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Flammen des Eifers

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Erst Napoleon, nun die Engländer. Als hätten sie aus dem Feldzug des Franzosen rund achtzig Jahre zuvor nichts gelernt, müssen sich die Ägypter ein zweites Mal geschlagen geben. Wieder hat eine westliche Nation sie überrollt, wieder können sie ihr nichts entgegensetzen. Technisch, ökonomisch, militärisch und auch diplomatisch sind die Briten ihnen ganz offenbar überlegen, stellen die Ägypter fest. Die Bilanz, die sie am Ausgang des 19. Jahrhunderts ziehen, ist darum ernüchternd. Den Kanal und mit ihm viele ihrer kostbarsten Wirtschaftszweige haben sie sich aus den Händen nehmen lassen. Und als reichte das nicht, stehen nun auch noch die Briten im Land. In der Presse und den Debattierclubs Ägyptens überschlagen sich die Diskussionen. Was ist los mit Ägypten und den Ägyptern? Tausende Europäer sind über den Suezkanal in das Land gekommen, und wenn Port Said und Suez aufgrund ihrer Lage auch vom übrigen Land getrennt sind, strahlen die Ereignisse doch auf sie aus. Die durch den Kanal importierten Lebensformen – Pragmatismus, Nüchternheit und kühle Kalkulation – bleiben nicht auf die beiden Hafenstädte beschränkt. Als Reaktion auf die Ereignisse um den Kanal rollte eine Woge des Nationalismus durch Ägypten, richten die Einheimischen ihren Zorn vor allem gegen die Briten. „Das Schlimmste ist der extrem feindliche Ton gegenüber London“, kabelt der Korrespondent der London Times 1881 an seine Redaktion.27 Der Unmut im Land ist mit Händen zu fassen. Doch er richtet sich nicht ausschließlich gegen die Briten, sondern auch gegen die eigenen Politiker, denen die Ägypter die Schuld an der Misere geben. Im Zentrum der Angriffe steht Muhammad Tawfiq Pascha, der 1879 von seinem Vater Ismail die Vizekönigswürde übernommen hatte. Würdelos unterwerfe er sich und das Land dem Diktat der Briten, finden nicht wenige Ägypter und machen ihn für den Niedergang Ägyptens mitverantwortlich. „Das begriffsstutzige Kind“, nennt ihn der Journalist und Dramatiker Yaqub Sanu in einem seiner Sketche. „Möge der Herr ihn erleuchten und von den Merkwürdigkeiten seines Verstandes heilen.“28 Von da ist es für Sanu auch kein großer Schritt mehr, seine Landsleute direkt zum Aufstand aufzurufen. „Erhebt euch, ängstliche Ägypter“, heißt es in dem Sketch. „Habt keine Angst, sondern freut euch, den Feind aller Muslime zu schlagen. Seid fröhlich, Beys, Paschas und Soldaten, denn das kleine Kind will uns und unsere Nation an seine englischen Freunde verkaufen.“ Ironisch und zugleich todernst, drückt der Text die Empfindung vieler Ägypter aus. Er artikuliert einen Unmut, der sich gegen die ägyptische Obrigkeit und gegen die Briten gleichermaßen richtet. Aus Sicht ihrer Kritiker sind die ägyptischen Politiker schlicht Kollaborateure, Handlanger der britischen Besatzer.

Sanus zornige Zeilen deuten es an: Von ihrem Ärger nehmen die Ägypter sich selbst nicht aus. Sie zögern nicht, mit sich selbst ins Gericht zu gehen, die eigenen Fehler und Versäumnisse zu erörtern. Journalisten und Intellektuelle unterziehen die politische Kultur des Landes strengen Analysen. Wir waren zu naiv, richtet sich der Journalist Abdallah al-Nadim in jenen Jahren an seine Landsleute. Wir hätten bemerken müssen, mit wem wir es zu tun hatten. Aber wir waren blind, und erst jetzt, wo es zu spät ist, begreifen wir, wie zielgerichtet und selbstsicher die Europäer vorgegangen sind. Man lasse sich nicht täuschen, schreibt Al-Nadim weiter: Kaufleute waren die Europäer nur dem Namen nach. „In Wirklichkeit waren sie Missionare und Eroberer. In ihrer Entschlossenheit schreckten sie nicht davor zurück, weit entfernte Regionen zu durchqueren, ihre Heimat und ihre Leute zurückzulassen, um etwas Sinnvolles und ihren Ländern Nützliches zu erreichen.“ Mit unerbittlicher Entschiedenheit seien die Europäer vorgegangen, so Al-Nadim weiter. Und das, wirft er sich und seinen Landsleuten vor, hätte man bemerken müssen. Stattdessen aber waren die Ägypter sträflich arglos. Als hätte es den Ägyptenfeldzug Napoleons nie gegeben, hätten sich die Ägypter den Kolonialisten voller Naivität in die Arme geworfen. Und die hätten sich das allzu zutrauliche Naturell ihrer vorgeblichen Partner kühl und konsequent zunutze gemacht. Alles hätten die Europäer bemerkt, schreibt Al-Nadim: dass die Ägypter sich ihrer eigenen Nachlässigkeit nicht bewusst waren; dass sie von den Ambitionen der Europäer keine angemessen Vorstellung hatten und deren Schliche nicht durchschauten. Auch sei ihnen nicht verborgen geblieben, dass die Ägypter das Gesamtwohl der Nation nicht im Auge hielten und weder ihre Religion noch ihre Sprache angemessen pflegten. All dies habe die Europäer in ihrem Zugriff auf Ägypten und andere Staaten der Region bestärkt. „Sie schnappten sich diese Länder wie einen Spielball und sagten zu deren Bewohnern, ‚Ihr an unserer Stelle würdet dasselbe tun.‘“29

Doch die Ägypter sind nicht an der Stelle der Europäer. Und wenig spricht dafür, dass sie es in absehbarer Zeit sein werden. Die Ägypter sind überzeugt: Die Menschen am nördlichen und südlichen Ufer des Mittelmeers trennen Welten. Briten, Franzosen und andere europäische Nationen hätten im Laufe der Jahrhunderte eine Zivilisation entwickelt, deren Grundlagen den Arabern bislang bestenfalls im Ansatz verständlich seien, schreibt 1892 der Religionsgelehrte Abd al-Kadir al-Maghribi. Sicher, mit Ägypten mochte es in den Jahren zuvor wieder bergauf gegangen sein: „Aber der Fortschritt ist vordergründig. Tatsächlich geht es weiter abwärts mit uns, da wir die Europäer nur imitieren.“30

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