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Monströse, verräterische Repräsentanten

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Ganz anders hingegen in Russland: Dort läuft das Jahr seinem Ende genau so entgegen, wie es auch begonnen hat: chaotisch, düster, brutal. Im Oktober 1917 hatten die Bolschewisten die Macht an sich gerissen und machten sich umgehend daran, dass Land nach ihren Vorstellungen zu verändern – radikal, blutig, gewissenlos. „Gebt uns eine Organisation von Revolutionären, und wir werden Russland aus den Angeln heben“, hatte Lenin in seinem Text Was tun? aus dem Jahr 1902 geschrieben. 15 Jahre später war es so weit: Das Land wurde aus den Angeln gehoben. Die Bolschewisten wollten den totalen, allumfassenden Bruch. Nichts weniger als die Erschaffung einer Neuen Gesellschaft und eines Neuen Menschen stand auf dem Programm. Die Zukunft, so wollten sie es, sollte sich in allem von dem unterscheiden, was man bislang auf Erden gesehen hat. Weil aber das Land so groß und der Feinde des Volkes so viele sind, lässt sich die große Umgestaltung nur mit aller Entschiedenheit, sprich: äußerster Brutalität und Rücksichtslosigkeit vorantreiben. Zuallererst, befindet Lenin, gilt es, den Feind zu besiegen.

Wie das zu erreichen sei, ließ er seine Genossen in ungeschminkter Deutlichkeit wissen. „Die Guillotine schüchterte nur ein, brach nur den aktiven Widerstand“, hatte er in seiner 1917 veröffentlichten Schrift Staat und Revolution die Lehren umrissen, die er aus der Geschichte der Französischen Revolution gezogen hatte. Der Feind erschöpfe sich aber nicht auf den aktiven Widerstand. Er sei auch im Lager all derer zu finden, die mit den Zielen der Revolution nicht einverstanden sind – also bei einem ganz erheblichen Teil der russischen Bevölkerung. Darum, befand er, ließen die Realitäten nur einen einzigen Schluss zu: „Wir müssen auch den passiven, zweifellos noch gefährlicheren und schädlicheren Widerstand brechen.“42 Nichts Falscheres darum, als Milde walten zu lassen. „Wenn wir einen Fehler machen, dann den, dass wir zu human, zu freundlich gegenüber den monströsen, verräterischen Repräsentanten der bürgerlich-imperialistischen Ordnung sind.“43

Was aus Sätzen wie diesen folgte, war einer der umfassendsten Vernichtungszüge, zu denen ein Staat jemals gegen die eigene Bevölkerung startete. Verbunden war er mit einem infamen Appell an die niederen Instinkte all jener, die die Bolschewisten zu den einzig akzeptablen Klassen, denen der Arbeiter und Bauern, zählten. Die Kriegserklärung entwickelte sich zu einem drei Jahre dauernden Bürgerkrieg, dem bis zu zehn Millionen Zivilisten zum Opfer fielen. Die Ouvertüre zum Spiel auf den russischen killing fields setzten die Rotarmisten, indem sie die Grundstücke und Häuser der Gutsbesitzer in Beschlag nahmen, brandschatzend durch die Lande zogen, raubten oder zerstörten, was immer ihnen unter die Hände kam. Das Volk, durch die Bolschewisten befreit und zugleich demagogisch aufgepeitscht, ließ seiner Wut über das nun untergegangene Feudalsystem ungehemmten Lauf. Seinen Zorn richtete es auf all jene, die es für die Entbehrungen unter der Herrschaft der Zaren verantwortlich machte. Der unter dem Zarenregime angestaute Unmut brach sich nun Bahn. Die gewalttätigen Impulse wurden nicht abgefangen oder kanalisiert durch rechtsstaatliche Prinzipien, sondern noch propagandistisch angeheizt. Die Folge war eine Orgie der Rachsucht, die noch die niederträchtigsten Handlungen zu legitimieren schien.

Der Schriftsteller Maxim Gorki sah sich gründlich desillusioniert: Das Volk, in der romantischen Literatur ebenso wie in den Programmen der Linken der Quell aller erdenklichen Formen von Aufrichtigkeit, zeige sich in den Revolutionsjahren in denkbar abstoßender Gestalt. „Ich sage offen, dass Leute, die so viel von ihrer Liebe zum Volk reden, immer Argwohn und Misstrauen in mir wecken“, umriss er seine Eindrücke. „Ich frage mich und ich frage auch sie: Lieben sie wirklich jene Bauern, die sich mit Schnaps betrinken, bis sie zu toben beginnen und ihre schwangeren Frauen in den Bauch treten? Jene Bauern, die viele tausend Zentner Getreide zur Herstellung von ‚Selbstgebranntem‘ verbrauchen und die verhungern lassen, von denen sie geliebt werden? … Jene Bauern, die einander bei lebendigem Leib begraben, die auf offener Straße grausame Lynchjustiz üben und es genießen, wie ein Mensch totgeprügelt oder im Fluss ertränkt wird?“ Für Gorki selbst war die Sache klar: „Ich liebe das Volk nicht.“44

Gorki hatte allen Anlass, sich zu entsetzen: All jene, die sich zur „richtigen“, weil nun dominierenden Klasse zählen konnten, setzten alle anderen ihrer Tyrannei aus. Unterernährt, verjagt, vertrieben und für vogelfrei erklärt, suchten Hundertausende nun Verfemte ihr nacktes Leben zu retten. Grundstücke, Schmuck und Habe wechselten die Besitzer. Insgesamt, so eine Schätzung, ging Eigentum im Wert von umgerechnet 160 Milliarden US-Dollar in neue Hände über – ohne jede rechtliche Grundlage.45 Die Revolution, die die Bolschewisten losgetreten hatten, überrollte das Land in einer in diesen Dimensionen bis dato kaum bekannten Gewalt. Bereits nach wenigen Wochen wussten alle, die dem Adel und Bürgertum angehörten, dass die neuen Herren es bitter ernst mit ihrer Kampfansage meinten. Ebenso verstanden sie, dass wenig dafür sprach, dass ihre Tyrannei absehbar ein Ende fände. Er beende das Jahr 1917 mit einem Gefühl unendlicher Dankbarkeit Gott gegenüber, notierte ein Zeitzeuge. „Gleichwohl lassen wir nun zum vierten Mal ein Jahr hinter uns, das einer Reihe von Jahren entspricht, die jeweils alptraumhafter gewesen sind als das vorherige. Man möchte auch in diesem Fall keine Bilanz ziehen, obwohl wir Zeugen dessen geworden sind, was jemand zu Recht als Krise der Menschheit bezeichnete. Nun muss ich die letzte Zeile meiner täglichen Chronik abschließen und meinen andächtigen Wunsch zum Ausdruck bringen: Möge der Herr das kommende Jahr segnen!“46

Doch der Herr, stellte sich heraus, segnete auch das kommende Jahr nicht. Im Gegenteil, immer neue Plagen ließ er auf es niedergehen. So peinigten die apokalyptischen Reiter der Revolution den zum Abschlachten freigegebenen Teil der Bevölkerung mit einer sadistischen Fantasie, wie sie in diesem Maß nur in anarchischen Zeiten denkbar ist – und der die Revolution einen ganz erheblichen Teil ihrer Dynamik verdankte. Die Bereitschaft zum Umsturz verknüpfte sich auf das Innigste mit der Lust an der Unterjochung. Der Klassenkampf bezog seine Energien ganz wesentlich aus den Freuden des Sadismus, dem hämischen Vergnügen, Wehrlose leiden zu lassen und ihre Ohnmacht ohne jede Hemmung auszunutzen. Mit vorgeblich bestem politischem Gewissen machten sich die Schöpfer des Neuen Menschen daran, sich die weiblichen Mitglieder des Klassenfeinds gefügig zu machen. Die Legitimation glaubten sie zu haben: Sie fanden sie in dem im Frühjahr 1918 in Jekaterinodar veröffentlichten Erlass „Über die Vergesellschaftung von Mädchen und Frauen“. Sämtliche unverheirateten Frauen zwischen 16 und 25 Jahren seien zu „vergesellschaften“, hieß es in dem Papier. „Vergesellschaftung“ hieß in diesem Fall nichts anderes als Vergewaltigung und Menschenhandel. Bis zu zehn Frauen ließen sich dafür bei der zuständigen Revolutionsbehörde „erwerben“. Viele der revolutionären Sache ergebene Männer folgten der Direktive nur zu bereitwillig. So raubten Soldaten der gerade sich formierenden Roten Armee rund 60 junge Frauen, größtenteils Angehörige der gesellschaftlichen Elite der Stadt. Einige dieser Mädchen verschleppten und vergewaltigten die Soldaten selbst, andere – rund zwei Dutzend – brachten sie ins Hauptquartier des örtlichen Bolschewikenführers sowie zu einem weiteren Parteiführer. Auch diese Frauen hatten sich der rohen Gewalt sexhungriger Kämpfer zu fügen. Die Opfer erlitten unterschiedliche Schicksale: Einige wurden freigelassen, andere verschwanden, wieder andere wurden ermordet. Mit am schlimmsten traf es eine junge Schülerin des Gymnasiums der Stadt: Sie wurde über zwölf Stunden lang vergewaltigt. Nachdem die Soldaten von dem Mädchen abgelassen hatten, banden sie es an einen Baum und entzündeten seine Kleidung. Um ihren Tod abzukürzen, entschlossen sie sich, es zu erschießen.47

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