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Im freien Fall

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Die arabische Kunst – wie auch die arabische Literatur – hat die Begegnung zwischen Orient und Okzident auf höchst kreative, anregende Weise verarbeitet. Die arabischen Maler und Autoren nahmen die Anregungen aus Europa und später Amerika auf und nutzten sie, um mit diesen Techniken ihre eigene Welt zu durchdringen. Leider gehören Kunst und Literatur aber zu den wenigen Feldern, auf denen eine Symbiose zwischen Ost und West, romantischer gesprochen: Orient und Okzident, gelungen ist. In den Werken der arabischen Kunst und Literatur hat sich die Moderne umfassend und glücklich realisiert – im großen Unterschied zu den anderen Feldern, vor allem der Politik und dem, was man gesellschaftlichen Fortschritt nennt. Insgesamt hat die arabische Welt aus der Begegnung mit dem Westen einen fragwürdigen Nutzen gezogen – wohl auch ziehen müssen. Die Moderne: Das ist jene ungeheure, unwiderstehliche Kraft, die irgendwann, sei es seit den Entdeckungsreisen eines Christoph Kolumbus, den bahnbrechenden Drucktechniken eines Johannes Gutenberg, den Werken eines Kant, Hume, Voltaire oder dem französischen Revolutionsjahr 1789, über Europa gekommen ist. Alles ist seitdem in Bewegung geraten, nichts gilt ideologisch als sicher, alles steht in Frage. Die wohl berühmteste Formel für die rasanten Veränderungsprozesse haben Karl Marx und Friedrich Engels auf geradezu hellseherische Weise in ihrem Kommunistischen Manifest gefunden: „Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“ Kürzer noch hat die europäischen Erfahrungen mit der Moderne Friedrich Nietzsche in jenen Zeilen umrissen: „Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten?“ Will sagen: Wir haben die Dinge kaum mehr unter Kontrolle.

Ja, wir stürzen, halten uns gerade so eben, mit allergrößter Mühe, im Gleichgewicht. Wie riskant dieser freie Fall ist, zeigt sich derzeit an den großen globalen Gefahrenzonen: Weltfinanzsystem, Terrorismus, Klimawandel. Dass wir diese Herausforderungen am Ende in den Griff bekommen werden, ist keineswegs ausgemacht. Und doch nehmen wir die Mühen der Balancehaltung auf uns. Nicht nur, weil uns nichts anderes übrig bleibt. Sondern auch, weil wir die große Segnung der Moderne, die Freiheit, niemals wieder aufgeben wollen. Sicher, über Teile dieser Freiheit kann man streiten, sie auf manchen Gebieten, etwa dem der Finanzwirtschaft, mit guten Gründen in Frage stellen. Die De-facto-Anarchie der Märkte hätte die Welt 2007 fast in den Abgrund stürzen lassen. Die Moderne kennt aber noch eine andere Freiheit: die intellektuelle, die Freiheit der Ideen. Diese Freiheit beginnt mit den Wörtern. Alles ist denkbar, alles lässt sich formulieren, austesten, in Betracht ziehen. Die Fiktion, die großartige menschliche Gabe, sich neue Welten vorzustellen (und einige von ihnen auch umzusetzen), ist der mächtigste Motor, der den Menschen zur Verfügung steht, und seit Anbruch der Moderne haben die Menschen diesen Motor entschieden frisiert, ihm neue, ungeahnte Kräfte hinzugefügt. Dieser Motor setzt unentwegt neue Ideen in die Welt, beschert den Menschen alle nur denkbaren Lebensformen. Keine Idee, keine Leidenschaft, die – im segensreichen Rahmen juristischer Vorgaben – nicht umzusetzen wäre. Eine fiebrige Unruhe hat die Welt gepackt, die Menschen in nie endende Erregungszustände versetzt. Nicht wenige nehmen diese Unruhe als Genuss wahr, wenn nicht, in postreligiösen Zeiten, als Sinn des Lebens überhaupt. Allerdings wissen wir inzwischen, wohin die unkontrollierte Phantasie geführt hat. Die Europäer haben im Namen der Ideologien die furchtbarsten Verbrechen begangen. Allen voran gingen in dieser Hinsicht die Deutschen. Sie trieben das Töten auf die Spitze und ließen sich sogar zu einem Völkermord hinreißen. Die Moderne, wissen wir seitdem, ist ein hochriskantes Unternehmen. Wie lange es sich halten lässt, ob wir es nicht irgendwann abbrechen oder sehr stark modifizieren müssen, wird sich zeigen. Die genannten Risiken sprechen sehr dafür.

Nervöser Orient

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