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Jack Dorsey und sein kühles Morgenritual

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Sehen wir uns Jack Dorsey an, den Gründer des Nachrichtendienstes Twitter. Dorsey wuchs in Saint Louis auf, am Westufer des Mississippi. Als Jugendlicher hörte er den Polizeifunk ab und war fasziniert von den Kurznachrichten, in denen so viel Wahrheit und Information steckte. Er wünschte sich einen Computer und fing zu programmieren an, weil er bildlich darstellen wollte, was bei diesen Polizeieinsätzen passierte. 2006 war Dorsey CEO von Twitter. Drei Jahre später erfand er den mobilen Bezahldienst Square. Heute wird sein Vermögen auf 11,5 Milliarden Dollar (Stand: April 2021) geschätzt.

Jack Dorsey ist ein schönes Beispiel für das Diametrale der silikalen Welt. Auf der einen Seite hat er einen Teil des Grundbestecks für die Maßlosigkeit der Kommunikation geschaffen, im eigenen Leben jedoch würde er sich weder am digitalen noch am analogen Konsumrausch je beteiligen. Vielmehr praktiziert der Mann den gelebten Verzicht. Er ist überzeugter Asket. Dorsey verzichtet täglich auf zwei Mahlzeiten, sprich, er isst nur einmal am Tag. In der Früh trinkt er einen Liter Wasser.

Schon sein Morgenritual sagt viel aus: Um fünf Uhr öffnet er die Augen, Wecker braucht er keinen. Seine innere Uhr ist präziser als jedes iPhone. Dorsey gähnt nicht, er ist im Nu wach. Er steht auf und steigt vom warmen Bett direkt in kaltes Wasser. Ein Pool mit vierzehn Grad kaltem Wasser. Dorsey setzt sich hinein und taucht unter, ganz ruhig und bewusst.13

Der biochemische Effekt ist sofort spürbar: Adrenalin wird ausgeschüttet, der Mensch steht unter Strom. In zunehmendem Alter verlieren wir immer mehr diesen Effekt. Das ist der Grund, warum wir dicker werden, obwohl wir gleich viel essen. Das Adrenalin verbrennt das Fett. Dieses kalte Bad von Jack Dorsey verlangt enorme Überwindung. Er selbst sagt:

Ein kaltes Bad am Morgen mag wie eine Kleinigkeit erscheinen, und es ist sehr schmerzhaft, aber wenn ich mich dazu überwinde, traue ich mir tagsüber alles zu, was ich mir vornehme.

Dorsey hat dafür den Ausdruck will power gewählt. Er bringt den Willen auf, sich zu überwinden, sich ins kalte Wasser zu setzen, und aus diesem Willen in Kombination mit dem Verzicht auf das warme Bett schöpft er die Kraft, den ganzen Tag Höchstleistungen abzuliefern.

Dorsey fand seine Erfahrung so ermutigend, dass er anfing, mit einer noch extremeren Form des Fastens zu experimentieren. Er ließ seine Mahlzeiten am Freitag und Samstag gänzlich aus. Zwei Tage in der Woche aß er nichts. Den Effekt beschrieb er so:

Beim ersten Mal habe ich mich am dritten Tag so gefühlt, als ob ich halluziniere. Aber ich habe auch festgestellt, dass es mir bei längerem Fasten so vorkommt, als ob die Zeit viel langsamer vergeht. Vor allem hatte ich Gedanken, auf die ich sonst nie gekommen wäre.

Ideen durch Verzicht. Weisheit durch Weglassen.

Die Enthaltsamkeit am Wochenende gab Jack Dorsey irgendwann wieder auf. Heute isst er wieder sieben Mahlzeiten in der Woche, also jeden Tag genau eine. Auf diese Art des Fastens führt er seine Erkenntnisse bei Twitter und in der elektronischen Technologie zurück. Zusätzlich versucht er, täglich drei Mal eine Stunde zu meditieren. Für ihn bedeutet auch Meditation den Verzicht auf etwas, und zwar auf den ständigen Gedankenfluss. Sie ist Entgiftung vom Alltag.

In regelmäßigen Abständen macht er außerdem die sogenannte Vipassana-Meditation, bei der er sich zehn Tage zurückzieht, ähnlich wie der israelische Historiker und Bestsellerautor Yuval Noah Harari. Dorsey verzichtet dabei auf alles. Auf Sprechen, Augenkontakt, Computer, Handy, vor allem auf elektronische Nachrichten, obwohl er sie selbst weltbekannt gemacht hat.

Jeden Tag geht er acht Kilometer zur Arbeit und wieder zurück. Spät am Abend schreibt er seine Erfahrungen und Gedanken auf. Dabei verzichtet er auf sein Handy, sein iPad oder seinen Laptop. Er bedient sich lieber eines analogen Tagebuchs. Der Asket weiß auch dabei, warum. Handschriftliche Aufzeichnungen haben für die eigene Ausrichtung auf Ziele, für die eigene Verarbeitung, für das eigene Gehirn mehr Gewicht als elektronische Memos.

Die Kunst des richtigen Maßes

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