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2. Vor 35 Jahren

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„Wenn du das jetzt nicht aufisst, dann hole ich Vater!“ Seine Mutter klang wirklich böse. Mit in die Hüften gestemmten Fäusten stand sie vor ihm. Tobias kannte diese Geste und wusste nur zu gut, was jetzt folgen würde. Es war ja nicht das erste Mal. „Mach doch nicht immer so ein Theater, Tobbi. Du isst das jetzt!“

Tobias blickte auf seinen Teller. Der Spinat, das Rührei und die Kartoffeln waren längst kalt. Er hasste Spinat und Ei mochte er auch nicht sonderlich gerne. Das letzte Mal, als er seinen Teller leeressen musste, hatte er sich auf den Küchenboden übergeben. Mit einem Wischlappen und einem Eimer Wasser musste er anschließend das stinkende Zeug aufwischen. Aber damit nicht genug. Als sein Vater in so auf dem Boden kniend vorfand, mit Tränen in den Augen, stieß er zornig hervor: „Du undankbare Brut!“ und drückte seinen Kopf tief in die schleimige Masse. Tobias bekam keine Luft mehr, zappelte und versuchte zu schreien. Doch sein Vater hielt seinen Kopf so fest, als wäre der in einem Schraubstock eingespannt. Als sich der Griff schließlich lockerte, befand sich ein Teil der Matsche aus Kartoffel, Ei und Spinat in seiner Nase. Tobias würgte erneut und leerte auch den letzten Rest seines Magens.

„Iss!“, befahl seine Mutter wieder mit zorniger Stimme. Tobias rührte sich nicht.

Klatschend traf die flache Hand sein Gesicht. Tobias spürte das Brennen auf der Wange und er schämte sich, dass er die Tränen nicht zurückhalten konnte. Trotzdem ließ er den Löffel, mit dem er essen sollte, unangetastet.

„Letzte Warnung!“, kreischte seine Mutter fast. „Ich hole jetzt den Vater.“ Als würde sie ihre Güte noch einmal beweisen wollen, füllte sie den Löffel mit dem verhassten Spinat und versuchte ihn in seinen Mund zu stecken. „Du isst das jetzt!“, forderte sie mit überschlagener Stimme.

Mit einer ungewollt harten Bewegung wischte Tobias ihre Hand fort. Der Spinat samt Löffel flog gegen die Wand hinter ihm. In diesem Moment trat sein Vater durch die Küchentür. Mit einem raschen Blick erfasste er die Situation, fragte aber dennoch: „Was ist denn hier los? Hat der Junge immer noch nicht aufgegessen? Wie lange hattest du jetzt Zeit?“ Er warf einen flüchtigen Blick auf die Küchenuhr. „Drei Stunden! Du bist eine Schande für die ganze Familie. Nimm dir ein Beispiel an deiner Schwester!“

Stefanie, von allen nur Steffi genannt, war gerade einmal ein Jahr alt und schien diesen Scheißspinat geradezu zu lieben. Vielleicht wollte sie ihm ja auch nur eins auswischen, indem sie so tat, als würde ihr das Zeug schmecken. Tobias vermutete fast so etwas.

Sein Vater ging zu der kleinen Truhe an der Wand und kramte einen Ledergürtel hervor. „Hosen runter!“, befahl er und Tobias wusste, was nun kam. Aber er nahm sich vor, diesmal hart zu bleiben. Nicht schon nach den ersten Schlägen einzuknicken und dies widerliche, kalte Zeug in sich hineinzustopfen, nur um es anschließend wieder auszubrechen. Flehentlich sah er seine Mutter an, wusste aber, dass er von ihr keine Hilfe erwarten konnte.

Mit heruntergelassener Hose musste er sich über das Knie seines Vaters legen. Schon klatschte der Riemen auf die empfindliche Haut. Tobias stieß einen Schmerzensschrei aus. Der erste Schlag war immer der schlimmste.

„Wirst du jetzt essen?“, keuchte sein Vater. Tobias reagierte nicht. Erneut sauste das Leder herab. Es brannte wie Feuer. „Wirst du jetzt essen?“

Für gewöhnlich gab Tobias nach drei Schlägen auf. Doch diesmal schlug sein Vater fünf Mal zu und jedes Mal wuchs sein Zorn. Beim sechsten Schlag verlor Tobias das Bewusstsein.

Er erwachte, als etwas Kaltes, Feuchtes in Mund und Nase drang. Er lag auf dem Küchenboden und seine Mutter hatte ihm ein Glas Wasser über das Gesicht geschüttet. „Wenn dir unser Essen nicht schmeckt, dann brauchst du es nicht zu essen“, stieß sie hervor. Sein Vater war zum Glück nicht mehr im Raum. „Du hast Stubenarrest und bekommst eine Woche nichts zu essen. Vielleicht hast du dann Hunger und bist nicht so wählerisch! Und jetzt wisch den Boden auf!“

Es war ein Sieg! Tobias hatte das eklige Zeug nicht essen müssen. Aber um welchen Preis! Er lag auf dem Bauch auf seinem Bett und weinte leise in das Kopfkissen. Die Schmerzen auf seinem Po und auch auf dem Rücken waren kaum auszuhalten.

Es war doch einmal alles anders gewesen ... Bevor seine Schwester auf die Welt kam. Niemals hatten ihn seine Eltern gezwungen, etwas zu essen, was er nicht mochte. Im Gegenteil: Oft gab es sein Leibgericht, Spaghetti mit Tomatenketchup. Seine Mutter nahm ihn liebevoll in den Arm, sang ihm Kinderlieder vor und selbst sein Vater legte ihm so manches Mal wohlwollend die Hand auf die Schulter.

All das endete mit der Geburt seiner Schwester. Fortan galt er als der ‚ältere Bruder‘, der ein Vorbild sein sollte. Tobias spürte mit seinen drei Jahren die Ungerechtigkeit, ohne sie beim Namen nennen zu können. Alles drehte sich fortan um die kleine Schwester.

Das musste sich wieder ändern! Während Träne für Träne in das Kissen floss, überlegte der kleine Junge, wie er sich seine Eltern - und insbesondere den Vater - wieder gewogen machen konnte. Ohne ein brauchbares Ergebnis schlief er schließlich ein.

Seine Eltern hatten ihn im Kindergarten wegen ‚Krankheit‘ entschuldigt und im Grunde genommen waren die Schmerzen ja auch fast wie eine Krankheit. Tobias konnte nicht sitzen, das Gehen bereitete ihm Schwierigkeiten und die Angst, erneut Prügel zu beziehen, lähmte seine Gedanken. Nach wenigen Tagen bohrte sich der Hunger in seine Eingeweide und verursachte ihm zusätzliche Übelkeit und ein Brennen im Magen. Die einzige Nahrung, die seine Eltern ihm zubilligten, war eine Flasche Mineralwasser am Tag. Doch er würde nie, niemals, selbst wenn er verhungerte, diese Pampe aus Kartoffeln, Spinat und Ei essen!

Die Woche verging nur schleppend und Tobias lag die meiste Zeit auf seinem Bett. Sein einziger Trost in dieser schweren Zeit war Friedrich der kleine Goldhamster, der sein Leid teilte. Denn Tobias versorgte das Tier lediglich mit Wasser, so wie er auch ohne Nahrung auskommen musste. Das hungrige Fiepen des Kleinen bedeutete ihm ein wenig Linderung seines Leids, wusste er doch, dass er in seinem Elend nicht allein war. Irgendwann wurde es um das kleine Tier still und Tobias beobachtete, wie der Hamster apathisch in einer Ecke seines Käfigs saß und ihn aus hungrigen, vorwurfsvollen Augen ansah.

Die erste feste Nahrung, die ihm sein Vater auf das Nachttischchen stellte, war ein Brot mit Leberwurst. Tobias hasste Leberwurst fast noch mehr als Spinat und trotz des Hungers verspürte er schon wieder ein Würgen in der Kehle. Der Vater zog sich den Stuhl von seinem Schreibtisch heran und setzte sich neben das Bett. „Du isst jetzt!“, befahl er und verschränkte die Arme vor der Brust. Er würde jetzt so lange hier sitzen bleiben, bis Tobias das Brot aufgegessen hatte. Und je länger das dauerte, desto wütender würde er werden.

Doch nur Minuten später erklang Mutters Stimme: „Manfred, komm schnell. Steffi hat gemacht! Ganz ohne Windel!“

Auf dem Gesicht seines Vaters spiegelte sich selige Freude wider. „Wirklich? Was hat sie gemacht? Groß?“

„Ja, einen ordentlichen Haufen.“

Tobias war vergessen. Sein Vater sprang auf und verließ den Raum. Draußen hörte der Junge die beiden Eltern tuscheln und lachen. Dann erklang ein freudiges Kichern seiner Schwester.

Tobias kratzte die Leberwurst von dem Brot und achtete streng darauf, dass auch ja nichts zurückblieb. Den ungeliebten Brotaufstrich verteilte er unter der Matratze, dann biss er hastig in die Schnitte. Nichts hatte je köstlicher geschmeckt!

Der Hunger und der Nahrungsentzug rächten sich kurze Zeit später, indem sein Magen das Brot nicht bei sich behielt. Würgend erbrach Tobias sich auf den Boden des kleinen Zimmers. Säuerlicher Geruch breitete sich aus und reizte ihn immer wieder zu erneutem Würgen. Aber Tobias wusste nun, wie er seine Eltern besänftigen und sie davon überzeugen konnte, dass er ihre Liebe wert war. Er musste nur daran denken, wie sehr sich seine Eltern eben über seine Schwester gefreut hatten ...

Die passende Gelegenheit ergab sich einige Tage später. Tobias Eltern spielten mit seiner Schwester im Wohnzimmer. Leise schlich sich der Junge in das Elternschlafzimmer und an das Bett seines Vaters. Das, was seine Schwester konnte, das konnte er schon lange. Schließlich kehrte er zufrieden in sein Zimmer zurück. Noch heute Abend würden Vater und Mutter ihn loben und sie wären endlich wieder eine komplette und zufriedene Familie!

Tobias lag auf seinem Bett und lauschte den Geräuschen im Haus. Es wurde Zeit für seine Eltern ins Bett zu gehen, heute war es etwas später als sonst, da die kleine Stefanie noch sehr unruhig gewesen war und ewig nicht einschlief. Doch Tobias zwang sich wach zu bleiben, er wollte miterleben, wie Mutter und Vater sich über ihn freuten.

Zunächst war es verdächtig ruhig, doch dann durchbrach ein fürchterlicher Schrei seines Vaters die Stille. Sofort fing Steffi, die im Schlafzimmer der Eltern lag, an zu weinen. Tobias hörte seinen Vater fluchen, konnte aber die Worte nicht verstehen. Warum freute er sich denn nicht? Hatte die Mutter ihn denn nicht extra gerufen, als Steffi einen ‚Haufen‘ gemacht hatte? Waren nicht beide überglücklich gewesen? Und jetzt? Tobias hatte doch nichts anderes getan, als seine Schwester auch. Er hatte sogar extra mit dem Toilettengang gewartet und einen ordentlichen ‚Haufen‘ vor das Bett seines Vaters gemacht.

Tobias wusste schon, was kam, bevor er hörte, wie sein Vater den Lederriemen zornig in die offene Hand klatschen ließ. Sekunden später stand der mit hochrotem Gesicht vor seinem Bett. „Los, die Hosen runter, du kleiner Mistkerl! Dir werde ich zeigen, mir vors Bett zu scheißen!“

Sein Vater prügelte auf ihn ein, bis der Zorn etwas nachließ. Doch davon merkte Tobias nichts mehr, eine erlösende Ohnmacht hatte ihn von seiner Pein befreit.

Am nächsten Tag teilte ihm seine Mutter lapidar mit, dass er wieder Stubenarrest habe. Im Kindergarten war er auch schon entschuldigt worden. Tobias rätselte, welchen Fehler er begangen haben konnte. Warum freuten sich seine Eltern, wenn seine Schwester ihr großes Geschäft machte, bei ihm dagegen reagierten sie mit Strafe und Prügel? Der Dreijährige verstand die Welt nicht. Er machte doch nur das, was seine Schwester auch getan hatte. Und die war dafür gelobt worden!

Tobias brannten Rücken und Po und als er sich mühsam aus dem Bett quälte, entdeckte er das Blut auf den Laken. Er suchte Trost und sein Blick fiel auf den kleinen Goldhamster, der in einer Ecke seines Käfigs schlief. Nachdem Tobias wieder Nahrung von seinen Eltern bekommen hatte, fütterte er auch den kleinen Friedrich wieder, was der ihm damit dankte, dass er sein kleines, weiches Köpfchen an seiner Hand rieb.

Tobias ließ sich auf die Knie nieder, was für ihn weniger Schmerzen in Rücken und Po bedeutete. Dann kroch er zu dem Käfig hinüber. Friedrich bewegte sich im Schlaf, seine kleinen Füßchen zuckten. In der Mitte des Körpers hob und senkte sich das samtweiche Fell mit jedem Atemzug. Tobias öffnete den Käfig und streckte die Hand nach dem Tier aus. Als er es ergriff, erwachte Friedrich und blickte ihn träge und vertrauensvoll an.

Er hielt den kleinen Hamster in der linken Hand und ging mit ihm zu seinem Schreibtisch herüber. Sein Griff war fest und jetzt begann das Tier zu zappeln. Der Junge griff nach der Bastelschere und betrachtete sie einen Augenblick. Ein wohliges Gefühl bemächtigte sich seiner und ohne die Schmerzen zu spüren, ließ er sich auf seinem Schreibtischstuhl nieder. Gedankenverloren betrachtete er den Goldhamster, das winzige Köpfchen und die Knopfaugen. Jetzt hielt er den kleinen Körper mit eiserner Hand fest und ein entrüstetes Fiepen erklang, während der kleine Kerl versuchte, sich aus dem unerbittlichen Griff zu befreien.

Tobias lächelte. So gut hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt. Alle Schmerzen, Schmach und Demütigungen waren vergessen. Es gab nur ihn und dieses kleine Wesen, über das er jetzt alle Macht der Welt ausüben konnte.

Immer noch lächelnd schnitt Tobias mit der Bastelschere dem gequält quiekenden Hamster die Beine ab. Es bedeutete einige Mühe, doch je länger er dem Leiden des Tieres zusah, desto besser fühlte er sich. Schließlich stach er mit der stumpfen Schere in beide Augen. Das Tier war längst verstummt und plötzlich endete auch das heftige Pochen unter dem weichen Fell. Tobias hielt das tote Tier in der Hand, sah das Blut, das über seine Finger floss und fühlte zum ersten Mal seit langer Zeit wieder eine Zufriedenheit, die er schon für immer meinte verloren zu haben.

Nachdem er den Kadaver in eine Tüte gepackt und unauffällig im Mülleimer entsorgt hatte, legte er sich ins Bett und schlief mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht ein.

Das Kestel Psychogramm

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