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Umkehrung des Ursprünglichen

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Und doch, die Chronisten jener Zeit ahnen es bereits: Am anderen Ufer des Mittelmeeres hat sich etwas grundlegend Neues ereignet, und über Napoleon hat es nun auch Ägypten erreicht. Längst nicht mit allem, was die Franzosen übers Meer bringen, ist Al-Dschabarti einverstanden. Aber er spürt doch, dass sich die Dinge durch ihre Ankunft verändern, ein neuer Geist Einzug gehalten hat, der die Verhältnisse in Ägypten auf immer verändern wird. Al-Dschabarti findet keine analytische Sprache für seinen Eindruck, aber dass sich die Dinge unwiderrufbar ändern, spürt er doch in aller Deutlichkeit. „Dies war das erste Jahr erbitterter Kämpfe und bedeutender Ereignisse“, beschreibt er die Ankunft der Franzosen im Jahr 1798. „Ein Jahr unausgesetzten Leidens und sich ändernder Zeiten. Einer Umkehrung des Ursprünglichen und der Sturz des für gültig Befundenen; ein Jahr immer neuer Schrecken und widersprüchlicher Umstände; ein Jahr der Verquerung aller Prinzipien; der Beginn der Vernichtung und des Aufkommens neuer Gelegenheiten.“29

Die Umkehr des Ursprünglichen wird die Religionsgelehrten antreiben, über das Verhältnis des Islams zur Moderne nachzudenken, ihre Religion neu zu denken und auf Ressourcen hin abzutasten, die beim Aufbruch in die neuen Zeiten hilfreich sein könnten. Sie werden die unterschiedlichsten Antworten geben: von gemäßigt-pragmatischen bis hin zu radikalen, die von den westlichen Werten nichts wissen wollen. Sie legen die Grundlagen für jenes Denken, aus dem auch die Dschihadisten des 20. und 21. Jahrhunderts schöpfen werden.

Praktischere Interessen hat hingegen Muhammad Ali Pascha, ab 1805 der neue starke Mann Ägyptens. Er pflegt seine Kontakte zu den Franzosen nach Kräften und wird darüber auch zu einem Förderer dessen, was heute kultureller und wissenschaftlicher Austausch heißt. Freilich geht es ihm weniger um die Verfeinerung der Sitten oder erweiterte Erkenntnis um ihrer selbst willen. Ihn interessiert das, was ihm hilft, seine Macht zu festigen und seinen Reichtum zu mehren. Militärwissenschaften, Ökonomie, Landwirtschaft: Ali Pascha wird zu einem begeisterten Importeur europäischen Wissens – und darüber zu einem der ersten arabischen Herrscher, die eines voll und ganz begriffen: die alten Zeiten sind vorbei. West und Ost sind fortan – in Goethes Wort – „nicht mehr zu trennen“. Das Mittelmeer schrumpft zusammen – denn mehr, als dass es das südliche und nördliche Ufer voneinander trennt, wird es sie dank neuer Techniken fortan miteinander verbinden. Das anbrechende 19. Jahrhundert, wird nicht nur Goethe erfahren, wird das einer unerhörten, bislang nie gekannten Mobilität sein.

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