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4. Vor 32 Jahren

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Es war richtig heiß. Der ganze Monat August konnte mit herrlichem Sommerwetter aufwarten und Tobias Vater baute im Garten ein Planschbecken für Steffi, seine Schwester, auf, das Tobias auch mitbenutzen durfte. Sofern Steffi es erlaubte.

Stefanie erlaubte es immer und ausnahmslos. Jedenfalls so lange, wie Tobias sie mit Schokolade und anderen Süßigkeiten versorgte. Und da bahnte sich das eigentliche Problem an: Tobias verfügte über keinen Pfennig Taschengeld mehr und die letzten beiden Tafeln Schokolade, die er noch besaß, würden in zwei Tagen aufgebraucht sein. Er musste irgendwie an Süßigkeiten herankommen, wollte er den Rest des Monats nicht seiner Schwester beim Plantschen im kühlen Wasser zusehen.

Doch eine Lösung seines Problems war in Sicht, denn heute war sein großer Tag. Der Tag seiner Einschulung! Tobias träumte von einer großen Schultüte, randvoll mit den leckersten Süßigkeiten. Es wären so viele Bonbons, so viel Schokolade und Lutscher darin, dass er selbst auch ein klein wenig davon würde naschen können. So erhoffte er es sich jedenfalls.

Leider folgte seine Mutter momentan dem aktuellen Trend, dass alles ‚gesund‘ sein musste. Kekse aus irgendeiner Masse, die eher an trockenes Knäckebrot, denn an leckere Plätzchen erinnerten. Das Mittagessen mit durchweg ‚gesunden‘ Zutaten, aber wenig schmackhaft. Und Nudeln mit Tomatenketchup gab es ohnehin nicht mehr. Zum Glück verabscheute seine Schwester mit zunehmendem Alter den Spinat ebenso wie er und dieses Essen war stillschweigend vom Ernährungsplan verschwunden.

Aber heute war sein Tag! Am Nachmittag würden einige Verwandte, Oma und Opa und eine Tante zu Besuch kommen und die Einschulung zusammen mit ihnen feiern. Und natürlich dürfte ein jeder Geschenke, Süßigkeiten und vielleicht auch die ein oder andere D-Mark für ihn mitbringen. Es musste einfach so sein!

„Verdammt, Tobias, wo bleibst du?“ Seine Mutter rief nach ihm aus der Diele, in der sie mit seiner kleinen Schwester auf ihn wartete. Wie er wusste, begann der Tag mit einem Gottesdienst in der Kirche neben der Schule und erst danach ging es in den Klassenraum selbst. Tobias war aufgeregt und ängstlich zugleich. Ein neuer Abschnitt in seinem Leben begann. Oder wie sein Vater ihm oft genug eingebläut hatte: „Jetzt beginnt der Ernst des Lebens!“ Tobias konnte sich nichts darunter vorstellen, nickte aber brav, um seinen Vater nicht zu verärgern. Der lächelte dann zufrieden und wenn er wirklich gute Laune hatte, dann legte er ihm sogar die Hand auf die Schulter.

Tobias rieb an dem Fleck an seinem Knie herum. Für den ersten Schultag hatte seine Mutter ihn extra ‚fein gemacht‘ und einen dunkelblauen Anzug besorgt. Er passte nicht so richtig und Tobias befürchtete, dass die Kleidung vom zwei Jahre älteren Nachbarjungen stammte. Auf jeden Fall war niemand mit ihm einkaufen gegangen und er musste den Anzug auch in keinem Geschäft anprobieren.

Jedenfalls war da jetzt der braune Schokoladenfleck, den er seiner Schwester verdankte. Sie hatte mit einem Stück Schokolade nach ihm geworfen, als er nicht direkt auf die Frage antwortete, wie sie in ihrem neuen Kleid aussah. Das Kleid kauften seine Mutter und Steffi in einem Geschäft für ausgesuchte Kindermoden schon Tage zuvor.

„Wenn du nicht sofort kommst, dann hole ich dich!“, drang die drohende Stimme an sein Ohr.

Um dem kommenden Ärger zu entgehen, rief er hastig „Ich komme“ und verdoppelte seine Bemühungen den Fleck zu entfernen. Doch durch die Wärme der Reibung vergrößerte er ihn nur noch mehr. Schließlich gab der Junge seufzend auf.

„Wie siehst du denn aus?“, schrie ihm seine Mutter entgegen, kaum dass sie ihn erblickte. Natürlich bemerkte sie den Fleck sofort. „Ausgerechnet jetzt musst du noch Schokolade in dich hineinstopfen? Du weißt doch, wie ungesund das ist! Was ist denn bloß los mit dir Junge? Da macht man und tut und schuftet und das ist dann die Dankbarkeit, die man erfährt.“ Während seine Mutter weiter vor sich hin schimpfte, rieb sie mit einem feuchten Lappen an seinem Knie herum. Die Hose war nun an der Stelle nass und der Fleck vergrößerte sich noch weiter. Es machte jetzt den Anschein, als hätte er in die Hose gemacht. Zum Glück befand sich der braune, feuchte Fleck nicht auf der Rückseite der Hose.

Nach ein paar Minuten gab sie es auf. „Dann musst du halt so an deinem ersten Schultag gehen“, meckerte sie. „Dann erhält die Lehrerin schon direkt den richtigen Eindruck von dir!“

Sie blickte an ihm herunter, wandte sich zum Gehen und stutze plötzlich. Wo sind denn dein Ranzen und die Schultüte? Los, geh und hol die Sachen und beeil dich, wir sind schon spät dran.“

Tobias wusste zwar, wo sich sein Ranzen befand, war sich aber nicht sicher, ob sie schon heute die Schulsachen mitnehmen sollten. Jedenfalls hatte niemand etwas in dieser Hinsicht erwähnt. Wo seine Mutter aber die Schultüte verwahrte, konnte er beim besten Willen nicht sagen. „Vielleicht brauchen wir den Ranzen heute noch nicht“, bemerkte er kleinlaut und fast flüsternd.

„Was hast du gesagt? Laut und deutlich und wohlartikuliert! Verdammt, wie oft muss ich das denn noch predigen?“

Tobias konnte zwar mit ‚laut und deutlich‘ etwas anfangen, was aber ‚wohlartikuliert‘ bedeutet, verschloss sich ihm. „Kann doch sein, dass wir den Ranzen heute nicht brauchen“, wiederholte er etwas lauter. „Und wo die Schultüte ist, weiß ich nicht.“

„So so, der Herr entscheidet jetzt, ob man in der Schule einen Ranzen braucht oder nicht“, stieß seine Mutter mit rotem Kopf hervor und Tobias senkte den Blick. Sie war nahe davor, die Geduld zu verlieren und das bedeutete mindestens eine Ohrfeige für ihn. „Du holst jetzt sofort deinen Ranzen und die Schultüte liegt in der Küche. Wärst du nicht so trödelig, wüsstest du das alles!“

Tobias drehte sich rasch um, um den drohenden Schlägen zu entgehen. So schnell ihn seine kleinen Beine trugen, holte er den Ranzen und die Schultüte. Darin klapperte es verführerisch und vor seinen Augen erschienen Schokoladen, Bonbons und andere Süßigkeiten. Leider hatte seine Mutter keine Zeit erübrigen können und war nicht zum gemeinsamen Basteln in die Schule gekommen, wie all die anderen Mütter. Irgendwann brachte sie diese fertige Tüte von einem Einkauf mit nach Hause. Tobias gefiel sie nicht sonderlich, denn es handelte sich eindeutig um eine Mädchenschultüte. Auf einem rosafarbenen Untergrund mit goldenen Sternen tanzte irgendeine Märchenfigur in einem scheußlichen Ballettkostüm. Doch es kam schließlich auf den Inhalt an und außerdem blieb ihm ja keine Wahl.

Die Kirche betraten sie als einige der Letzten und das brachte Tobias einen bösen Blick seiner Mutter ein. Die Messe begann gerade und alle Bänke waren belegt. Seine Mutter quetschte sich mit Mühe auf einen Platz und nötigte ihre Sitznachbarn dadurch enger zusammenzurücken. Dann nahm sie seine Schwester auf den Schoß. Tobias stand im Gang neben ihnen und ließ seinen Blick über die zukünftigen Mitschüler und ihre Familien schweifen. Viele berufstätige Väter und Mütter hatten sich diesen Tag frei genommen, um bei ihren Sprösslingen zu sein. Sein Vater wollte ‚für diesen Quatsch‘, wie er es ausdrückte, keinen freien Tag opfern und erstickte jede von Tobias Bitten sofort im Keim. Wenn Mutter dabei wäre, würde das schließlich reichen. Alle lauschten aufmerksam den Worten des Pfarrers und während Tobias sich so umschaute, konnte er kein einziges Kind mit einem Ranzen entdecken. Und keinen Jungen, der eine rosafarbene Schultüte auf dem Arm hielt.

Nach der Messe folgten sie dem Pulk zur Schule hinüber. Tobias taten die Beine vom langen Stehen weh und er hatte Mühe seiner Mutter zu folgen. Die ermahnte ihn ständig, nicht so langsam zu gehen, sie würden doch seinetwegen den Anschluss verpassen. Tobias bemühte sich schneller zu laufen und stolperte über einen Stein, wobei ihm die Schultüte aus der Hand fiel. Rasch bückte er sich danach, noch gingen Schwester und Mutter vor ihm und hatten nichts bemerkt. Irgendjemand stieß von hinten gegen ihn und brachte ihn endgültig ins Straucheln. Tobias fing sich mit einer Hand ab, wobei er sich auf die Schultüte stützte. Genau an der Stelle, an der die Tänzerin einen Fuß auf eine blassblaue Wolke setzte, verunstaltete plötzlich ein tiefer Knick die Tüte.

Ein Mann half ihm auf. „Junge, du musst aber besser aufpassen. Bist wohl eine kleiner Hans-guck-in-die-Luft, was?“ Die zerbeulte Schultüte landete wieder in seinen Händen und der Junge bemühte sich, seine Mutter einzuholen. Zum Glück hatten weder sie, noch die Schwester etwas gemerkt.

Auf dem Schulhof standen mehrere Lehrer und Lehrerinnen, die sich um die neuen Schüler und deren Eltern kümmerten. Sie hielten Listen in den Händen. Tobias‘ Mutter nannte einer kleingewachsenen Frau mit grellroten Haaren ihren Namen. Die zeigte auf eine Baracke am Rande des Schulhofes: „Klasse 1D, Frau Kestel. Gehen sie dort hinüber, Tobias‘ Klassenlehrerin sagt ihnen dann, wie es weitergeht.“

„Siehst du, Tobias, jetzt bist du schon fast ein Schüler“, meinte seine Mutter und betrachtete ihn. Den Fleck auf der Hose ignorierte sie geflissentlich, dann verharrte ihr Blick auf der demolierten Schultüte. „Was hast du denn jetzt schon wieder angestellt?“, grollte sie böse. „Kannst du mit deinen Sachen nicht vernünftig umgehen? Es ist eine Schande, man muss sich ja für dich schämen!“

Während des gesamten Weges bis zu der kleinen Baracke, die in zwei Schulräume unterteilt war, hielt sich seine Mutter mit der Strafpredigt dran. Stefanie sah sich derweil mit großen Augen um. „Darf ich auch bald in die Schule?“, fragte sie und stoppte damit den Redefluss ihrer Mutter.

„Da musst du noch ein wenig warten, mein Schatz. Zwei Jahre. Aber die vergehen schnell und bis dahin gehst du schön weiter in den Kindergarten. Dort lernst du ja auch etwas.“

Steffi nickte: „Ich kann auch schon rechnen. Zwei mal zwei ist fünf.“

„Vier“, korrigierte Tobias, der zwar noch nicht gut rechnen konnte, doch so leichte Aufgaben bereiteten ihm keine Probleme.

„Sei nicht so vorlaut, Tobias“, rügte ihn seine Mutter. „Das wirst du dir in der Schule ganz schnell abgewöhnen müssen. Bevor du etwas sagst, musst du dich nämlich melden!“

Die Klassenlehrerin, eine ältere, magere Frau, nahm sie an der Tür in Empfang. Diesmal musste Tobias seinen Namen nennen. „Du hast aber eine schöne Schultüte“, lobte sie und Tobias wusste, dass die Frau log. „So ... so ... speziell. Und einen Ranzen hast du auch schon mitgebracht. Du bist ja ein ganz eifriger, was?“ Sie zeigte auf einen Tisch, hinter dem zwei Stühle standen. Auf dem einen saß ein dicker Junge mit roten Haaren. „Das ist dein Platz. Setz dich dort hin, der Unterricht beginnt gleich.“

„Hallo, ich bin Tobias.“ Er ließ sich auf dem Stuhl nieder, was wegen des Ranzens auf dem Rücken sehr unbequem war. Tobias saß vornübergebeugt und hielt seinem Tischnachbarn die Hand hin.

„Marvin“, erwiderte der kurz angebunden, ergriff aber nicht die dargebotene Hand. Dann blickte er ostentativ zur Tafel vorne. Tobias spürte, dass sie keine Freunde werden würden.

Irgendwann befanden sich alle Schüler im Klassenraum. Mütter und Väter standen an den Seiten des Raumes und betrachteten ihre Kinder stolz. Tobias warf einen Blick zu seiner Mutter, bemerkte aber, dass die sich mit seiner Schwester beschäftigte. Fotos wurden gemacht und als schließlich etwas Ruhe eintrat, begann die Lehrerin lustlos mit dem ‚Unterricht‘. Dabei handelte es sich aber mehr um Hinweise zum Schulalltag, Informationen über Bestimmungen und Verbote und schließlich erhielten sie eine Liste mit den Dingen, die sie in den nächsten Tagen mitzubringen hatten. Tobias langweilte sich schon nach kurzer Zeit, da er nur die Hälfte von dem verstand, was die magere Frau erzählte. Seine Gedanken schweiften ab und erst als der rothaarige Junge neben ihm, gegen seine Schulter schlug, blickte er auf.

„Hallo, da haben wir ja einen kleinen Träumer“, ließ sich die Lehrerin vernehmen und einige der Eltern lachten leise. Tobias spürte, wie er rot im Gesicht wurde. „Also Junge?“

Tobias blickte die Lehrerin fragend an. Dann schweifte sein Blick hilfesuchend zu seiner Mutter, die ihn aber lediglich böse ansah.

„Aufstehen, du bist an der Reihe“, zischte der Dicke neben ihm und Tobias erhob sich unsicher. Da er nicht aufgepasst hatte, wusste er auch nicht, was man von ihm erwartete.

„Nun, Träumer?“, hörte er die Lehrerin ungeduldig sagen. „Wie heißt du und was sind deine Hobbies?“

„Tobias“, stotterte er und überlegte, was für Hobbies er hatte. Eigentlich keine, aber das konnte er doch hier jetzt nicht sagen.

„Und weiter? Du musst schon deinen vollständigen Namen nennen!“ Die Lehrerin hielt in der Hand ein Holzlineal und ließ es nun auf ihre linke, offene Handfläche klatschen. Tobias fühlte sich an den Lederriemen seines Vaters erinnert und ein ungutes Angstgefühl breitete sich in seinem Körper aus.

„Tobias Kestel“, stammelte er schließlich, wurde aber von der Lehrerin sofort unterbrochen: „Wir bemühen uns hier um ganze Sätze, Tobias. Wir sind ja schließlich nicht im Kindergarten. Beginn noch einmal von vorne, Junge: Ich heiße ...“ Wieder lachten einige Eltern und Tobias spürte eine nie dagewesene Wärme im Gesicht und eine zunehmende Hilflosigkeit.

„Ich heiße Tobias Kestel.“

Es trat ein Augenblick der Stille ein. Schließlich schüttelte die Lehrerin den Kopf: „Ja und? Welche Hobbies hast du?“

Tobias fiel nichts ein und er überlegte angestrengt. Dann dachte er an das Planschbecken im Garten. „Schwimmen.“

„Mein Hobby ist Schwimmen“, wandelte die Lehrerin seine Aussage in einen ganzen Satz um. Sie klang ziemlich genervt. „Jetzt du, Tobias.“

„Mein Hobby ist Schwimmen.“

Unter dem erneuten Lachen einiger Eltern durfte er sich setzen. Seine Mutter blickte ihn immer noch böse an, wandte sich dann aber wieder Steffi zu.

Der ‚Unterricht‘ endete schließlich und Tobias atmete erleichtert auf. Die ganze Zeit hatte er befürchtet, erneut aufstehen und etwas sagen zu müssen. Doch die Lehrerin ignorierte ihn weitestgehend.

„Du blamierst die ganze Familie!“, schrie ihn seine Mutter an, kaum dass sie den Schulhof verlassen hatte. „Schwimmen! Herrgott, du kannst doch gar nicht schwimmen. Wie kommst du darauf, der Lehrerin solch eine Lüge aufzutischen? Warte nur ab, sie wird schon selbst herausfinden, dass du sie belogen hast, denn auf eurem Stundenplan steht auch Schwimmunterricht. Und dann Gnade dir Gott!“

Vor Tobias‘ innerem Auge wandelte sich das Holzlineal der Lehrerin in den Ledergürtel seines Vaters. Der Junge musste schwer schlucken, um die Tränen zu unterdrücken.

Zu Hause angekommen, durfte er endlich die Schultüte öffnen. Seine Schwester saß mit ihm am Küchentisch und beobachtete ihn ganz genau. Tobias überkam ein Gefühl der Überlegenheit. Er war eingeschult worden! Langsam und genussvoll räumte er seine Schultüte Stück für Stück aus. Dies gehörte allein ihm und Stefanie konnte nichts anderes tun, als ihm zuzusehen und die Geschenke und Süßigkeiten, die er gleich Zutage fördern würde, zu bewundern. Tobias ließ sich absichtlich Zeit. Er wollte den Moment so lange wie möglich genießen. Das Gefühl der Überlegenheit, des Besitzes und der Aufmerksamkeit.

Doch das Gefühl hielt genau bis zu dem Moment an, als seine Mutter lächelnd mit einer Miniaturschultüte in die Küche trat und sie seiner Schwester in die Hand drückte. „Du sollst doch nicht leer ausgehen, Steffi. Das ist eine Kindergartentüte.“

Stefanie sah ihre Mutter dankbar an. „Danke Mami, du bist die beste Mami der Welt.“ Sie sprang auf und küsste ihre Mutter auf die Wange. Dann goss sie den Inhalt der kleinen Tüte auf den Tisch. Schokoladenbonbons in lustig buntem Papier türmten sich zu einem kleinen Berg.

Tobias kramte jetzt schneller in seiner Schultüte und legte deren Inhalt nacheinander auf den Tisch: Ein kleines Mäppchen mit Bleistiften, eine Tüte mit Mutters selbstgebackenen und ungenießbaren Keksen, ein Apfel, eine Banane und eine Tafel Schokolade, die durch seinen Sturz stark in Mitleidenschaft gezogen worden war und mehrere Risse zeigte. Schokoladenkrümel rieselten auf den Tisch und Tobias standen die Tränen in den Augen.

„Nun mach doch nicht so eine Sauerei“, wies ihn seine Mutter auch gleich zurecht und wischte die Krümel mit einem Lappen fort. „Freust du dich denn gar nicht? Nimm dir mal ein Beispiel an deiner Schwester.“ Demonstrativ hielt sie ihm ihre Wange hin. Angewidert drückte Tobias ihr ein Küsschen darauf und beobachtete aus dem Augenwinkel, wie sich seine Schwester gleich zwei der köstlichen Sahnebonbons in den Mund schob.

Am Nachmittag trudelten nach und nach die Verwandten ein. Tobias sah sich noch einmal im Mittelpunkt stehen, doch Oma und Opa, Tante und Onkel wandten sich Stefanie zu, als die ihnen stolz ihre ‚Kindergartentüte‘ präsentierte. Leider fehlte inzwischen der Inhalt, aber die ein oder andere Tafel Schokolade, die die Verwandten nun augenzwinkernd hineinlegten, änderte diesen Zustand. Auf Tobias machte es den Eindruck, als würden Süßigkeiten, die eigentlich ihm gegolten hatten, in der Tüte seiner Schwester verschwinden.

Der Onkel nahm ihn zur Seite und hielt ihm einen roten Gegenstand hin. „Hier Tobbi, das ist für dich. Schließlich bist du jetzt ein Mann und jeder Mann sollte so etwas besitzen. Aber erzähl niemandem, dass du es von mir hast.“ Er drückte es Tobias in die Hand, der ratlos darauf blickte und es in den Fingern drehte. So etwas hatte er noch nie gesehen. Auf einer Seite prangte ein kleines Kreuz in einem Rahmen. Sein Onkel nahm ihm das Teil wieder aus der Hand und schüttelte den Kopf: „Das ist ein Schweizer Taschenmesser“, erklärte er und klappte etwas aus dem Ding aus. „So etwas braucht ein jeder Mann. Das ist ein Messer und das hier“, er klappte wieder etwas heraus, „ein Flaschenöffner. Hier ist sogar ein Korkenzieher.“ Der Onkel lachte: „All das, was ein ganzer Mann so braucht! Geh sorgsam damit um und nutze es sinnvoll!“

Schließlich wurde Tobias genötigt, seine Schultüte vorzuführen. Das demolierte Aussehen ließ seine Verwandten grinsen, doch sie nickten ernst mit dem Kopf und meinten: „Sehr schön Tobbi, das ist aber eine schöne Schultüte.“ Dann wandten sie sich wieder Kaffee und Kuchen zu und sprachen über Krankheiten, das neue Auto von Opa und der Arbeit des Onkels. Stefanie saß auf Opas Schoß und spielte mit dessen Vollbart, was ihm hin und wieder ein Lachen entlockte.

Da Tobias keine Beachtung mehr fand, schlüpfte er durch die Hintertür in den Garten. Die Sonne brannte heiß vom Himmel und das Wasser im Planschbecken glitzerte verführerisch. Doch er traute sich nicht, seine Badehose anzuziehen und hineinzusteigen. Einerseits musste er zuvor Stefanie um Erlaubnis fragen und andererseits hatte ihm seine Mutter befohlen, den Anzug den ganzen Tag anzubehalten. „Der festliche Rahmen, mein Junge. Der festliche Rahmen!“, hatte sie ihm erklärt und Tobias verstand kein Wort. Spielte es wirklich so eine große Rolle, dass er in diesem dämlichen Anzug herumlief, noch dazu, da es so heiß war? Keiner der Verwandten trug ähnlich festliche Kleidung. Selbst seine Mutter hatte sich nach ihrer Rückkehr etwas Bequemes angezogen. Nur Stefanie trug stolz ihr neues Kleid, sah sie darin doch wie eine kleine Prinzessin aus.

Hinter dem Garten des Hauses befand sich ein kleines, verwildertes Grundstück, das bis jetzt noch nicht bebaut worden war. Direkt daran grenzte ein Nachbar, der seinen Garten mit einem Zaun umgeben hatte. Davor wuchsen Bäume und Sträucher und Tobias fand bald heraus, dass es sich in dem dichten Gestrüpp sehr gut spielen ließ. Aus Zweigen und Blättern hatte er sich eine kleine Höhle gebaut, in die er sich so oft es ging zurückzog. Auch jetzt zwängte er sich durch die Äste, kroch auf dem Boden durch einen niedrigen Durchlass und saß schließlich geschützt und abgeschirmt zwischen all dem Grün. Beim Hineinkriechen hatte er sich einen Riss im Ärmel seiner Jacke zugezogen und er konnte sich unschwer ausmalen, was das bedeutete: Prügel vom Vater mit dem Ledergürtel.

Tobias saß auf dem Boden und ließ seinen Tränen freien Lauf. Das sollte der großartige Tag seiner Einschulung gewesen sein? Sein großartiger Tag? Die Schultüte und vor allem der Inhalt waren ein einziger Reinfall gewesen. Die zerkrümelte Schokolade würde Stefanie nicht haben wollen und damit blieb ihm der Weg ins Planschbecken versperrt. Die Großeltern hatten es gut gemeint und ihm einen Briefumschlag mit Geld geschenkt. Doch das Geld nahm seine Mutter direkt an sich und würde es in seine Spardose stecken. Im Grunde blieb ihm von diesem Tag eigentlich nichts. Tobias rutschte ein wenig zur Seite und spürte das Messer in seiner Hosentasche. Dies war das einzig sinnvolle Geschenk! Allerdings wusste er im Grunde genommen nichts damit anzufangen. Gedankenverloren betrachtete er das kleine Kreuz. Dann versuchte er das Messer auszuklappen und brach sich prompt den Fingernagel ab. Erst nach mehreren Versuchen gelang es ihm, nach und nach die einzelnen Teile hervorzuholen. ‚Korkenzieher‘? Er betrachtete die kleine Spirale mit der scharfen Spitze. Wofür war das Ding eigentlich gut? Seufzend steckte er das Geschenk in seine Jackentasche.

Seine Familie oder die Verwandten schienen ihn nicht zu vermissen. Keiner suchte nach ihm, niemand rief seinen Namen und Tobias kam sich alleine und verlassen vor. Bestimmt drehte sich wieder einmal alles um seine Schwester, die stets der Mittelpunkt jeder Feier war. Sie war süß, sie war lustig. Jedermann liebte sie. Tobias lauschte, ob nicht vielleicht doch jemand nach ihm rief, doch außer irgendwelcher Musik konnte er nichts vernehmen.

Und doch war da ein Geräusch, das ihn aufhorchen ließ. Ein Rascheln und ein leises Miauen. Der Junge sah sich um und entdeckte plötzlich ein kleines Kätzchen, das durch die Blätter stolperte. Es kam direkt auf ihn zu, sah Tobias aus großen, grünen Augen an und näherte sich ihm noch weiter. Es musste sich um eines der Katzenkinder der Nachbarskatze handeln, das sich hierhin verlaufen hatte und nun nicht mehr zu ihrer Mutter zurückfand.

Das Kätzchen war genauso verloren, wie er selbst!

Tobias blickte auf das kleine Tier mit dem weichen grauen Fell, das jetzt an seinem Knie mit dem Schokoladenfleck schnupperte und dann sein Köpfchen daran rieb. Es miaute leise und es klang ziemlich kläglich. Vorsichtig streichelte er über das weiche Fell und das Kätzchen drückte sich ihm entgegen, als würde es bei ihm Schutz suchen. Tobias nahm es hoch und das kleine Tier schmiegte sich wohlig in seine Hände.

Als der Junge die Katze kurz absetzte, um in seine Jackentasche zu greifen, sah sie ihn vorwurfsvoll an und erneut erklang dieses klägliche Miauen. Bevor sie ihm noch davonlaufen konnte, nahm Tobias das kleine Wesen in die linke Hand. Jetzt hielt er es mit festem Griff und das Tier fing an sich unter seinen Fingern zu winden. Doch es war zu schwach, um ihm zu entkommen. Kleine, noch nicht wirklich gefährliche Krallen, fügten seinem Handgelenk leicht blutende Kratzer zu.

Tobias spürte eine plötzliche Ruhe und Entspanntheit in sich, die er seit Jahren irgendwie vermisst hatte. Beim Betrachten des hilflosen Tieres stellte sich dieses wohlige Gefühl ein und eine leichte Gänsehaut kletterte seinen Rücken hinab. Er genoss diesen Moment, so wie er vorhin die Minuten genossen hatte, als Stefanie ihm beim Auspacken der Schultüte zusehen musste und diese dämliche ‚Kindergartentüte‘ noch nicht besaß. Das Kätzchen wand sich jetzt stärker und miaute kläglich. Tobias hielt es eisern fest, so dass es den Kopf nicht bewegen konnte. Das alles war anstrengend, doch der Junge spürte keinen Schmerz mehr, keine Pein, sondern nur das herrliche Gefühl der Macht, das ihn erfüllte.

Endlich wusste er, wozu der Gegenstand an dem Schweizer Messer gut war und er bohrte den Korkenzieher geschickt in ein Auge des Tieres. Das kreischte jetzt vor Schmerzen so laut es mit ihrem schwachen Stimmchen konnte und Tobias genoss jeden einzelnen Laut. Vergessen war die kitschige Schultüte, vergessen die dumme Lehrerin und vergessen all die Schmach und Demütigung. Es gab nur das Hier und Jetzt und das herrliche Gefühl, das seinen Körper durchströmte. Als die Bewegungen der Katze erlahmten und Blut über seine linke Hand tropfte, bohrte er den Korkenzieher auch in das andere Auge des Kätzchens. Diesmal drückte und drehte er so lange, bis die spitze Spirale bis zum Anschlag im Kopf des Tieres verschwunden war. Das Kätzchen bewegte sich nicht mehr, sondern lag schlaff in seiner Hand. Tobias wechselte zu der Messerklinge und schnitt den Brustkorb des Tieres auf. Und wirklich: Das Herz, das er erkennen konnte, pulsierte noch schwach und erstarb erst, als er es aus dem kleinen Körper schnitt.

Tobias fühle sich großartig.

Das Kestel Psychogramm

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