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„Ägypten den Ägyptern“

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Und doch, der Triumph der Hafenarbeiter von Suez über die Direktoren von Paris bleibt zuletzt nur eine Fußnote im Spiel um die große, die eigentliche Macht. Dieses Spiel wird nicht zwischen Arbeitern und Direktoren ausgetragen, und auch nicht zwischen öffentlichen und privaten Unternehmen. Es verläuft entlang jener Grenze, die das Unternehmen Suez doch eigentlich hatte überwinden wollen: der Grenze zwischen Ost und West, Europa und dem Nahen Osten. Um den Kanal findet ein Tauziehen statt, das Ägypten fast schon in dem Moment verloren hat, in dem es sich darauf einlässt. Was für Ägypten auf dem Spiel stand, umriss der osmanische Vizekönig von Ägypten, Ismail Pascha, bei seinem Amtsantritt 1863 in scharfer Deutlichkeit: „Niemand begeistert sich mehr für den Kanal als ich. Aber ich will einen Kanal für Ägypten – und nicht ein Ägypten für den Kanal.“24

Doch zu dieser Zeit ist es schon absehbar: Der Kanal wird nicht in Diensten Ägyptens stehen, sondern Ägypten wird, ganz im Gegenteil, im Dienst der globalen Mobilität stehen. Nutzen wird es ihm nicht. Den ersten Schritt auf den Verzicht der nationalen Souveränität tut, ohne es zu wollen, bereits Ismail Paschas Vorgänger, Said Pascha. Der hatte 1858 – Ferdinand de Lesseps war gerade dabei, Geld für seine Gesellschaft einzuwerben – 64.000 Aktien der Compagnie Universelle erworben. Damit war zwar ein guter Teil des Startkapitels gewonnen. Doch ausreichend war es längst noch nicht. Zunächst hoffte de Lesseps, auch das Osmanische Reich würde in die Gesellschaft investieren. Doch der Sultan winkte ab. Also sprach de Lesseps seinen Freund Said noch einmal an. Der ließ sich überreden und kaufte 177.000 weitere Aktien. Dazu musste er tief – zu tief – in die Staatskasse greifen: Ägypten geriet in eine Schuldenkrise, die sich von Jahr zu Jahr verschärfte. Das Defizit ließ sich auch dadurch nicht in den Griff bekommen dass das Land seine Suez-Aktien 1875 an Großbritannien verkaufte. Die Schulden liefen aus dem Ruder. Als Ismail Pascha deshalb fünf Jahre später das Recht auf 15 Prozent der Gewinne der Compagnie an einen französischen Finanzier verkaufte, gingen Ägyptens Einahmen am Kanal beinah auf Null zurück. Immer tiefer geriet das Land am Nil in den Schuldenstrudel. Seit Ismails Amtsantritt hatten sich die Staatsschulden mehr als verdreißigfacht. Ägypten kann seine Gläubiger nicht mehr bezahlen, so dass es 1876 unter internationale Finanzaufsicht gestellt wird. Harte Schnitte werden verordnet, und 1880 müssen 50 Prozent der ägyptischen Staatseinnahmen für den Schuldendienst aufgewandt werden. Gespart wird, wo irgend möglich – etwa beim Militär. Dessen Mannschaften werden um fast ein Drittel reduziert. In der Folge begehrten arbeitslos gewordene Soldaten und Offiziere gegen die von Großbritannien und Frankreich durchgesetzten Maßnahmen auf. Zentrale Figur der Unzufriedenen ist der ehemalige Oberst Ahmad Urabi Pascha, seit 1881 ägyptischer Premierminister. „Misr lil Misriyin – Ägypten den Ägyptern!“, lautet das Motto, unter dem er 1882 einen nach ihm benannten Aufstand gegen die Briten anführt. Nutzen wird der Widerstand nicht das Geringste: Die Briten schlagen den Aufstand 1882 nieder und stellen das Land am Nil unter ihre Herrschaft.

Was dann folgt, ist ein klassisches Stück Raubdiplomatie. 1888 findet in Konstantinopel eine internationale Konferenz zum künftigen Status des Sinai-Kanals statt. Teilnehmende Staaten sind Großbritannien, das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn, die Niederlande, Spanien, Frankreich, Russland und das Osmanische Reich. Ägypten ist nicht dabei. Das Land, durch das der Kanal sich zieht, wurde nicht einmal eingeladen. Doch selbst, wenn es bei dieser Gelegenheit vertreten gewesen wäre, hätten die Ägypter die über ihre Köpfe hinweg einhellig getroffene Entscheidung nicht aufhalten können: Der Kanal wurde unter internationale Verwaltung gestellt. Ägypten, das so viel Geld in den Bau der Wasserstraße gesteckt hatte, sieht sich um alle seine Investitionen gebracht, hat keine Rechte mehr an dem Kanal, der durch sein Territorium läuft.

Nubar Pascha, in den 1870- bis 1890er-Jahren dreimal Premierminister seines Landes und als solcher mit dem Kanal und dessen Folgen intensiv befasst, hatte geahnt, dass es so kommen würde. Der Suezkanal sei eine Fortsetzung der Dardanellen, warnte er unter Verweis auf die Meerenge bei Konstantinopel, die, zusammen mit dem Bosporus, Asien mit Europa verbindet. Und wie über sie würden die Europäer nun auch über den Suezkanal vordringen. „Unser Schicksal hängt darum von den großen europäischen Interessen wie auch von der Orientfrage ab, die sich womöglich nur durch Gewalt lösen lässt – wovor Gott uns behüten möge.“25

Von Gewalt in ihrer rohesten Form bleiben die Ägypter verschont. Dafür machen sie mit einer ihrer feineren Formen Bekanntschaft. Denn nicht nur der Suezkanal geht wegen der ägyptischen Schuldenfalle in europäischen Besitz über. Auch viele andere ägyptische Institutionen sind verschuldet. Und die, die es nicht sind, bekommen kein Geld, sind entsprechend knapp bei Kasse und können nicht weiterarbeiten. So werden auch sie zu begehrten Objekten europäischer Investoren, die in jener Zeit auf großer Einkaufstour sind. Zielsicher übernehmen sie die rentabelsten Sektoren der ägyptischen Wirtschaft: Bergbau, Transport, Wasserversorgung, Post und Kommunikation, Import-Export-Firmen sowie das Banken- und Versicherungswesen. So wurden, schreibt der libanesische Wirtschaftshistoriker Georges Corm, „die wohltätigen Modernisierer aus Europa durch die Marginalisierung weiter Bevölkerungsschichten reichlich belohnt.“26

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