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1. Ein Arbeitstag

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Das schlechte Wetter konnte ihm seine gute Laune nicht vermiesen. Es goss in Strömen als er das Haus verließ und die kurze Strecke bis zu seinem Fahrzeug wäre er ohne seinen Regenschirm bis auf die Haut nass geworden. Mit heulender Sirene verließ ein Feuerwehrwagen die Betriebshalle auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er warf nur einen kurzen, uninteressierten Blick auf das rote Auto mit den blinkenden Lichtern. Mittlerweile hatten sie sich an die Fahrzeuge gewöhnt, die sie auch oft nachts aus dem Schlaf rissen. Seine Frau war von Anfang an dagegen gewesen, das Haus hier zu kaufen, aber letztlich entschied der günstige Preis und sie konnten sich damals ohnehin nichts anderes leisten. Die Alternative wäre eine Mietwohnung gewesen.

Tobias Kestel warf den nassen Schirm auf den Boden der Beifahrerseite und rutschte rasch hinter das Steuer. Es goss wie aus Eimern und erneut bereute er, nicht wenigstens in einen Carport investiert zu haben. Auch ein neuer Wagen wäre schön, doch momentan reichte das Geld vorne und hinten kaum. Er konnte sich jetzt keine weiteren Schulden leisten und es war überhaupt fraglich, ob die Bank ihm einen weiteren Kredit geben würde. Also musste es der kleine rote Peugeot mit dem Baujahr Neunzehnhundertachtundneunzig noch eine Weile tun. Die Kinder kamen mittlerweile in ein Alter, in dem sie anfingen, Ansprüche zu stellen und auch seine Frau war eher nicht der Typ, der jeden Cent zweimal umdrehte. Tobias wollte schon seit einer geraumen Weile seinen Chef um eine Gehaltserhöhung bitten, doch - ehrlich gesagt - hatte er bisher nicht den Mut dazu aufbringen können. Er arbeitete nunmehr seit fünfzehn Jahren bei Bensmann Immobilien und trat mehr oder weniger auf der Stelle. Und seit es die neuen, restriktiven, Bestimmungen mit Sachkundenachweis und Fortbildungszwang gab, war der Job auch nicht einfacher geworden. Tobias musste damals noch die alte, harte Schule des ‚Learning by Doing‘ mitmachen und er war der Meinung, dass es ihm nicht geschadet hatte. Er schüttelte den Kopf und startete den Wagen. Eile war geboten, denn sein Chef legte größten Wert auf Pünktlichkeit und Tobias konnte sich jetzt keine Rüge mehr leisten. Nicht, wenn er auch noch die Gehaltserhöhung ansprechen wollte.

Während er sich durch den Berufsverkehr quälte, kreisten seine Gedanken noch einmal um das vergangene Wochenende. Lächelnd dachte er an den Samstag zurück, bevor seine Gedanken sich ein wenig verdüsterten und zum Sonntag sprangen. Wieder einmal ließ seine Frau Angelika ihre ständig schlechte Laune an ihm aus, indem sie alles, was er tat, kritisierte. Vorsorglich war er am Samstag, oder besser am Sonntag, spät in der Nacht heimgekehrt, so dass sie schon tief und fest schlief. Der säuerliche Geruch nach Rotwein und die drei leeren Flaschen im Wohnzimmer zeigten ihm, dass sie wieder einmal den Kampf gegen ihre Depressionen verloren hatte.

Am Sonntagvormittag dann stand sie erst gegen halb Zwölf auf und ihr erster Weg führte sie in den Keller, wo die Rotweinflaschen lagerten. Doch an diesem Wochenende konnte nichts und niemand Tobias die Laune verderben. Er ignorierte die Ausfälle seiner Frau und widmete sich größtenteils seinen Kindern. Die jedoch empfanden seine Nähe offensichtlich eher störend und schließlich hatte er sich achselzuckend vor den Fernseher zurückgezogen. Bei der momentanen Wetterlage blieb einem ja auch kaum etwas anderes übrig.

Tobias stoppte den Wagen mit kreischenden Bremsen an einer Ampel, die gerade auf Rot umsprang. Fluchend blickte er in den Rückspiegel, doch sein Hintermann hatte zum Glück rechtzeitig auf sein plötzliches Bremsmanöver reagiert. Ein Auffahrunfall wäre das Letzte, was er jetzt noch gebrauchen könnte. Wie meistens, nahm er die Route über die Autobahn einundfünfzig am Rhein entlang, um zu dem Büro in Köln Bayenthal zu gelangen. Die Suche nach einem Parkplatz nahm noch einmal fünf Minuten in Anspruch, doch er hatte Glück, diesmal müsste er nicht allzu weit laufen.

Leichtfüßig stieg er die Treppen zum zweiten Obergeschoss hinauf. Mit seinen achtunddreißig Jahren war er noch ziemlich beweglich. Und das, obwohl Tobias niemals Sport trieb. Dafür verzichtete er aber größtenteils darauf, einen Aufzug zu benutzen. Zumindest, wenn es nicht höher als in den dritten Stock hinaufging. Während er seine ein Meter neunundsiebzig über die Stufen bewegte, wanderten seine Gedanken wieder zurück zum vergangenen Wochenende. Lächelnd trat er durch die Glastür mit der Aufschrift ‚Bensmann Immobilien‘, die zu den Büros führte. Sein Chef, Herr Bensmann, hatte in dem Bürogebäude eine komplette Etage gemietet und neben dem Großraumbüro und dem Büro des Chefs befanden sich dort auch eine kleine Teeküche, sowie ein Konferenzraum, den sie auch für Kundengespräche nutzten.

Im Flur kam ihm sein Kollege Walther Warsers mit einem schiefen Grinsen auf dem Gesicht entgegen. Der Zweiundfünfzigjährige hielt in der Hand einen Becher mit Tee, er kam offensichtlich gerade aus der Küche. Tobias konnte den Mann nicht leiden, er fand den kaum ein Meter siebenundsechzig großen Mann einfach nur ‚schleimig‘. Warsers befasste sich ausschließlich mit der Vermittlung von Mietwohnungen und, ehrlich gesagt, blickte Tobias nicht nur im physischen Sinn auf den Mann herunter. Schließlich oblag ihm selbst die Vermittlung von Eigentumswohnungen. Mehr Gehalt bekam er deshalb aber auch nicht.

„Morgen Tobbi“, grinste ihn der Kleine jetzt auch an. „Du sollst zum Chef kommen. Sofort.“

Tobias hasste diese Kurzform seines Namens und er hatte dem Älteren schon oft erklärt, dass er nicht ‚Tobbi‘ genannt werden wollte. Der ignorierte das aber und nannte ihn weiter so. ‚Eines Tages breche ich dem Kerl die Nase‘, dachte Tobias und nickte lustlos: „Aha. Worum geht’s denn?“

„Keine Ahnung. Aber es ist nicht meine Schuld, das musst du mir glauben!“

„Was ist nicht deine Schuld?“, wollte Tobias wissen, aber sein Kollege verschwand schon im Großraumbüro. Achselzuckend wandte er sich dem Zimmer des Chefs zu.

„Kestel, kommen sie herein und schließen sie die Tür hinter sich“, begrüßte ihn Bensmann, der hinter seinem Schreibtisch saß und in einem Dossier blätterte. Wilhelm Bensmann zählte achtundfünfzig Jahre, seine Haare und der gepflegte Schnurrbart waren schlohweiß. In seinem feinen Maßanzug wirkte der Mann äußerst seriös.

Tobias war froh, heute ebenfalls einen Anzug zu tragen. Sein Chef legte Wert auf entsprechende Kleidung, doch Tobias bevorzugte eigentlich legere Hosen und vielleicht auch ein Jackett dazu. Den überholten Kleidervorschriften seines Chefs konnte er nichts abgewinnen.

„Setzen sie sich“, forderte Bensmann ihn auf und wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Wie geht es ihnen, Kestel?“

„Ausgezeichnet, Herr Bensmann, ausgezeichnet.“ Tobias konnte mit der Gesprächseinleitung seines Chefs nicht viel anfangen. Er spürte nur, dass nun wenig Gutes folgen würde.

„Nun, wie lange sind sie jetzt bei uns? Fünfzehn Jahre?“

Tobias nickte: „Fünfzehn Jahre, das ist richtig, Herr Bensmann.“

Bensmann sah ihn durchdringend an: „Nun, ich will es kurz machen: Ihre Bilanz ist in den letzten Jahren immer schlechter geworden, die Verkaufsvermittlungen stagnieren. Und das in einer Zeit, in der Eigentumswohnungen weggehen wie geschnitten Brot. Was ist mit der Wohnung in der Lothringer Straße? Wie ich festgestellt habe, versuchen sie seit fast einem Jahr das Objekt an dem Mann zu bringen. Erfolglos!“

Tobias rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. Die Wohnung war sein wunder Punkt. „Seit neun Monaten“, korrigierte er lahm. „Der Eigentümer verlangt einfach zu viel dafür und ist nicht bereit, von seinen Preisvorstellungen herunterzugehen. Selbst in diesen Zeiten ist es schwer, überteuerte Wohnungen zu verkaufen.“

Bensmann nickte: „Ich habe mit dem Eigentümer gesprochen. Er hat wirklich eine überzogene Preisvorstellung. Leider aber äußerte er auch, dass er mit ihren Leistungen nicht zufrieden ist. Er vertritt die Meinung, dass sie ihm die falsche Klientel zuführen. Nun, langer Rede, kurzer Sinn: Sie bekommen ein neues Aufgabengebiet. Ab sofort übernehmen sie die Wohnungsvermittlung von Herrn Warsers. Im Gegenzug wird er die Eigentumswohnungen übernehmen. Sie, Herr Kestel beginnen heute Nachmittag um sechzehn Uhr mit einer zweieinhalb Zimmer Wohnung in Ehrenfeld.“

Bensmann machte eine kurze Pause und schob Tobias die Akte hin, in der er gerade noch geblättert hatte. „Machen sie sich mit den Daten vertraut. Es werden ungefähr zwanzig Interessenten zur Besichtigung kommen, vielleicht auch ein paar mehr. Wer die Wohnung mieten möchte, soll einen Bewerbungsbogen ausfüllen. Erklären sie den Leuten, dass alle Angaben freiwillig sind.“

Bensmann lachte leise, dann fuhr er fort: „Natürlich sortieren wir die später aus, die mit ihren Daten zu sparsam umgehen. Das Ganze dürfte ein Kinderspiel sein, denn Wohnungen dieser Größe in der Lage sind begehrt. Sie nehmen dann eine Vorauswahl vor, wobei Studenten, Alleinerziehende oder Paare mit Kindern nicht erwünscht sind. Auch gleichgeschlechtliche ‚Lebensgemeinschaften‘ werden vom Vermieter abgelehnt. Und natürlich keine Hartz IV Kameraden. Was dann übrig bleibt, legen sie mir morgen vor. Insgesamt also keine allzu schwere Aufgabe, die sie spielend meistern dürften.“

Bensmann blickte Tobias Kestel lächelnd an: „Sehen sie es als Chance. Alles klar? Falls sie noch Fragen haben sollten, wenden sie sich an ihren Kollegen Warsers, der verfügt ja über eine Menge Erfahrung in solchen Dingen. Und falls Herr Warsers Fragen bezüglich der Vermittlung von Eigentumswohnungen hat, so erwarte ich, dass sie ihn vorbehaltlos in jeder Hinsicht unterstützen. Haben wir uns verstanden?“

Tobias nickte. Die Neuverteilung der Aufgaben kam einer Degradierung gleich. Andererseits konnte er aber froh sein, nicht direkt gefeuert worden zu sein.

Die Frage nach einer Gehaltserhöhung schluckte er herunter. Jetzt war sicher nicht der rechte Zeitpunkt dazu ...

Das Kestel Psychogramm

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