper und verwesendes Fleisch dar; die Schriftsteller sitzen über illusionslosen Anklageschriften gegen den Werteverfall; die Filmregisseure setzen den Triumph des Verbrechens in Szene. Fritz Lang dreht 1922 Dr. Mabuse, der Spieler, ein „Bild seiner Zeit“: Unsichtbar und ungreifbar herrscht Dr. Mabuse, dieser höchst intelligente Meister der Verstellung, über eine zusammenbrechende Gesellschaft, der angesichts der sich in Luft auflösenden finanziellen und moralischen Werte alle Orientierungsmarken abhandengekommen sind. Die Entwertung aller Werte macht nach Aussage eines Zeitgenossen aus Deutschland den Schauplatz riesiger „Saturnalien“:

Kein Volk der Welt hat etwas erlebt, was dem deutschen „1923“-Erlebnis entspricht. Den Weltkrieg haben alle erlebt, die meisten auch Revolutionen, soziale Krisen, Streiks, Vermögensumschichtungen, Geldentwertungen. Aber keins die phantastische, groteske Übersteigerung von alledem auf einmal, die 1923 in Deutschland stattfand. Keins diesen gigantischen karnevalistischen Totentanz, dieses nicht endende blutig-groteske Saturnalienfest, in dem nicht nur das Geld, in dem alle Werte entwertet wurden.22

Ende der 1920er Jahre wiederholt sich dieses Schauspiel mit der erneuten wirtschaftlichen und sozialen Krise. Erich Kästner führt vor, wie sich eine Kindergruppe bildet, um das Verbrechen zu bekämpfen und sich zu verteidigen: Der 1931 verfilmte Roman Emil und die Detektive ist nur scheinbar ein Buch und ein Film für Kinder. Im Grunde behandelt er das gleiche Sujet wie Fritz Lang im gleichen Jahr mit M – eine Stadt jagt einen Verbrecher: Eine Gegengesellschaft, die der Unterwelt, ist stärker als Polizei und Staat, die sich als unfähig erweisen, einen Kindermörder zu fassen. Zwar obsiegt Kommissar Lohmann am Ende – doch wie lange noch? Das Voranschreiten von Terror und Verbrechen wird ein Jahr später offenkundig im Testament des Dr. Mabuse.

Unterwelt, Milieu, Mafia – wie Brecht in seinem Arturo Ui, so liefert auch Fritz Lang ein Abbild der sich rasch ausdehnenden NSDAP. Die nationalsozialistische Partei, in den Augen ihrer Feinde eine kriminelle Gegengesellschaft, ist für ihre Mitglieder die einzige Gemeinschaft, die Werte definiert und anbietet, die ihrerseits eine Antwort auf die Fragen der Zeit geben. Jean Genet hält in seinem Journal d’un voleur (Tagebuch eines Diebs) fest, dass Deutschland von allen Ländern, die er besucht hat, das einzige ist, in dem er nichts zu stehlen wagt, denn dort ist das Verbrechen das einzig gültige Gesetz, was jegliche Lust am Gesetzesverstoß verdirbt. Nach außen mochten sich die Werte und Normen des Nationalsozialismus als kriminell darstellen, all denjenigen, die sich in ihrem Geltungsbereich bewegten, boten sie die beruhigende Kohärenz eines geschlossenen Systems, das auf einigen partikularistischen Postulaten beruhte sowie aus daraus eiskalt abgeleiteten Konsequenzen.

Im Jahr 1919, dem Gründungsjahr der NSDAP, spricht Max Weber in Wissenschaft als Beruf vom Wüten eines „Kriegs der Götter“. Er stellt fest, dass das neuzeitliche Denken seit der Renaissance zunehmend alle Gewissheiten erschüttert. Weniger denn je wisse man, an welche Vorbilder, an welche Religion oder Denkschule man sich noch halten könne. Das Pendant zum „Krieg der Götter“ ist der „Streit der Fakultäten“, und so bieten am Ende weder die Vernunft noch die Religionen, weder der Erste Weltkrieg mit seinen Folgen noch die untergegangenen Reiche eine Zuflucht. Für zahlreiche Zeitgenossen hat die NSDAP den unschätzbaren Vorzug, ihnen eine klare, fassliche und leicht verständliche Orientierung anzubieten.

Wer wissen möchte, was er tun, wie er handeln und wofür er leben solle, dem bietet der Nationalsozialismus ein ganzes Korpus an Texten, Diskursen und Bildern. In einem Kontext, in dem sich alle Ideen widersprechen und neutralisieren, in dem die Religionen sich wechselseitig verdammen, weist die NS-Ideologie ihm den Weg zum Inbegriff des Konkreten, Vertrauten, Fasslichen, zu Fleisch und Blut, zur „Rasse“ als Zuflucht und Orientierungspunkt. Die biologische Substanz hat zudem den Vorteil, nichts rein Individuelles zu sein: Sie ist gemeinsames Gut ein und derselben Familie oder Sippe, ein und derselben „Gemeinschaft“, ein und derselben Rasse mit all ihren lebenden, toten und künftigen Angehörigen. Erhalt und Entwicklung dieser Substanz verweisen auf eine klare und leicht verständliche Finalität, sie bilden eine Gemeinschaft und verleihen dem Leben des Individuums einen Sinn.

Das Leben der Rasse ist also A und O, Prinzip und Zweck einer offen partikularistischen und ganzheitlichen Normativität: Es gilt, allein für die germanisch-nordische Rasse (oder das deutsche Volk) einzutreten und nicht für die Menschheit – diese ist nicht mehr als eine gefährliche und zersetzende Chimäre. Für die Gemeinschaft gilt es einzutreten und nicht für sein eigenes, bloß individuelles Interesse. Diese schlichten Prinzipien geben eine Antwort auf die Fragen der Moderne. So gibt der Jurist Wilhelm Frick, seit dem 30. Januar 1933 Innenminister, den Biologen und Juristen, die er zusammengerufen hat, um über die künftige rassenpflegerische Gesetzgebung zu referieren, einen höchst erbaulichen Überblick über die verhängnisvollen Entwicklungen eines 19. Jahrhunderts, das zu einer „seelischen Strukturwandlung“ des deutschen Volks geführt hat:

Werfen wir einen Blick in die deutsche Geschichte, so erkennen wir, daß wir von einem Agrarstaat zu einem Industrievolk geworden sind. Hardenberg hat 1807 in Preußen die Entwicklung zum Industriestaat eingeleitet. Dadurch, daß er den Boden als Privateigentum freigab, hat er in Deutschland den Weg zum liberalistischen Wirtschaftssystem geebnet. Die Folge der geldwirtschaftlichen Entwicklung war die Verstädterung und die Industrialisierung Deutschlands. Die natürliche Entwicklung unseres Volks, der bäuerliche Familiensinn und die Wirksamkeit der Lebensauslese auf dem Land hörten damit auf! Unsere Rechtsverhältnisse, das geldwirtschaftliche System und die Versicherungsgesetzgebung brachten eine Umkehr der Auffassung über Sitte, Geschlecht, Familie und Kinder mit sich. Damit begann die Entwicklung zum Individualismus, zum Klassenkampf, zum Marxismus und Kommunismus. Die Mechanisierung der Arbeit, die wirtschaftliche Versklavung und die marxistische Wirtschaft nach dem Krieg vollendeten den Zerstörungsprozeß, der unser Volk an den Rand des Abgrunds gebracht hat.23

Zu diesen Entwicklungen muss man zweierlei hinzudenken: ein Vorher, dem alles entspringt (das der Französischen Revolution), und ein Nachher (das des Ersten Weltkriegs und seiner Folgen). Eben diesen 150 Jahren des Irrwegs seit 1789,24 von denen Alfred Rosenberg wiederholt spricht, wollen die Nationalsozialisten entgegentreten. Für viele ist diese Zeitspanne weiter zu fassen, denn für sie geht das Übel zurück auf die Übernahme des spätrömischen (und verjudeten) Rechts im Frühmittelalter bzw. sogar auf die christliche Missionierung Germaniens oder gar auf den Verlust germanischen Blutes in den Peloponnesischen Kriegen … Die moralischen und historischen Irrungen und Wirrungen des germanischen bzw. deutschen Volkes reichen bis tief in die Vergangenheit: entwurzelt, seiner Form und seines Zusammenhalts beraubt, ist es seit Jahrhunderten – und verstärkt seit 1789 – gehalten, Regeln zu gehorchen, die offenkundig sein Leben beeinträchtigen.

So hat ihm das Christentum die Monogamie auferlegt und die Verpflichtung, sich um Schwache und Kranke zu kümmern. Aufklärung und Französische Revolution haben ihm den Liberalismus und Universalismus eingepflanzt. Die internationale Rechts- und Weltordnung hat es geschwächt und zielt klar auf sein Ende als politischer Machtfaktor bzw. sogar als biologische Realität ab. Die Normen, die seiner Kultur und seinen Handlungen zugrunde liegen, sind also verhängnisvoll, lebensfeindlich. Das weltanschauliche Korpus des Nationalsozialismus unternimmt es auf der Grundlage der einzigen greifbaren Realität, der des Blutes, die Werte neu zu bewerten und eine liebens- und lebenswerte Normativität neu zu gründen. Diese neue juristische und moralische Normativität macht Schluss damit, dieses Volk zu beengen und letztlich umzubringen.

Ziel der vorliegenden Studie ist es, die Reihe der erwähnten Arbeiten fortzusetzen. Sie haben Grundlegendes für das Verständnis der kriminellen Gewalt der Nationalsozialisten geleistet. Die Untersuchung der Normen, Gebote und Aufgaben, die für den nationalsozialistischen Diskurs konstitutiv sind, soll hier erweitert und vertieft werden. Eine solche Untersuchung bezieht ihre Legitimität nicht zuletzt daraus, dass unseres Erachtens in Grenzsituationen – und die NS-Verbrechen stellen eine solche dar – die Norm eine zentrale Rolle spielt. Als Historiker, die es mit Menschen zu tun haben, kommen wir um die folgende Feststellung nicht herum: Töten ist eine schwere, belastende Sache – alle verfügbaren Quellen bezeugen das. Mit Hilfe eines Sinn-Diskurses bzw. mit Hilfe von Geboten, Maximen oder Pflichten kann eine entsprechende Handlung erleichtert werden, da so zumindest die Bedingungen der Möglichkeit solchen Tuns geschaffen werden.

Zunächst hatten wir vor, die nationalsozialistische Moral unter stark systemischen und technischen Gesichtspunkten zu untersuchen. Das Quellenstudium hat uns jedoch rasch einen anderen Weg einschlagen lassen, da sich der ethische Gehalt im Grunde als intellektuell recht dürftig herausstellte. Zwar gibt es eine NS-Moral, die von gewissem Interesse ist. Sie stellt sich als ganzheitlich, partikularistisch und heroisch dar und zielt auf Opferbereitschaft ab, ist damit aber letztlich wenig originell.

Wir haben uns daher schrittweise einer umfassenden Betrachtungsweise der Normativität im nationalsozialistischen Sinn zugewandt. Das bedeutet, dass wir nicht nur Quellen einbezogen haben, deren Inhalt und Zielsetzung explizit ethischer Natur war, sondern auch alle anderen Sorten normativer Diskurse, die darlegten, was normal, was wünschenswert und was zwingend geboten ist. Es geht also um all jene Diskurse, die für jeden einzelnen Anlass festlegten, was wie und warum zu tun war. Das Feld, auf das sich unsere Untersuchung ausdehnt, ist dementsprechend weit und überreich, es ist daher aber auch unscharf abgegrenzt.

Unsere Untersuchung stützt sich auf gedruckte Quellen, Texte und Bilder, auf Nachrichten-, dokumentarische und fiktionale Filme (Wochenschauen, Lehrfilme). Zu den Texten zählen Standardwerke der NS-Ideologie ebenso wie Schulungsliteratur für Unterrichts- wie Partei-Institutionen, wissenschaftliche Texte aus so verschiedenen Bereichen wie Rechtswissenschaft – vom Finanz- und Boden- bis zum Steuer- und Strafrecht –, Rechtstheorie, Biologie, Philosophie, Geschichte, Rassenkunde usw.

Unser Korpus ist dementsprechend umfangreich. Es umfasst insbesondere 1.200 Buch- und Zeitschriftenartikel sowie ca. 50 Filme. Diese Dimensionen weisen bereits deutlich darauf hin, dass die Autoren sichtlich etwas zu sagen hatten – und auch das Bedürfnis, es mitzuteilen. Im Rahmen einer früheren Veröffentlichung konnten wir feststellen, dass die Bezugnahme auf die Antike es den politisch Handelnden gestattete, Dinge zu rechtfertigen, die ansonsten in einem von jüdisch-christlichen und kantischen Prinzipien bestimmten kulturellen Umfeld keineswegs unbesehen durchgehen konnten. Die Feststellung, dass die herrschenden Vertreter der Rassenhygiene sich auf Seneca und Platon beriefen, veranlasste uns, diese Untersuchungen fortzusetzen.

Zu den Autoren und Produzenten dieser Quellen gehören auch Personen aus dem engsten nationalsozialistischen Führungskreis. So beschränkt sich Hitler in seinen Tischgesprächen, Schriften und Reden nicht darauf, Anweisungen zu erteilen. Er argumentiert und ergeht sich in endlosen Abhandlungen über die verhängnisvolle Entwicklung der normativen deutschen Kultur. Desgleichen Goebbels in seinen Reden und Schriften sowie in seinem Tagebuch. Himmler als Chef, Vater und erster Lehrmeister der SS erteilt immer wieder Unterricht in Weltanschauung und Moral. Rosenberg schließlich entfaltet in seinen Schriften eine weitschweifige Kulturkritik, die sich gleichwohl mehr auf Argumente stützt als das oft behauptet wird.

Auch zahlreiche Hochschullehrer unterschiedlichster Disziplinen finden sich in unserem Korpus: insbesondere Juristen, aber auch Mediziner, Rassenkundler, Historiker, Geographen und Landschaftsgestalter. Einige von ihnen gehen gerne über ihr Fachgebiet hinaus: So ergeht sich der Arzt und Rassenhygieniker Fritz Lenz gerne in Betrachtungen über die „gentilistische“ Moral, die Moral der gens, derer unsere Zeit bedürfe, und der Historiker Theodor Schieder erteilt bereitwillig Ratschläge für eine dauerhafte Besetzung Polens. Andere Autoren sind hohe Beamte, Akademiker, die sich in der Regel mit einem Doktortitel schmücken dürfen – eine intellektuelle und funktionale Elite, die effizient die politischen Zielsetzungen des Nationalsozialismus unterstützt, ihnen eine Grundlage liefert und sie legitimiert mit Hilfe von Rechts- und Geschichtswissenschaft sowie Biologie. Dr. jur. Werner Best ist als hochrangiger Funktionär des Sicherheitsdienstes (SD) wohl der archetypische Vertreter dieser Gruppe: er handelt nicht nur, sondern liefert in zahlreichen Artikeln auch die Erklärungen, warum und wie er das tut.

Eine weitere Gruppe von Autoren bilden die Publizisten und Ideologen, die die Norm und ihre Grundlagen mit Hilfe von Presseartikeln, Broschüren, Büchern und weltanschaulichen Schulungskursen verbreiten und popularisieren. Zu ihr zählen Journalisten, Unterrichtende und Essayisten, die aufgrund ihrer Stellung innerhalb der Partei oder wegen ihrer Beziehungen zu Verlagen und Medien erläutern können, was unter richtigem Handeln zu verstehen ist.

Einem Teil dieser Autoren wurden bereits eigene Biographien gewidmet oder Einträge in den zentralen Lexika zum Führungspersonal des Dritten Reichs, andere wurden zum Gegenstand sozialgeschichtlicher Studien. Die Gruppen, denen sie angehören (Akademiker, hohe Beamte, Hochschuldozenten, Journalisten usw.), wurden in einer Vielzahl von Arbeiten dargestellt, Karrieren und Netzwerke wurden nachgezeichnet. Wir haben es nun unternommen, ihre intellektuelle Produktion genau zu lesen, sie ernst zu nehmen und nicht als bloße Logorrhoe abzutun.

Wir sind Zeitschrift für Zeitschrift, Pressetitel für Pressetitel und Verlag für Verlag durchgegangen und haben auch die diesen Texten beigefügten Bibliographien durchforstet, um alles zu ermitteln, was zur Frage der normativen Neubegründung im „neuen Deutschland“ erschienen ist. Nach und nach haben wir uns mit Gegenständen und Gedankengängen vertraut gemacht und die Bandbreite unseres Interesses erweitert. So kam eine Vielzahl neuer Themen hinzu. Diese reichen vom Tierschutz im alten Indien bis zur Freikörperbewegung, von der christlichen Missionierung in Grönland und der Hexenverfolgung bis zu den Nürnberger Gesetzen und zum – freilich rudimentären – Arbeitsrecht für polnische Arbeiter und Angestellte sowie dem – noch weiter abgespeckten – für die sowjetischen Gefangenen im Reichsgebiet. All diese Zeiten und Themen wurden von der nationalsozialistischen Textproduktion, die wir aufgearbeitet haben, einer großangelegten Neuinterpretation unterzogen.

Angesichts dieser Heterogenität mag man sich fragen, ob man das alles überhaupt noch als Korpus bezeichnen kann. Gleichwohl antworten all diese Lehrwerke, Abhandlungen, Pamphlete, weltanschaulichen Grundsatzartikel, Broschüren und Filme mehr oder weniger auf eine allen gemeinsame, implizit oder explizit gestellte Frage: Wie muss man handeln, wenn man den Untergang Deutschlands verhindern will? Welche Normen sind zu befolgen, wenn man will, dass das Leben in Deutschland wächst und gedeiht, dass die germanische Rasse eine sichere Zukunft für sich entwirft, auf lange Zeit, ja für die Ewigkeit?

Darüber hinaus schälte sich bei unseren Lektüren und Auswertungen eine Reihe gemeinsamer Themen heraus: die politische und biologische Notlage Deutschlands; die Notwendigkeit, dieser durch ein Handeln zu begegnen, das sich nicht von Vorschriften beengen lässt, die ihrerseits zu dieser Notlage beigetragen haben; der Vorrang der Gruppe gegenüber dem Individuum und schließlich die unbestreitbare Überlegenheit der germanischen Rasse, die jegliche Kultur hervorgebracht hat. Das sind gemeinsame Nenner, die es jenseits aller Heterogenität der Textsorten und Trägermedien gestatten, zum harten Kern der nationalsozialistischen Weltanschauung vorzudringen, zu ihrem Herzstück, zu dem, was trotz aller Auseinandersetzungen und Debatten echtes Gemeingut war und für den Schulterschluss gegenüber dem Feind und der Geschichte sorgte, aber auch gegenüber dem Tod, der dem Volk drohte, wenn nichts geschähe.

Was gemeinhin als nicht beachtenswerte hohle Phrasendrescherei betrachtet wird, verdient durchaus, wie sich herausstellte, eingehende Untersuchungen. Das Studium dieses Diskurses gestattet es, eine Weltanschauung zu rekonstruieren und den Platz zu bestimmen, den die Taten der Nationalsozialisten im Rahmen ihres gigantischen Projektes einnehmen. Dieses bezieht seine Substanz aus der Kritik an der Vergangenheit und ist auf genau fixierte Zukunftsziele ausgerichtet. Dabei liegt es uns fern anzunehmen, dass die Bilder und Texte unseres Korpus die Triebfedern der Taten wären, die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland und zwischen 1939 und 1945 in Europa begangen wurden. Diskursinhalte werden nicht mechanisch in Handlungen umgesetzt, und die Infanteristen an der Ostfront hatten nicht die Theoretiker der Rassenhygiene in ihrem Tornister. Sie waren allerdings durch Print- und visuelle Medien, Tagesbefehle und weltanschauliche Schulung sowie eine Vielzahl an Heften, Broschüren und Flugblättern ad usum militis mit den Überlegungen von nationalsozialistischen Juristen, Planern, Biologen und Historikern vertraut. Gewiss waren sie nicht alle intime Kenner der gesammelten Werke von Richard Darré; eine Vielzahl von Verbreitungsarten sorgte gleichwohl für die breite Streuung dieser Ideen. Da sie keineswegs allesamt neu und originell waren, sondern bereits im gesellschaftlichen Raum kursierten, war dieser für sie durchaus aufnahmebereit.

Unser Text- und Bildkorpus fungiert als Symptom, als Matrix und als Projekt. Es ist Symptom einer Zeit und eines Orts, der westlichen Welt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, genauer: Deutschlands zwischen 1920 und 1940. Es ist eine Matrix von Ideen, die propagiert, wiederholt und weiterentwickelt wurden. Die Geschichte ihrer Rezeption zeigt, dass sie von gesellschaftlichen Akteuren aufgegriffen wurden, die mit ihrer Hilfe ihren eigenen Erfahrungen, Verbrechen und Traumata Sinn und Form geben konnten. Das Korpus beinhaltet des Weiteren ein Projekt von größter Reichweite: Die vom Reich immer wieder beschworenen „tausend Jahre“ waren ja alles andere als ein Schlagwort, sondern vielmehr ein auf Jahrhunderte angelegtes kulturrevolutionäres Projekt, eine Subversion des gesamten Normensystems. Die nationalsozialistischen Ideologen und Führungspersönlichkeiten wussten genau, dass das jüdisch-christlich sowie von Schul-Kantianismus und Liberalismus geprägte deutsche Volk zur Durchführung dieser Revolution mehrere Generationen benötigen würde. Die von uns gesichteten Dokumente sollten gewiss den Generationen der Gegenwart bei der Bewältigung einer schweren Aufgabe helfen, vor allem aber sollten sie der Akkulturation künftiger Generationen dienen und sie von verhängnisvollem normativen Ballast befreien. Die Autoren unseres Korpus arbeiten tapfer an dieser langfristigen kulturellen und normativen Revolution. Sie entwickeln dafür eine tiefgreifende Kulturkritik, die alle überkommenen Normen auf den Prüfstand stellt und sie an der einzig gültigen Norm misst: am Leben der Rasse. Hat man erst einmal alle überkommenen Werte be- und entwertet, die (jüdisch-) christlichen Traditionen und die Aufklärung sowie die herrschende Weltordnung über Bord geworfen, dann kann man von der Opposition zu Position und Proposition übergehen, man kann etwas anbieten in Gestalt eines Diskurses, der nicht einfach ungehemmter Redefluss und Wortgeplänkel ist, sondern sich als mit Argumenten operierender kohärenter logos erweist.

Wir konnten drei kategorische Imperative herausarbeiten, die dem NS-Projekt seine Grundlage liefern, drei Handlungsarten, die Deutschland ewiges Leben garantieren sollen.

Der erste Imperativ ist das Zeugungsgebot: Die germanische Rasse muss fruchtbar sein und massenweise Kinder produzieren, insbesondere im Hinblick auf den slawischen Feind; sie muss auch auf die qualitative Erhaltung der so entstandenen biologischen Substanz achten, jedes fremde oder entartete Element aussondern. Was bestimmenden Einfluss auf die Zeugung hat, hängt mit dem Ursprung zusammen, nicht nur mit dem jedes einzelnen Kindes, sondern mit dem der Rasse selbst und mit den Normen, die das Leben der Rasse bestimmen: Wie sah die Rasse in ihrer Frühzeit aus, welchem Gesetz gehorchte sie ursprünglich? Wie und weshalb wurde die Natur der germanischen Rasse verfälscht? Wie kann man ihre ursprüngliche Gestalt wiederherstellen? All diese Fragen werden in unserem Korpus ausführlichst behandelt, und davon handelt der erste Teil dieser Studie.

Auf die Zeit des Ursprungs folgt die der Geschichte. Das (Natur-)Gesetz, das aller Geschichte zugrunde liegt, ist das des Konflikts, des permanenten Rassenkampfes – alles Leben ist ja Kampf. Doch haben lebensfeindliche Normen die germanische Rasse bei ihrer Kriegführung behindert und bedrohen damit ihr Überleben. Das Naturnotwendige lässt sich nicht unterdrücken, sprich die natürliche Auslese und der Kampf auf Leben und Tod der unterschiedlichen rassischen Prinzipien. In diesem Kampf sind nicht die von Menschen oder falschen Göttern gemachten Gesetze zu beachten, sondern diejenigen, die uns das Blut diktiert.

Ein bis zu seinem siegreichen Ende geführter Krieg wird es erlauben, „6.000 Jahre Rassenkampf“25 und die Zeit der Geschichte hinter sich zu lassen, um in die des endzeitlichen Reichs, der Eschatologie einzutreten. Die germanische Rasse wird in ihrem Kampf die weiten Räume des Ostens und der Zeit erobert haben, einer unendlichen Zeit, der des Tausendjährigen Reiches und der eschatologischen Verheißung. Auch dieser Zeitraum wird von neuen Normen geordnet und bestimmt werden, die eine Herrschaft in alle Ewigkeit garantieren.

Das Gesetz des Blutes

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