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Gebete und ein Flugzeug

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Der Waffenstillstand ist besiegelt. In Kraft tritt er am 11. November um 11 Uhr. Schon vorher haben entsprechende Gerüchte die Runde gemacht. Die Bürger von Toulouse sind bereits am 7. November überzeugt, dass der Vertrag unterzeichnet worden sei. Schon sind die Fahnen gehisst, die Festzüge gebildet, hat die Menge die Marseillaise angestimmt. Doch dann sieht sich der Bürgermeister gezwungen, ihnen die Freude zu verleiden. Der Vertrag sei noch nicht abgeschlossen, lässt er die vor dem Rathaus versammelten Bürger wissen. „Kehrt nach Hause zurück und wartet noch ein bisschen“, fordert er sie auf.41

Auch in Paris ist man an diesem Tag auf den Beinen. Auch dort meint man, den Waffenstillstand schon feiern zu können. Enttäuschung nach der Aufklärung auch dort. Ungeduldig versammeln sich die Menschen in den folgenden Tagen vor den Schaufenstern der großen Zeitungen. Alle wollen sie die erlösende Botschaft so früh wie möglich vernehmen. Dann endlich, am 11. November gegen 9 Uhr morgens, Marschall Foch hat die Lichtung anderthalb Stunden zuvor verlassen, verbreitet sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Die Zeitung Le Galois hängt die Nachricht vom Waffenstillstand um 10:20 Uhr aus, holt sie umgehend aber wieder ein: erst um elf darf sie offiziell publik gemacht werden. Dass sie gut daran getan hat, zeigt sich wenige Minuten später: An Teilen der Front wird weiter geschossen. Um 10:50 bohrt sich dem Soldaten Augustin Trébuchon eine Kugel in den Kopf. Er ist der letzte Tote auf französischer Seite. Auch nach dem Eintreten des Waffenstillstands kommandieren einige wenige Befehlshaber ihre Truppen an die Front zum Kampf. Erst nach und nach stellen sie das Feuer ein. Nachmittags um 17 Uhr sind die letzten Scharmützel endgültig vorüber.

Die Zivilisten hingegen feiern pünktlich auf die Minute. Um Punkt 11 Uhr läuten die Glocken – ebenso wie 1914, mit dem Unterschied, dass sie nun nicht vom Anfang, sondern vom Ende der Kämpfe künden. Sie setzten eine gewaltige akustische Kakophonie in Gang: In den Fabriken lässt man aus Freude die Sirenen heulen, die Feuerwehren von Paris geben 1200 Kanonenschüsse ab, derweil die Bürger auf ihre Kochtöpfe eindreschen. Und überall sind Menschen. Laut singend, schreiend ziehen sie durch die Straßen, man umarmt sich, man weint, man lacht. Viele tanzen, andere fassen sich an den Händen und bilden lange Schlangen, die in wilden Formationen durch die Stadtlandschaft wirbeln. Die Fahnenhändler haben bald nichts mehr zu verkaufen, nicht nur die französischen, auch die britischen und amerikanischen Flaggen sind im Nu vergriffen. Nun hängen sie aus den Fenstern, bilden ein buntes Farbenmeer, in dem Blau, Rot und Weiß dominieren. In den Kirchen werden die Opferkerzen knapp, Gebete steigen gen Himmel, und auf dem Weg dorthin kreuzen sie sich mit einem Flugzeug, das zur allgemeinen Begeisterung in niedriger Höhe über die Stadt braust. Auch die Weinvorräte gehen bald zur Neige – schließlich wird gefeiert, unendlich gefeiert. Noch am 13. November ziehen die letzten hartnäckigen Zecher mit Kater- und trotzdem weiterhin in Hochstimmung durch die Straßen. Im Parlament singen die Abgeordneten gemeinsam die Marseillaise. Das nächste Mal werden die Volksvertreter das erst knapp hundert Jahre später wieder tun, nämlich im Januar 2015, nach dem dschihadistischen Attentat auf das Satiremagazin Charlie Hebdo – dieses Mal zum Zeichen der nationalen Entschlossenheit. Doch nun, an jenem 11. November 1918, tun sie es aus Freude und aus Stolz, den Krieg gewonnen zu haben. Die Franzosen können es kaum fassen. Aber es ist wahr: Der Krieg ist für sie vorbei.

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