Читать книгу Der Kampf der Balinen - Kathrin-Silvia Kunze - Страница 6

4. Kapitel

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Als Seline endlich ins Sonnenlicht hinaustrat, war Melan bereits voll erwacht. Ein kalter Wind blies durch die Stadt und erinnerte an den eben erst vergangenen Winter. Seline folgte einer der vielen roten Sandstraßen, die Melan durchzogen. Nur ein trockenes Stück Brot, gegen den allergröbsten Hunger, hatte sie sich schnell noch aus der großen Gemeinschaftsküche, unten im Haus, geholt. Nun biss sie hin und wieder etwas davon ab, während sie eilig voranschritt. Die schweren Vorhänge hinter den Fenstern, waren alle schon zur Seite genommen worden. Stimmen und Geräusche die aus den Fensteröffnungen drangen, kündeten von reger Geschäftigkeit im Inneren. Wie bei allen Gebäuden der Balinen, bestanden die Fenster nur aus großen ovalen Öffnungen im Sandstein. Ein ebenfalls aus Sandstein geformter Vorsprung über den Fenstern bot Schutz vor Regen und Wind. Und wenn es kühler wurde, etwa bei Nacht oder in der dunklen Jahreszeit, wurden die Fenster von innen mit schweren, robust geflochtenen Decken aus Pflanzenfasern, verhängt. Schnellen Schrittes strebte Seline dem Zentralgarten entgegen. Er war einer von den vielen Gärten innerhalb der Stadt und lag genau im Zentrum von Melan. Und es war jener Garten, dessen Bewässerung zu einem kleinen Teil auch Seline anvertraut war. Alle Bürger von Melan liebten die Stadtgärten und machten sich gerne dort nützlich, so auch Seline. In jedem Garten gab es einen Bereich, der dem Spaziergang und der Erholung gewidmet war und darüber hinaus noch Bereiche, die der Nahrungsgewinnung dienten. Dabei waren alle Gärten unterschiedlich bepflanzt. Je nachdem, wie viel Licht oder Schatten sie im Laufe eines Tages aufwiesen. Das hing von der Anordnung und Höhe der umliegenden Gebäude dort ab. Die Gärten lagen alle in verschiedenen Teilen von Melan. Nämlich überall dort, wo man dereinst innerhalb der Stadt einen Brunnen angelegt hatte. Denn der große Fluss, an dem Melan vor ewigen Zeiten gegründet worden war, existierte schon lange nicht mehr. Viele hielten ihn nur mehr für eine Legende. Aber in ihren Geschichten behaupteten die ältesten der Alten, dass er sich dereinst aus dem großen grauen Felsengebirge gespeist haben soll, das direkt hinter Melan lag und sich weit nach Norden erstreckte. Endlich hatte Seline den Zentralgarten erreicht. Und zu ihrer Freude stand die Sonne auch noch nicht zu hoch. Zudem würde auch die kühle Frühjahrsluft verhindern, dass die nassen Pflanzen in der Mittagssonne verbrennen könnten. Seline wand sich dem Bewässerungssystem zu. Dabei versicherte sie sich zunächst, dass nur die Holzschieber geöffnet waren, die zur Bewässerung der Anbaufläche dienten, die ihr zugeteilt war. Seline fand noch zwei geöffnete Holzschieber, die das Wasser in einen anderen Teil des Gartens leiten und drückte sie nach unten in den Bewässerungsgraben, um sie zu schließen. Nachdem das erledigt war, ging Seline zum großen Brunnen. Um nun das Brunnenwasser aus der Tiefe nach oben zu befördern, betätigte Seline den dafür vorgesehenen Taumelmechanismus am Brunnenrand. Hierbei musste man einen schweren, am Untergrund befestigten Holzkegel aus seinem Schwerpunkt drücken. Der Holzkegel versuchte dann unter Taumelbewegungen sein Gleichgewicht wieder zu erlangen um zurück in die aufrechte Ruhestellung zu gehen. Die dabei frei werdende Energie wurde, über einen komplizierten Seilmechanismus, auf eine Spule übertragen, die über dem Brunnen hing. Die Spule begann dadurch sich zu drehen und die an einem Seil hängenden, schweren Tongefäße, von unten aus dem Brunnen herauf zu ziehen. Die gefüllten Tongefäße mussten beim Vorbeigleiten dann nur noch leicht nach unten gedrückt werden, damit sich das Wasser in den angrenzenden Bewässerungsgraben ergoss. Von dort aus verteilte es sich, entsprechend der geöffneten und geschlossenen Holzschieber, im Garten. Seline beobachtete, wie das Wasser über die trockene Erde strömte. Es trug vereinzelte, trockene Blätter und kleine Zweige mit sich, während es dem Lauf der tiefen Erdfurche folgte. Seline musste darauf achten, dass der Wasserlauf nicht durch Ansammlungen von Laub, Gräsern oder Geäst behindert wurde. Manchmal sackte auch Erdreich in den Graben und musste erst heraus genommen werden, bevor das Wasser ungehindert fließen konnte. Diesmal jedoch fand Seline alles zu ihrer Zufriedenheit. Das Wasser klatschte gegen die geschlossenen Holzschieber, die ihm den Weg versperrten und tastete sich in die Abzweigungen des Bewässerungssystems hinein, die geöffnet waren. Also ging Seline zurück zum Brunnen, um weiteres Wasser zu schöpfen. Während sie erneut den Taumelmechanismus betätigte, schweifte ihr Blick ab, hinein in den schönen Zentralgarten. Das erste Grün wagte sich hier schon aus dem Boden und blinzelte verschlafen hinauf zur blassen Frühjahrssonne. Und weiter entfernt, in einem anderen Teil des Gartens, sah Seline auch die alte Wawelaa. Das war nicht weiter verwunderlich, dachte Seline und lächelte. Denn die alte Frau war zumeist in einem der Stadtgärten anzutreffen. Wawelaa war die kundigste und fähigste Frau in Melan, wenn es darum ging, Pflanzen anzubauen und zu pflegen. In allen Teilen CumMelans und sogar noch darüber hinaus, träumte jeder, der gerne ein Pflanzenkundiger werden wollte, davon, bei der alten Wawelaa lernen zu dürfen. Nachdem Seline noch einen schnellen Blick auf den Bewässerungsgraben geworfen hatte, um sich zu vergewissern, dass dort noch immer alles in Ordnung war, blickte sie wieder zurück zu Wawelaa. Es war ihr eine Freude, das sanfte, ruhige Wirken der alten Frau zu beobachten. Geistesabwesend betätigte sie dabei immer wieder den Taumelmechanismus und goss Wasserkrug um Wasserkrug aus. Wawelaa schien gerade dabei zu sein, besonders feine, staubige Erde auf verschiedene Stellen des Gartens auszubringen. Seline glaubte darin die „heilende Erde“ zu erkennen. Das war ein besonders nahrhafter Erdstaub, der aus dem abgesetzten Grundschlamm besonders guter, mineralienreicher Brunnen stammte. Seline freute sich über ihre Kenntnisse in solchen Dingen, wenn sie auch eher dürftig waren. Denn als Kinder hatten sie alle oft der großen pflanzenkundigen Wawelaa bei deren Arbeit zusehen oder gar helfen dürfen. Die Lehrenden waren auch schon damals der Ansicht gewesen, dass alle Kinder sich mit der nährenden, Leben spendenden Natur auskennen sollten. Plötzlich hob Wawelaa den Arm und winkte Seline fröhlich zu. Sie hat mich entdeckt, wie ich sie hier beobachte, dachte Seline etwas verlegen und biss sich auf die Unterlippe. Aber ihr bei der Arbeit zu zusehen ist eben sehr schön, dachte Seline entschuldigend. Wawelaa wirkt selber wie ein Teil des Gartens. Gesicht und Arme der Alten waren braun gebrannt wie bei einem Gefäß aus Ton. Ihr langes, braunes Haar, dass sie zu einem Zopf geflochten hatte, durchzogen dicke, weiße Strähnen. Mit ihrem grünen Gewand und den vielen kleinen Blüten, Blättern und Zweigen, die sich seit jeher wie von selbst in Wawelaas Haar verfingen, sah sie aus wie ein schöner schlanker Baum. Seline kicherte. Und in der Art und Weise, wie die alte Frau den Garten pflegte, sah sie auch noch immer aus, wie ein junges Mädchen. Genauso wie damals, als ich noch ein kleines Kind war, dachte Seline gerührt, hob die Hand und erwiderte Wawelaas freundlichen Gruß. Nur wenn man näher heran geht, überlegte Seline und nahm die Hand wieder runter, sieht man, dass die Zeit dieser alten Baline tiefe Furchen ins Gesicht gegraben hatte. Wie bei einem ausgetrockneten Flussbett. Aber daraus hervor, strahlen noch immer Augen von so frischem Grün, als wären es junge Blätter. Seline sah, das Wawelaa sich abgewandt hatte und nun bei einer Gruppe alter, knorrig verwachsener Bäume stand. Wawelaa goss Wasser in den Trog, aus dem sie zuvor die heilende Erde verteilt hatte und mengte dann mit der Hand darin herum. Schließlich griff die Alte in den Trog und hob eine Handvoll dunkelbraunem, fettig glänzendem Schlamm empor. Diesen Brei aus heilender Erde trug sie dann auf die Rinde der Bäume auf und verteilte sie indem sie mit den Händen am Stamm auf und ab rieb. Bestimmt haben sie Risse oder Wunden, vermutete Seline. „Träumst du?“, fragte plötzlich eine dunkle Stimme hinter ihr. Erschrocken fuhr Seline herum. „Trahil! Du hast mich zu Tode erschreckt!“, tadelte Seline ihren alten, väterlichen Freund. Trahil lachte und sagte dann, noch immer breit grinsend: „Eigentlich bin ich auf dem Weg zu Wawelaa. Aber da habe ich dich hier gesehen. Und da bin ich extra vorbei gekommen um dir kurz zu sagen, dass du die Maisstengel heute so stark gießt, als wären es Wasserlinsen. Oh nein, rief Seline verzweifelt und blickte auf die Überschwemmung, die sie innerhalb der Nahrungspflanzen erzeugt hatte. „Oder wolltest du womöglich einen kleinen See hier im Zentralgarten anlegen?“, feixte Trahil. „Aber so etwas kann man doch in Ruhe mit dem Rat besprechen Seline. Das muss man doch nicht so eigenwillig überstürzen.“ Seline hätte ihm schon die passende Antwort auf seine Frechheit gegeben, aber ihr fehlte im Moment die Zeit dazu. Beherzt griff sie nach dem Holzkegel, damit dieser seine Bewegung sofort einstellen sollte. Das war jedoch nicht ganz so einfach wie gedacht. Denn zum einen war er aus sehr schwerem Holz und zum anderen, einmal aus dem Gleichgewicht gebracht, nur langsam wieder zu beruhigen. Doch Seline war nicht nur nett und verträumt, sie hatte auch einen Willen wie eine Herde von Limtaanen. So griff sie noch einmal mit aller Kraft zu, und wirklich, der Holzkegel kam zum Stillstand. Allerdings wirkte nun der ruckartige Halt auf die Spule zurück und gab damit auch dem Seil einen kräftigen Ruck. Die Tongefäße wurden dadurch in Schwingung versetzt und begannen gefährlich stark gegeneinander zu stoßen. Trahil, der alles im Hintergrund beobachtete, versuchte vernehmlich sein Lachen zu unterdrücken. Doch Seline war nun so wütend, eigentlich vor allem auf sich selbst, dass sie anfing bedrohlich zu knurren. Sofort schluckte Trahil sein Lachen wohlweißlich hinunter und begnügte sich damit, den neuen See im Zentralgarten zu bewundern, der so schön in der Sonne glitzerte. Seline jedoch war zutiefst betrübt. Kleinlaut sagte sie: „Danke Trahil. Ohne dich, hätte ich womöglich noch das Rathaus überflutet.“ Missmutig blickte Seline auf das große, stolze, rote Kuppelgebäude zu ihrer Linken. „Nun beruhige dich wieder mein Kind.“, schimpfte Trahil. „Sag mir, welches Lebewesen unter der Sonne niemals einen Fehler macht?!“ Diese war eine Frage, die keiner Antwort bedurfte. Und doch war Seline noch gereizt und deshalb gab sie mürrisch zurück: „Du?“ „Oh weh.“, lachte Trahil laut auf. „Da hast du dir ja genau den Richtigen ausgewählt!“ Und in Erinnerungen an die mannigfaltigen Fehler eines langen Lebens schwelgend, lächelte Trahil versonnen vor sich hin. Der Anblick ihres Ziehvaters war dabei so rührend, dass Seline gegen ihren Willen auch lächeln musste. Dann wandte Trahil sich ihr wieder zu. Durch ihr Lächeln hindurch, erkannte er die Sorgen, die sich in ihren Blick eingegraben hatten. Trahil seufzte. Er wusste, dass der Rat von Melan, Seline schon sehr früh eine schwere Last aufgebürdet hatte. Aber ihre Fähigkeiten waren schon jetzt so ausgeprägt, das es trotz allem, keine bessere Wahl hätte geben können. Denn als erwählte Empathin profitierten nicht nur die Balinen in Melan von Selines Können. Gleichzeitig genoss sie auch den Schutz, ihren emotionalen Fähigkeiten freien Lauf lassen zu könne. Was ihr womöglich auf einem anderen Lebensweg gar nicht möglich gewesen wäre, oder sie zumindest behindert hätte. Seline stand still da und sah Trahil erwartungsvoll an. Sie ist noch so jung, lächelte Trahil liebevoll. Sie wird an ihren Aufgaben wachsen. „Mein Kind.“ begann Trahil seine Rede. Er legte eine Hand auf Selines Schulter und zog sie an seine Seite. In der anderen Hand hielt er einen großen, hellbraunen, glatten Holzstab. Das Zeichen des Ratsältesten. Sein nachtschwarzes, langes, glattes Haar, hatte im Sonnenlicht einen blauen Schimmer und seine dunklen, schwarzen Augen, waren voller Liebe, als er sprach. „Das Leben ist so, als schwimme man in einem Fluss, Seline. Mal schäumt er wild und rau, mal fließt er ruhig und sanft dahin. Und du musst seinem Lauf folgen. Wenn du nun aber in diesem Fluss des Lebens an Hindernisse stößt, so achte nur darauf, dich über Wasser, an der Oberfläche zu halten, damit du atmen kannst. Aber wehre dich nicht gegen die Hindernisse, kämpfe nicht gegen sie an. Nein, beschwere dich noch nicht einmal über diese Hindernisse, wenn du kannst. Denn nur wenn du alles fließen lässt und dich dem Wasser hingibst, bleibt dir auch die Zeit, um dich an den Schönheiten am Ufer, an denen du vorbei kommst, zu erfreuen. Denn bedenke, der Fluss gehört nicht dir, er gehört einem anderen. Und du bist auch nicht dieser Fluss, du bist nur ein Teil des Wassers!“ Nachdem er das gesagt hatte, drückte Trahil ihr noch einmal sanft die Schulter, wand sich um und ging in Richtung Wawelaa, davon. Seline sah ihm nach. Vor ihrem geistigen Auge sah sie den Fluss und sich selbst, wie sie darin trieb. Das machte sie für einen Moment nachdenklich. Schließlich sagte sie leise vor sich hin: “Ich glaube, ich verstehe.“ Seline fühlte, wie tief empfundener Frieden in ihren Geist einströmte. Sie atmete tief und langsam. Mit jedem Ausatmen ließ sie ihren Körper mehr und mehr entspannen. Und sie nahm sich vor, von nun an den Fluss fließen zu lassen. Wie wild und reißend er in manchen Teilen auch werden würde. Seline blickte noch einmal schuldbewusst zu dem kleinen See, den sie soeben erschaffen hatte. Und was sie dort sah, versetzte sie in ungläubiges Staunen. Eine Unmenge kleiner bunter Vögel hatte sich dort nieder gelassen. Sie tranken und badeten in dem unverhofften, willkommenen Nass und zwitscherten dabei laut und fröhlich vor sich hin. Lächelnd verließ Seline den Garten und dachte, ich bin gespannt, was der Flusslauf noch alles für mich bereithalten wird.

Der Kampf der Balinen

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