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3. Die Wohnungsbesichtigung

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Tobias Kestel blickte auf seine teure Armbanduhr und stellte befriedigt fest, dass ihm bis zu dem Besichtigungstermin noch etwas Zeit blieb.

Sein Kollege Walther Warsers, der jetzt seinen Job übernommen hatte, kam alle paar Minuten mit Fragen zu ihm. Anfänglich entschuldigte Warsers sich noch dafür, dass Bensmann von ihnen diesen Jobtausch verlangt hatte, doch als Tobias ihm klarmachte, dass es schon gut sei und er sich seine Entschuldigungen in den Arsch schieben solle, schwieg Warsers. Sofern er wegen seiner unsinnigen Fragen überhaupt noch zu ihm kam.

Tobias benötigte keine Erklärungen zu seinen neuen Aufgaben. Die Jobvorgaben waren eindeutig und eine Wohnung vermieten konnte jeder Praktikant. Die hohe Nachfrage nach Wohnraum erforderte lediglich ein Aussortieren derer, die für die Anmietung auf keinen Fall in Frage kämen. Die endgültige Entscheidung fällte später sowieso der Eigentümer. Verdammt, mit diesem Wechsel hatte Bensmann in wirklich degradiert. Aber der würde sich noch umschauen, denn Walther Warsers war mit Sicherheit nicht der Richtige für den Verkauf von Eigentumswohnungen.

Tobias suchte in seinen Jackentaschen nach der kleinen Dose mit den Pillen. Normalerweise benötigte er seine Dosis nach solch einem Wochenende erst wieder am Mittwoch, frühestens am Dienstag, aber nach diesem Rückschlag fühlte er sich einfach nur mies.

Als er die kleine Schachtel mit der Aufschrift ‚Orap‘ schließlich in seiner linken Tasche fand, atmete er erleichtert auf. Sein Hausarzt verschrieb ihm die Tabletten regelmäßig, nachdem sie ein längeres Gespräch geführt hatten. Der Arzt erwähnte dabei auch etwas von Psychotherapie und wies wiederholt auf die Dosierung hin, doch solche Dinge interessierten Tobias nicht. Die Pillen halfen und damit Schluss. Leider war die Wirkung begrenzt, doch das brauchte ja niemand zu wissen ... Wie immer schluckte er die kleine weiße Tablette ohne Wasser herunter und wartete sehnsüchtig auf die Wirkung. Plötzlich bemerkte er aus den Augenwinkeln jemanden neben sich stehen.

„Orap“, meinte Walther Warsers, der sich wohl lautlos angeschlichen hatte. „Ist das nicht ein Psychopharmakon?“

„Geht dich das was an? Kümmere dich gefälligst um deinen eigenen Kram.“ Tobias brauchte die Gegenwart des schleimigen Warsers jetzt weniger denn je.

„Schon gut, schon gut. Entschuldige. Ist ja deine eigene Angelegenheit.“

„Du sagst es!“

„Ich wollte ja auch nur fragen, ob es bei der Wohnung in der Lothringer Straße einen Spielraum für den Kaufpreis gibt.“

Tobias stöhnte auf: „Verdammt, Warsers, hast du das denn immer noch nicht kapiert? Der Verkäufer gibt uns keinen Spielraum und lässt auch bezüglich des Preises nicht mit sich reden. Du kannst es ja versuchen. Nur für das, was er verlangt, kriegst du die Bude nie verkauft!“

„Abwarten, abwarten“, murmelte Tobias Kollege. „Man muss nur den richtigen Käufer finden. Irgendeinen Dummen gibt es immer. Jeden Morgen stehen Dutzende davon auf!“

„Na dann viel Glück. Und jetzt lass mich in Ruhe, ich muss sowieso gleich los.“

Für die knapp acht Kilometer bis zu der Mietwohnung in Köln Ehrenfeld brauchte Tobias Kestel mehr als fünfundvierzig Minuten. Hohes Verkehrsaufkommen und ein Auffahrunfall mit leichtem Blechschaden sorgten immer wieder für Staus. Der Regen ließ einfach nicht nach und fiel aus dicken, dunklen Wolken als gäbe es eine neue Sintflut. Tobias verfluchte den Verkehr, die späte Uhrzeit der Besichtigung, die zweifellos den Berufstätigen gewidmet war, und seinen Chef, der ihm das hier eingebrockt hatte. Es kam selten vor, dass er sich schon am Montag das Wochenende herbeisehnte, aber heute war so ein Tag. Wütend drückte er auf die Hupe und erntete neben desinteressiertem Achselzucken auch erhobene Mittelfinger. Schneller voran ging es deswegen noch lange nicht.

Die Wohnung erreichte er schließlich mit zwanzig Minuten Verspätung und nach einem längeren Fußmarsch. Dafür waren seine Schuhe und Hosenbeine klatschnass. Tobias überlegte, ob er sich in den nächsten Tagen von seinem Arzt mit einer Erkältung krankschreiben lassen sollte. Ein paar Tage Ruhe würden ihm guttun.

Vor dem Haus wartete schon eine lange Schlange von Mietinteressenten, von denen er einige zur Seite schieben musste, um überhaupt an die Eingangstüre heranzukommen. Ein junger Mann begrüßte ihn mit den Worten „Sie sind aber verdammt spät dran, wo bleiben sie denn, Mann?“ und disqualifizierte sich damit im Vorfeld schon als potenzieller Mieter. Tobias merkte sich das Gesicht, sagte aber nichts. Die Meute stürmte hinter ihm in den Hausflur, folgte die Treppe hinauf und quoll in die Wohnung, sobald er die Tür öffnete. Tobias suchte sich seufzend eine ruhige Ecke.

Aus seiner Aktentasche kramte er die erforderlichen Unterlagen hervor und hielt die Vordrucke hoch: „Meine Damen und Herren. Falls sie Interesse an dieser Wohnung haben sollten, so füllen sie bitte diese Formulare aus. Alle Angaben sind freiwillig, allerdings muss ich sie bitten, mindestens ihre momentane Anschrift einzutragen, sonst können wir sie ja nicht kontaktieren ...“ Das sollte als kleiner Scherz und Auflockerung gemeint sein, doch niemand interessierte sich wirklich für das, was er sagte. Die Menschen rissen ihm die Vordrucke förmlich aus der Hand und fragten nach einem Kugelschreiber oder Stift. Tobias zuckte mit den Schultern, daran hatte er nun wirklich nicht gedacht.

Alle paar Minuten trat ein Interessent zu ihm und stellte irgendwelche Fragen zu der Wohnung, der Nachbarschaft und die ortsunkundigen sogar zu der Stadt Köln selbst. Tobias versuchte die Fragen bestmöglich zu beantworten, musste aber gerade in Bezug auf verwaltungstechnische Dinge passen. Warum erkundigten sich die Leute eigentlich nicht bei der Stadt selbst, die für Anmeldung, Ummeldung und ähnliche Dinge doch zuständig war. Tobias wurde zunehmend gereizter und als ein Blick aus dem Fenster zeigte, dass es zwar anfing zu dämmern, der Regen jedoch unvermindert vom Himmel prasselte, gelangte seine Laune beim Nullpunkt an.

„Entschuldigung, darf ich sie etwas fragen?“ Eine junge Frau mit einem kleinen Mädchen an der Hand sah ihn bittend an.

„Sie fragen ja schon“, brummte Tobias, nickte aber.

„Bist du der Vermietonkel?“, fragte jetzt das kleine Mädchen an Stelle ihrer Mutter und die lächelte entschuldigend. „Sei nicht so vorlaut, Kleines“, wies sie das Mädchen zurecht.

Doch Tobias winkte ab: „Schon gut“, wandte er sich an die Frau, dann beugte er sich zu dem Kind herunter. Er blickte in große, blaue Augen und ihren kleinen Kopf mit dem Puppengesicht umrahmten goldblonde Locken. „Nein, ich bin nur der Vermittleronkel“, lächelte er es an und überlegte, wie alt das Kind wohl sein mochte. „Und wer bist du, wie heißt du?“

„Mia“, krähte die Kleine und grinste ihn an.

Tobias kramte aus einer Anzugtasche einen Dauerlutscher hervor, von denen er für solche Fälle immer einige bei sich trug. Er verabscheute diese klebrigen Süßigkeiten, wusste aber über die Kinder, die Eltern für sich zu gewinnen. Ein wichtiger Schachzug beim Vertrauensaufbau im Vorfeld des Wohnungsverkaufs. Nur dass er hier leider keine Eigentumswohnung verkaufte. Er blickte die Mutter an: „Darf sie das?“ Tobias wusste aus Erfahrung, dass immer erst die Eltern - primär die Mutter - um Erlaubnis gefragt werden mussten, bevor er den Kleinen den Lutscher gab. Manche Eltern wollten einfach nicht, dass ihre Kinder etwas von Fremden geschenkt bekamen.

Die Mutter nickte. „Hensenbrugger, Charlotte und Mia. Wir sind neu in der Stadt und leben momentan bei meinem Vater. Aber die Wohnung ist sehr klein und eng und wir suchen dringend eine eigene Bleibe.“

Die Kleine war jetzt ausschließlich damit beschäftigt, die klebrige Süßigkeit aus der Verpackung zu schälen. Tobias betrachtete sie sinnend.

„Sie wollten mich etwas fragen“, wandte er sich dann wieder an die Mutter.

„Ja, entschuldigen sie. Ich wollte fragen, ob sie auch an alleinstehende Mütter mit Kind vermieten. Wir haben diesbezüglich schon sehr schlechte Erfahrungen gemacht und bevor ich jetzt all die Unterlagen ausfülle und ihre und meine Zeit verschwende, wollte ich nur wi...“

Tobias unterbrach sie: „Keine Sorge, Frau Hesenbrunner, wir verm...“

„Hensenbrugger“, warf sie ein und Tobias nickte automatisch. Was spielte der Name schon für eine Rolle?

„Ja, Frau Hensenbrugger, selbstverständlich vermieten wir auch an alleinstehende Elternteile mit Kind. Füllen sie getrost die Unterlagen aus und vergessen sie nicht, ihre aktuelle Anschrift anzugeben. Und vielleicht die Telefonnummer, unter der wir sie erreichen können.“

Die Frau nickte lächelnd und sah ihre Tochter streng an: „Und Mia, was hast du vergessen?“

„Dankeschön“, murmelte die selig mit dem Lutscher im Mund und streckte ihrer Mutter die Zunge heraus. „Guck mal, Mama, ein Zungenmaler!“

Die Mutter lachte und Tobias schloss sich ihr an. „Du bist aber schon ein großes Mädchen. Wie alt bist du denn?“

„Sechs Jahre.“

„Dann gehst du bestimmt schon in die Schule?“, fragte er.

„Ja, in die erste Klasse. Aber in meiner alten Schule hat es mir besser gefallen als hier, das war ...“ Mia suchte nach den richtigen Worten und ihre Mutter sprang ein: „Ein Schulwechsel, mitten im Jahr ist immer etwas problematisch. Neue Lehrer, eine neue Klasse und die ungewohnte Umgebung. Leider ließ sich der plötzliche Umzug aber nicht vermeiden. Und zum Glück haben wir ja auch den Opa, der sich um sie kümmert.“

„Ja“, krähte jetzt die Kleine, „Opa geht immer mit mir auf den Spielplatz, da wo wir jetzt wohnen. Opa ist lieb.“

Tobias sah der Mutter ins Gesicht und meinte: „Ich werde sehen, was ich für sie tun kann. Ich werde schon eine Lösung finden.“

Charlotte Hensenbrugger nickte dankbar.

Die ersten Interessenten reichten Tobias ihre ausgefüllten Unterlagen. Ein junger Mann trat an ihn heran und drückte ihm den ausgefüllten Vordruck und einen Umschlag in die Hand. Mit einem Augenzwinkern meinte er: „Meine Bewerbungsunterlagen für die Wohnung.“

Tobias blickte auf den Zettel und sah neben dem Namen ein dickes Kreuz. Verwundert wollte er den Mann fragen, was es damit auf sich haben sollte, als dieser sich schon entfernt hatte. Tobias konnte ihn zwischen den Menschen in der Wohnung nicht mehr ausmachen. Neugierig blickte er in das Kuvert und erkannte mehrere zwanzig Euro Scheine. Es mussten mindestens fünf an der Zahl sein.

Nach und nach leerte sich die Wohnung und schließlich blieb Tobias Kestel mit einem Stapel ausgefüllter Unterlagen und dem Umschlag alleine zurück. Unschlüssig betrachtete er das Geld, steckte es aber schließlich achselzuckend ein. Ein kleiner Nebenverdienst konnte ja nicht schaden ...

Das Kestel Psychogramm

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