Читать книгу Der Kampf der Balinen - Kathrin-Silvia Kunze - Страница 8

6. Kapitel

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Seline versuchte angestrengt, ihre Aufmerksamkeit auf den Mann vor ihr zu richten. Sie befand sich im großen Saal des Ratsgebäudes und fühlte wie sich der Schlafmangel vieler alptraumgeschüttelter Nächte bemerkbar machte. Müdigkeit schlich sich in ihren Körper ein und verbreitet sich in all ihren Gliedern. Doch Saadonn, einer der Sternenerkunder von Melan, hatte ausdrücklich darum geben, sein Anliegen der erwählten Empathin vortragen zu dürfen. Und so stand Seline nun hier und bemühte sich den aufgeregten Worten des jungen, weißhaarigen Mannes mit den durchdringenden, rotbraunen Augen zu folgen. „Ich weiß selbst, wie sich das für euch anhören muss“, fuhr Saadonn soeben fort. „Aber ihr kennt mich, erwählte Empathin. Habe ich jemals vorschnell geurteilt? Und bin ich nicht sogar bekannt dafür, immer ruhig und überlegt an alle Wahrheitsfindung heranzutreten?“ „Beruhigt euch bitte, Saadonn!“, lenkte Seline ein. „Natürlich seid ihr ein guter, vertrauenswürdiger Mann. Aber ein jeder von uns kann sich auch einmal irren. Das ist nicht verwerflich. Die ganze Nacht hindurch zu wachen und die Erscheinungen am Himmel und den Lauf der Sterne zu beobachten ist gewiss Kräfte zehrend. Darob kann ein Urteil bestimmt auch einmal fehl gehen.“ Und Seline wusste gerade nur zu genau wovon sie da sprach. Drohten ihr doch gerade jetzt, schon bei dem Gedanken an dunkle, durchwachte Sternennächte, die Augen zu zufallen. „Ich habe es gesehen!“, wiederholte Saadonn vehement. „Schon wieder! Eine weiße Erscheinung, die des Nachts Melan durchstreift.“ Er betonte dabei nun jedes einzelne Wort um seiner Rede mehr Nachdruck zu verleihen. „Im Übrigen“, fügte Saadonn nun merklich gekränkt hinzu, „stellt ihr hier soeben meine gesamte Arbeit in Frage. Als Sternenerkunder habe ich natürlich gelernt, in der Nacht vollkommen wach zu sein. Und schon als Kind wollte ich des Nachts umherstreifen und brauchte viel weniger Schlaf als andere.“ Seline hatte für einen kurzen, aber sehr intensiven Moment das schrecklich Gefühl, weinen zu müssen, wenn jetzt noch einmal das Wort Schlaf fallen würde. „Aber wie genau die weiße Erscheinung aussah, das vermögt ihr aber nicht zu sagen?“ Seline hielt es für das Beste, nun mit möglichst vielen Fragen ihr Dafürhalten kundzutun. Gleichzeitig quälte sie dabei ihr schlechtes Gewissen. Sie wusste, das Saadonn ein absolut zuverlässiger Mann war. Doch eine weiße Erscheinung in Melan?! Seline war zwar eine etwas verträumte Frau, aber zugleich stand sie auch mit beiden Beinen fest auf dem Boden des alltäglichen Lebens. „Leider nicht.“, antwortete Saadonn zerknirscht, aber froh darüber weiter über diese unheimliche Erscheinung sprechen zu können. „Man hört auch nie irgendeinen Laut von ihr. Immer ganz plötzlich, ist sie einfach da. Und wenn man gerade genauer hinsehen will, ist sie auch schon wieder verschwunden!“ Seline fühlte, anhand der starken Schwingungen, die Saadonn aussandte während er sprach, dass er die Wahrheit sagte. Zumindest aus seiner Sicht. Langsam wurde Seline nun doch wieder richtig wach. Eine weiße Erscheinung, wie unheimlich! Und wer vermochte schon zu sagen, was alles zwischen Himmel und Erdengrund im Verborgenen lag? „Gut!“, Seline nickte einmal mit dem Kopf, denn sie hatte ihre Entscheidung getroffen. „Wir werden dazu die anderen Sternenerkunder der Stadt befragen. Womöglich haben auch sie etwas Ähnliches gesehen und haben nur zuviel Bedenken, um es jemandem mitzuteilen. „Ich danke euch!“, antwortete Saadonn, froh darüber, vor dem Rat in dieser ungewöhnlichen Angelegenheit ernst genommen zu werden. „Und wir werden sie auch darum bitten“, fuhr Seline fort, „von nun an auf Vorkommnisse solcher Art - .“ Da wurde Seline jedoch unterbrochen. Die schwere Holztür öffnete sich und Trahil betrat, ganz außer Atem, den Saal. „Verzeiht mir mein Eindringen.“, sagte er keuchend. Aber etwas Schreckliches ist geschehen! Doch das hätte er gar nicht erst zu sagen brauchen. Denn die Aura tief empfundener Besorgnis, die ihn umgab, war Seline sofort entgegen geschlagen. Das beklemmende Gefühl umschlang sie und hätte ihr bestimmt den Atem geraubt. Doch wie sie es im Laufe ihre Ausbildung schmerzlich gelernt hatte, denn bei jedem Fehlschlag war sie in den Empfindungen anderer fast ertrunken, erzeugte Seline in sich eine schützende Energie. Man konnte sie nicht wirklich sehen, doch für alle empathisch Begabten fühlte es sich an wie ein Nebel, angefüllt mit hellem, blauen Licht. Für alle Außenstehenden am ehesten noch wahrnehmbar als Ausgeglichenheit und innerer Frieden. „Die kleine Haalina ist verschwunden!“, erzählte Trahil aufgebracht. „Ihre Mutter Kallaa ist völlig aufgelöst vor Sorge!“ Seline fühlte, wie seine angstvoll beklemmende Aura, die sie als flüssiges, heißes Rot empfand, erneut versuchte ihre Schutzenergie zu durchbrechen. Und mit tiefem Entsetzen, spürte Seline, wie der blaue Lichtnebel unter diesem Angriff immer schwächer wurde. Ich bin viel zu erschöpft, stellte Seline fest. Ich kann die Empfindungen der anderen nicht mehr stark genug filtern. Bald treffen sie mich wieder mit voller Wucht, wie dereinst als Kind! Denn sonst, wenn Seline in ihrer voller Kraft war, tastete sie aus dem Energieschutz heraus, von selbst nach den Gefühlen anderer. Bei diesem vorsichtigen, zarten Vorgang, drangen keine der fremden Empfindungen bis in ihr Selbst. Das wäre auch viel zu gefährlich gewesen. Na schön, dachte Seline und seufzte schicksalergeben. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. In tiefer Konzentration sandte sie dem blauen Lichtnebel in ihrem Inneren neue Kraft. Und mit einem Mal herrschte absolute Stille in ihrem Geist und das gewohnte Gefühl von Ruhe und Frieden breitet sich wieder in ihr aus. Doch ein bitterer Nachgeschmack blieb. Denn seit der Zeit ihrer Ausbildung, hatte sie diesen Schutz nicht mehr so grob und gewaltsam aufrichten müssen. Ich muss mich dringend ausruhen, ermahnte sie sich selbst. Bevor ich sonst Niemandem mehr von Nutzen sein kann. Laut sagte sie jedoch. „Wir bleiben ruhig! Denn nur aus dieser Haltung heraus, können wir klar überlegen, Entscheidungen treffen und angemessen handeln.“ Bei diesen Worten hielt Trahil nun das erste Mal inne. Er atmete aus und entspannte sich sichtlich. Und Seline konnte dabei spüren, wie seine panisch heiße, rote Aura sich zu einem aufgebracht, pochenden Violett abmilderte. Mit stolzem Lächeln sagte er zu ihr: „Du hast Recht erwählte Empathin!“ Wenn es um Angelegenheiten des Rates ging und sie nicht alleine waren, nannte Trahil sie nie bei ihrem Namen. Denn so wollte er ihr Selbstvertrauen und ihre Position stärken. „Es müssen die Emotionen der völlig verängstigten Mutter gewesen sein, die auf mich übergegangen sind.“ Dann schwieg Trahil und wartete ab. Er war sehr zufrieden über die Stärke und Besonnenheit, die Seline in dieser schwierigen Situation ausstrahlte. Es war ihm eine reine Freude, die zunehmende Entwicklung ihrer mentalen Fähigkeiten mit verfolgen zu dürfen. Als alles wieder ruhig war, wand Seline sich an Trahil und fragte: „Was genau, hat dir die Mutter denn erzählt?“ Trahil antwortete ebenso ruhig und deutlich: „Sie war anfangs sehr schwer zu verstehen. Weinte und stammelte, mit den Nerven vollkommen am Ende. Denn am gestrigen Abend hatte sie Haalina zu Bett gebracht. Aber heute Morgen, da war ihre kleine Tochter dann plötzlich verschwunden. Dabei ist niemandem im Haus in der Nacht etwas aufgefallen. Ihr könnt euch vorstellen, welch ein Schock das für die arme Frau gewesen sein muss! Das Bett leer und keine Spur von ihrem Kind.“ Seline runzelte die Stirn. Was ging des Nachts, in ihrem sonst so friedlichen Melan, denn auf einmal vor? „Und hat irgend jemand eine Ahnung, wo das kleine Mädchen denn sein könnte?“, fragte Seline. „Nein, niemand.“, antwortete Trahil. „Bis jetzt zumindest.“, fügte er hinzu und sah Seline erwartungsvoll an. Er möchte, dass ich versuche, eine geistige Verbindung zu dem Kind herzustellen, erkannte Seline. Ich möchte wohl. Aber in meinem geschwächten Zustand wage ich das einfach nicht, dachte sie verzweifelt. Ich könnte dann dabei mehr Schaden anrichten als alles andere. Und doch, wenn wir Haalina bis zum Abend nicht gefunden haben, werde ich es trotzdem tun! An Trahil gewandt sagte sie knapp: „Alle die abkömmlich sind, sollen sich an der Suche nach Haalina beteiligen! Gebt überall bekannt, dass sie vermisst wird!“ Trahil sah Seline einen Augenblick lang verwundert an, nickte dabei jedoch und behielt seine Gedanken für sich. Plötzlich war an der Tür ein lautes Klopfen zu hören. Und schon wurde sie ein weiteres Mal hastig geöffnet. Lethon, der Tierempath von Melan, betrat den Saal. In seinen Armen trug er ein kleines, in eine dicke braune Decke eingehülltes, Mädchen. „Das ist Haalina!“, rief Trahil hocherfreut. Noch ehe Seline, verwundert etwas fragen konnte, trat Lethon bereits zu ihnen und sprach: „Dieses Kind habe ich bei den Schmetterlingshäusern gefunden. Sie hat dort tief und fest geschlafen!“ Das dünne, blasse Mädchen, mit den langen, glatten, sonnenhellen Haaren, sah Seline aus schwarzblauen Augen verängstigt an. Seline lächelte und ließ eine Aurawelle der Ruhe und des Friedens von sich aus auf das Kind überfließen während sie sprach: „Haalina, wir sind alle sehr froh, dass wir dich wieder gefunden haben und dass es dir gut geht! Kannst du uns vielleicht sagen, was dir in der letzten Nacht passiert ist?“ Stumm, mit bedauerndem und verwirrtem Blick schüttelte das Kind den Kopf und ließ sich von Lethon behutsam auf den Boden stellen. Dabei glitt die dicke Wolldecke für einen Augenblick zu Boden, aber Lethon hob sie sofort auf und legte sie dem kleinen Mädchen wieder um die Schulter. Doch für einen kurzen Augenblick, sah Seline das dick gewebte, lange weiße Leinengewand, das Haalina trug. „Sie ist die weiße Erscheinung!“, sprach Seline plötzlich, laut denkend. Lethon runzelte völlig verständnislos die Stirn. Trahil glaubte, Seline habe eine Art Vision. Und sogar Saadonn schwieg noch skeptisch, während Haalinas Augen vor Verwunderung noch größer wurden. „In der letzten Nacht stand der Mond groß und voll am Himmel!“, versuchte Seline ihre Überlegung zu erklären. „Das Volk der Balinen spürt schon seit jeher die belebende Kraft des Vollmondes und reagiert darauf, in unterschiedlichster Weise. Und Haalina, sie ist bei Vollmond des Nachts schlafend in Melan umhergegangen!“ „Wenn das stimmt“, murmelte Saadonn nachdenklich, „dann aber schon des Öfteren!“ „Und weil sie dabei schlief, kann sie sich auch an nichts erinnern“, ergänzte Seline zufrieden. „Und im Licht des Mondes“, fügte Saadonn nickend hinzu, „strahlte ihr weißes Gewand, hell und geheimnisvoll“. Trahil und Lethon hatten nun zwar nur die Hälfte von allem verstanden, aber das Kind war gesund gefunden worden und hatte nur geschlafwandelt. Was könnte man da noch mehr wollen?! Seline begann, Vorschläge für kommende Vollmondnächte zu unterbreiten. So sollte man Haalina vor dem zu Bett gehen Entspannungsübungen verordnen und ihr heißen Honigtee verabreichen. Da jedoch wurde die Tür zum großen Ratssaal von Melan erneut aufgerissen. Seline blickte entnervt gen Himmel und seufzte tief. „Haalina, mein armes kleines Mädchen!“, rief eine schluchzende Frauenstimme laut. Es war Kallaa, die Mutter, die ohne die anderen Anwesenden auch nur wahrzunehmen, auf ihre Tochter zustürzte. Nun flossen auch bei Haalina endlich die Tränen. Und auch sie hatte die Anderen nun völlig vergessen und eilte ihrer Mutter entgegen, so schnell wie die kleinen Beine sie trugen. Die Wolldecke fiel dabei achtlos auf den Boden. Die beiden fielen sich in die Arme und herzten und drückten sich. Und in dem ganzen Geschluchze hörte man plötzlich zum ersten Mal die Stimme der kleinen Haalina. Sie klang sehr ernst als sie sagte: „Mutter, es ist ganz schrecklich. Ich bin eine weiße Erscheinung!“ Seline und die Männer lachten alle laut auf. Nur Kallaa verstand nicht so recht. Doch das war ihr im Moment auch vollkommen egal. Und so schnurrte sie, ihr Kind an sich drückend, zufrieden: „Aber das macht doch nichts, mein Vögelchen!“ Und in das wohlige Schnurren von Mutter und Kind, mischte sich erneut das Gelächter der anderen.

Der Kampf der Balinen

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