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GLOBALISIERUNG 1. Ägyptisches Vorspiel Napoleon am Nil

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Es wird dem schwachen Diener Gottes erlaubt sein,

von den Veränderungen zu berichten, die die Hand des Schicksals

in Ägypten bewirkt hat.

Nikula al-Turk, L’expédition des Français en Égypte, 1839

Langsam hob die Kugel ab und schwebte nach oben. Sicher stieg sie dem Himmel über Ägypten entgegen, höher und immer höher. Bald schon schien sie bis an die Wolken zu stoßen, schwebte in Luftschichten, in die sich nicht einmal Vögel wagten. Ein unglaubliches Experiment vollzog sich vor den Augen der staunenden Zuschauer, ein nicht für möglich gehaltenes Wunder der Technik, das die unerhörte Kunst der französischen Ingenieure demonstrierte. Eine dünne, in Rot, Weiß und Blau gehaltene Seidenhaut schwebte über den Ufern des Nils, als würde Napoleons Herrschaft auch im nördlichen Afrika keine Grenzen mehr kennen.

Anderthalb Jahrzehnte hatten die Franzosen bereits mit Heißluftballons experimentiert. Im Juni 1783 war es den Brüdern Joseph Michel und Jacques Étienne Montgolfier in Paris erstmals gelungen, einen mit Papier ausgelegten Leinensack in die Luft schweben zu lassen. An dessen Unterseite hatten sie einen Korb angebracht, in dem Wolle und Stroh brannten. Ihre Hitze drückte das Gefährt nach oben. So erfolgreich war der Versuch, dass die Brüder im September desselben Jahres in Anwesenheit von König Ludwig XVI. einen weiteren Ballon in die Höhe steigen ließen. Dieses Mal wagten die Brüder das Unglaubliche: einen bemannten Flug – wenn auch, um das Risiko überschaubar zu halten, nicht mit Menschen an Bord, sondern drei Tieren: einem Hammel, einer Ente und einem Hahn. Das Experiment wurde zum Triumph: Der Ballon schwebte auf gut 2000 Meter Höhe, legte dabei eine Strecke von zwei Kilometern zurück, um dann sanft und unbeschadet zu Boden zu sinken.

Nun also, fünfzehn Jahre später, ein ähnliches Spektakel in Kairo. Auch hier läuft zunächst alles glatt. Unbeirrt und mühelos steigt die seidene Kugel nach oben. Ginge es so weiter, würde man sie alsbald aus den Augen verlieren. Dann aber geschieht das Unerwartete: Der Ballon fängt Feuer. Die Außenhaut verbrennt, das Himmelsgefährt verliert an Schwung und stürzt der Erde entgegen. Ein nacktes, rauchendes Skelett, das in rasendem Tempo vom Himmel in Richtung Erde rauscht, mit hartem Schlag auf den Boden stößt und hart auseinander bricht.

Das also war sie, die französische Ingenieurskunst: eine kläglich gescheiterte Geste, die einige Momente lang alles bisher für möglich Gehaltene hinter sich zu lassen schien, sich dann aber doch Kräften geschlagen gab, die größer waren als sie, ihr Grenzen setzten, an denen sie nicht vorbei kam. Mit ihren Geräten, hatten die Franzosen den staunenden Ägyptern zuvor erklärt, könnten sie in ferne Länder reisen, Informationen über die Erde sammeln und Nachrichten über weite Distanzen schicken. Nun aber, an diesem Novembertag des Jahres 1798, schien klar, dass es damit nicht allzu weit her war. Eigentlich hatte die Flugschau die Ägypter beeindrucken sollen. Doch stattdessen sorgte sie im Publikum für Spott und schenkte den Einheimischen die beruhigende Gewissheit, dass selbst einer so modernen Militärmacht wie Frankreich nicht alles möglich war. „Es war klar“, notierte der ägyptische Chronist Abd al-Rahman al-Dschabarti (1753–1825), der Zeuge der gescheiterten Technikdemonstration wurde, „dass dieses Objekt den Drachen ähnelt, die die Sklaven für Hochzeiten und andere Feste basteln.“1

Al-Dschabarti hat mit seiner Chronik, Tarîkh muddat al-Faransis bi-Misr („Geschichte des Aufenthalts der Franzosen in Ägypten“) die bekannteste Darstellung von Napoleons Ägyptenfeldzug aus arabischer Sicht verfasst. Geschrieben unter dem direkten Eindruck der Ereignisse, gibt sie ein unmittelbares Zeugnis von den Empfindungen eines gebildeten Ägypters während der dramatischen Zeit, die das Land am Nil seit dem 28. Juni 1798 durchlebte – jenem Tag, an dem Napoleons Flotte nahe der Hafenstadt Alexandria vor Anker ging. Drei Jahre blieben die Franzosen in Ägypten, bis sie schließlich von einer britisch-osmanischen Allianz geschlagen und zum Rückzug gezwungen wurden. Aus französischer Sicht ist die Expédition de l’Égypte bestens dokumentiert. Auf arabischer Seite sind die Zeitzeugnisse hingegen dünn gesät. Al-Dschabarti hat nicht nur die umfassendste Schilderung gegeben, sondern auch die engagierteste. Er berichtet nicht nur, sondern kommentiert auch. Das macht sein Werk aus historischer Sicht so wertvoll. Denn es verrät, wie sich der Feldzug aus Sicht der Unterlegenen darstellte – von Menschen also, die einer ganz anderen Kultur angehörten, deren Gesellschaft ganz anders geordnet war, die in vielem ein ganz anderes Bild von der Welt hatten. Die Ägypter machten als erste jene Erfahrung, die nach ihnen, im Zeitalter von Kolonialismus und Imperialismus, so viele andere Araber machen sollten: die Bekanntschaft mit Menschen, wie sie die meisten von ihnen nie zuvor gesehen hatten, die sich in vieler Hinsicht von ihnen unterschieden, die Fremde für sie waren. „Aber keine Fremden wie die aus der Nachbarschaft. Sondern Menschen, die sich ganz anderer Sprachen bedienten, anderen religiösen Riten folgten, die andere Arten von Kleidung und Kopfbedeckung trugen (oder auch, schlimm genug, überhaupt keine). Menschen, die andere Arten von Häusern bauten, andere Arten der Zusammenkunft pflegten. Diese Fremden aßen Schwein, tranken Alkohol, und ihre Frauen bewegten sich in der Öffentlichkeit, ohne das Gesicht zu bedecken. Sie lachten über Witze, die nicht lustig waren, vermochten aber den Charme anmutiger Dinge nicht zu erkennen. Sie aßen Nahrungsmittel von merkwürdigen Geschmack, hörten Musik, die wie Lärm klang, und verbrachten ihre Zeit mit merkwürdigen und sinnlosen Dingen, etwa Kricket spielen und Quadrillen tanzen.“2

Auch Al-Dschabarti sieht die Franzosen mit Befremden. Aber er vermag seine Empfindungen in Worte zu fassen, ja mehr noch: Er schwingt sich über die kulturellen Unterschiede empor, indem er das Verbindende zwischen den Menschen erkennt – und benennt. Denn eines stimmt ja: Die Menschen mögen sich in vielem unterscheiden. In vielem ähneln sie sich aber auch. Vor allem in der Politik. All die Strategien und Tricks, die Napoleon in Ägypten anwendet, können Al-Dschabarti nicht mehr überraschen. Dazu hat das Land am Nil bereits zu viele Machtkämpfe hinter sich. Es hat die Rivalitäten der Pharaonenzeit durchlebt, die Herrschaft Alexanders des Großen, der Römer, der Perser und schließlich der Muslime von der Arabischen Halbinsel. Es folgten die Mongolen und Osmanen. Und nun stand Napoleon im Land. Ein Kriegsherr vom anderen Ende des Meeres. Aber keiner, der mit anderen Absichten kam als jene, die das Land vor ihm zu unterwerfen gesucht hatten. Und so durchschaut der Historiker die Pläne des Eroberers, ahnt der Ägypter zumindest, was der Franzose will – und stellt dessen Erklärungen seine eigenen Deutungen entgegen, scharfsinnige Analysen, die keinen Leser im Unklaren darüber lassen, worum es bei Napoleons ägyptischen Abenteuer wirklich geht.

Aus einer gebildeten Familie von Religionsgelehrten stammend und an der Al-Azhar-Universität in Kairo zum Theologen ausgebildet, wurde Al-Dschabarti nicht nur Zeuge der napoleonischen Invasion, sondern einer entscheidenden Phase der jüngeren ägyptischen Geschichte überhaupt. In seinem Hauptwerk Aja’ib al-athar fil tarajim wal-akhbar („Das wunderbare Wissen vergangener Biographien und Überlieferungen“) zeichnet er die historische Entwicklung Ägyptens vom Ende des 17. Jahrhunderts bis zum Jahr 1821 nach. In diese Zeit fällt die Herrschaft von Muhammad Ali Pascha, dem Begründer jener Dynastie, die erst mit der Revolution der „Freien Offiziere“ unter Gamal Abdel Nasser 1952 zu ihrem Ende kam. Muhammad Ali Pascha (1769–1849) war es auch, der Ägypten militärisch, wirtschaftlich und institutionell der Moderne öffnete – auf so rücksichtslose Weise allerdings, dass er sich zugleich einen Namen als besonders skrupelloser Herrscher machte. Al-Dschabartis Aufzeichnungen aus Ali Paschas Regierungszeit fielen derart kritisch aus, dass sein Werk erst 1870 veröffentlicht werden durfte.

Doch zuvor widmet sich Al-Dschabarti Napoleon. Der Ballon als Papierdrache für Hochzeitsfeiern: ein wenig schmeichelhafter Vergleich, der bereits andeutet, dass der Feldherr aus Frankreich für seinen Ruf – auch den in der Nachwelt – etwas tun muss. Napoleon sieht sich nicht nur offenen Feinden, sondern auch jeder Menge kritischer Beobachter gegenüber, und nichts, wird er in den kommenden Monaten feststellen, wird schwieriger sein, als diese für sich zu gewinnen. Das gilt für Al-Dschabarti, das gilt aber auch für all jene namenlosen Ägypter, die Bürger von Alexandria, Kairo und später, während seines Feldzugs nach Syrien, auch für die von Jaffa, Akkon und Gaza. Sie alle zeigen sich von der Präsenz der Franzosen wenig angetan. „Seit dem Moment ihrer Ankunft bis zu dem ihrer Abreise brachten die Franzosen Kämpfe und Schlachten ohne Unterlass über das Land“, wird der syrische Historiker Nikula al-Turk (1763–1828) zurückblickend schreiben. „Sie verloren eine Unmenge von Soldaten. Aber niemand kann sich die Zahl der Muslime vorstellen, die durch ihre Waffen starben.“3

Trotz vieler Vorbehalte macht sich Al-Dschabarti aber nicht zum Sprachrohr jener, die Napoleons Wirken in Bausch und Bogen verdammen. Zwar blieben die Franzosen kürzer als geplant in Ägypten und mussten sich schon 1801 einer britisch-osmanischen Übermacht geschlagen geben. Aber ihre Anwesenheit hinterließ doch Spuren. Und so spöttisch er den Absturz des Ballons auch kommentierte, so deutlich sah Al-Dschabarti doch auch dieses: Der Entwicklungsstandard der Franzosen war dem der Ägypter in nahezu jeder Hinsicht überlegen. Oftmals gibt sich Al-Dschabarti betont unbeeindruckt. Andere Male aber verleiht er seinem Erstaunen, ja seiner Bewunderung offenen Ausdruck. Die Franzosen mögen Invasoren sein, gegen die der Widerstand gerechtfertigt ist. Aber darum sind sie auf keinen Fall schlimmere Herrscher als die verhassten Mamluken, die Ägypten seit Jahrhunderten mit harter Hand regieren und auch nach dem Abzug der Franzosen zumindest für einige Jahre wieder an die Macht zurückkehren. Ihnen gegenüber erweisen sich die Franzosen nicht nur militärisch, sondern auch politisch und ethisch als überlegen. Schaut man zudem noch auf ihre technischen und kulturellen Leistungen, zeigt sich auch hier, dass sie den Ägyptern voraus sind. Ägypten muss sich ändern, Al-Dschabarti betont es wieder und wieder. Nur dann wird es auf Dauer gegen die Übermacht der Franzosen oder andere Invasoren vom anderen Ufer des Mittelmeeres bestehen können.

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