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Frondienst im Wasser

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Von Anfang an sehen sich die Ingenieure gewaltigen Herausforderungen gegenüber: Der Durchstich, haben sie errechnet, wird sich über 161 Kilometer erstrecken. Mindestens acht Meter soll er in die Tiefe gehen und an der Wasseroberfläche 100 Meter breit sein. Später wird die Breite verringert, und zwar auf 56 Meter. Aber trotzdem: Gewaltige Erdmassen müssen bewegt werden, und das in einer entlegenen Wüstengegend. Wie soll das Baumaterial herangeschafft, wie sollen die Arbeiter mit Nahrung versorgt werden? Überhaupt Arbeiter: Auch sie müssen eigens angeworben werden, denn an den vereinzelten Wasserstellen des Sinai leben nur ein paar Fischer und Nomaden. Um nichts Geringeres sei es damals gegangen, fasst ein französischer Kommentator 1920 die Dinge zusammen als „einer verlassenen Gegend ohne jegliche Ressourcen Leben einzuflößen.“4

Das früheste Versorgungszentrum liegt darum ganz woanders: in Marseille, von wo aus zunächst die technischen Geräte wie auch die ersten Arbeiter zur Baustelle gebracht werden. Nach der Landung in Alexandria müssen sie zunächst einen langen Marsch durch die Wüste auf sich nehmen. Erst als 1865 der Hafen von Port Said seinen Betreib aufnimmt wird, wird die Anreise leichter. Zu dieser Zeit arbeiten schon Zehntausende auf den Baustellen. 1861 hat die Kanalgesellschaft 10.000 ägyptische Arbeiter engagiert und ein Jahr später noch einmal 18.000. Die meisten Männer kommen aus Oberägypten und arbeiten nicht ganz freiwillig auf der Baustelle: Muhammad Said, hier ein Herrscher ganz in der Tradition des Absolutismus, hat sie abkommandiert. Ob sie wollen oder nicht, den Frondienst müssen sie leisten. Über Stunden stehen die Männer im Wasser und graben die Erde ab. Gerade einmal zwei Kubikmeter schafft ein Arbeiter am Tag. Das ist nicht viel, und so bietet Muhammad Said Lesseps an, weitere ägyptische Arbeiter zu verpflichten. Dabei hat er nicht nur ein höheres Arbeitstempo im Sinn: Auch politisch wären weitere Ägypter auf der Baustelle sinnvoll. Denn inzwischen sind so viele Ausländer vor Ort, dass die Kanalgegend sich unversehens in eine europäische Kolonie verwandeln könnte. Tatsächlich lässt der osmanische Statthalter weitere Ägypter auf die Baustellen bringen. Damit ist das Land zumindest physisch weiter in ägyptischer Hand, doch der Preis dafür ist hoch: „Unterernährt, ohne medizinische Versorgung und ohne Wasser“ starben die Arbeiter „unter der glimmenden Sonne wie die Fliegen“, berichten ägyptische Historiker.5 Exakte Zahlen zu den Toten gibt es nicht, auch darum nicht, weil sich die Compagnie universelle alle Mühe gab, sie zu vertuschen. Unbestätigte ägyptische Quellen sprechen von bis zu 100.000 Arbeitern, die auf den Baustellen des Suezkanals den Tod gefunden haben sollen. Präsident Gamal Abd el-Nasser wird später, nicht ohne politische Hintergedanken, gar von 120.000 Todesopfern sprechen.6 Opfer des Zwangsdienstes werden die Arbeiter aber auch in anderer Hinsicht: Zu dem einmonatigen Dienst, den sie leisten müssen, addieren sich noch die An- und Abreise von jeweils fünfzehn bis zwanzig Tagen. Damit fallen die Bauern für zwei Monate auf den Feldern aus. Kaum oder überhaupt nicht bewirtschaftet, werfen diese nun nicht die gewohnten Erträge ab – mit dramatischen Folgen: Die Bauern können von der Landwirtschaft in jenen Jahren kaum leben.

Hier, bemerken die Ägypter, zeigt sich die andere Seite des Kanalprojekts – eine Seite, die in krassem Missverhältnis zu jenem hohen Ton steht, in dem die Europäer den Bau beschreiben, nämlich als epochalen Schritt hin zur Einheit der Menschheit, als Achse, auf der die Völker der Welt einander entgegengehen, die Hand ausgestreckt zum freundschaftlichen Gruß. Denn am Kanal selbst, in der täglichen Arbeit vor Ort, zeigt sich eine andere Realität, die Wirklichkeit von Frondienst und Tod. Muhammad Said habe sich von de Lesseps schönen Worten blenden lassen, wird der ägyptische Premierminister Nubar Pascha nach dem Tod des Herrschers darum erklären: „Europa überfiel Ägypten, und diese Invasion ging wie ein Karnevalsumzug vor sich, gruppiert um einen jungen, verspielten Prinzen, geistig wach, aber unschuldig und leichtgläubig. Dieser Zug zwang dem jungen Mann die Marschrichtung auf. Doch der bildete sich ein, er sei es, der das Theater um ihn herum dirigiere.“7 Was Nubar Pascha nicht erwähnte: Der Vorschlag, Zwangsarbeiter einzusetzen, stammte nicht von Lesseps. Der hatte daran gedacht, griechische Arbeiter für den Bau anzuwerben, die er mir einem attraktiven Gehalt locken wollte. Eine massive Präsenz von Ausländern vor Augen, empfahl Saids Minister Mustafa Pascha, statt der Lohnarbeiter aus Südosteuropa Zwangsarbeiter aus Ägypten einzusetzen. Der Kolonialismus, zeigt auch diese Episode, hatte auch unter den Kolonisierten willige Helfer.

Der Einsatz der Zwangsarbeiter endete erst, als de Lesseps nach Saids Tod 1863 mit dem osmanischen Sultan Abdülaziz über den weiteren Fortgang der Arbeiten verhandelte. Abdülaziz hatte dem Projekt zu dieser Zeit noch nicht zugestimmt. Als er es schließlich tat, machte er zweierlei zur Bedingung. Erstens: Der Kanal musste neutral bleiben und durfte auf keinen Fall unter europäische Alleinherrschaft fallen. Und zweitens: Mit der Zwangsarbeit sollte ab sofort Schluss sein. Damit war der Startschuss zur Technisierung und Mechanisierung der Arbeiten gefallen. Die Suezkanal-Gesellschaft gab 78 eigens zu konstruierende Schwimmbagger in Auftrag, die im Laufe der Jahre kontinuierlich verbessert werden sollten. Schon bald arbeiten diese Ungetüme mit beeindruckender Geschwindigkeit: 100 bis 180 Kubikmeter Erde bewegten sie in einer Stunde – ein Vielfaches dessen, was vorher die Arbeiter auch nur an einem Tag schafften. Auf der Pariser Weltausstellung von 1867 zögert die Kanalgesellschaft nicht, diese Neuerungen auch als großen ethischen Fortschritt zu preisen: „An die Stelle des Fronarbeiters ist der freie, von seinen Maschinen unterstützte Mensch getreten.“8

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