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Arabische Liberale

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Und doch hat diese Geschichte auch ihre Helden und Lichtgestalten. Der britische Historiker Albert Hourani (1915–1993), Sohn libanesischer Einwanderer, veröffentlichte zu Beginn der 1960er-Jahre ein berühmt gewordenes Buch: Arabic Thought in the Liberal Age, 1798–1939.8 Darin porträtierte er jene arabischen Intellektuellen, die die Impulse der Moderne aufnahmen und für ihre Region weiterzuentwickeln versuchten. Sie nahmen die Ideale der Zeit – Aufklärung, Gerechtigkeit, technischer Fortschritt – wörtlich und hofften, sie auch in der arabischen Welt umsetzen zu können. Daraus wurde nichts, oder zumindest nicht allzu viel. Aber nicht etwa, weil die Araber dazu von vornherein unfähig gewesen wären – sondern weil die politischen Umstände nicht danach waren. Paradoxerweise – oder auch zynischerweise – war es der Westen selbst, der diese Hoffnungen unterlief. Die rüde Machtpolitik, die er in der arabischen Welt an den Tag legte und noch legt, ließ dem liberalen Denken keine Chance, seine Ideen auch dort politische Wirklichkeit werden zu lassen. Das galt im 19. Jahrhundert, und es galt über weite Teile des 20. Jahrhunderts. Später dann übernahmen die hausgemachten Diktatoren die Regie. Auch sie hatten mit liberalen Aspirationen wenig bis nichts zu schaffen. Und es gilt für das 21. Jahrhundert. Die tragisch gescheiterten Aufstände des Jahres 2011 zeigen, wie unzureichend die – vielen – liberal gesinnten Bürger der Region für die Auseinandersetzung mit den etablierten Machtmaschinen gerüstet waren. Mit Ausnahme der Tunesier haben sie alle sich den schon sicher geglaubten Sieg wieder nehmen lassen. In nur wenigen Tagen vermochten die Demonstranten scheinbar felsenfest stehende Regimes zu stürzen. Was sie nicht wussten: Macht verträgt kein Vakuum. Ihre Strukturen sperren sich dagegen, allzu lange unbesetzt zu bleiben. Hierarchien verlangen nach Personal. Übernehmen die Revolutionäre nicht umgehend die vakant gewordenen Posten, tun das die anderen. Nirgends zeigt sich die politische Gerissenheit der etablierten Hierarchie eindrucksvoller als in Ägypten. Nach einem kurzen, trickreich gefochtenen Zwischenspiel übernahmen dort, mit Ausnahme einiger symbolisch herausragender und darum „verbrannter“ Figuren aus der obersten Hierarchieebene, wieder jene das Ruder, die es 2011 für eine Weile hatten abgeben müssen. Die aber, die gegen die alten Machthaber protestiert haben, gegen sie auf die Straße gegangen sind und für ihre Freiheit einen teils ungeheuer hohen, mit ihrem Leben sogar den höchsten Preis überhaupt gezahlt haben: Sie sind die Nachfahren jener, die Albert Hourani einst porträtierte. Einige der Nachfahren jenes „Liberal Age“ habe ich im Kapitel zur arabischen Selbstkritik porträtiert. Sie sind diejenigen, die mir das Herz für die arabische Welt geöffnet haben. Es sind weitsichtige, vielfältig gebildete, liberale und kosmopolitische Personen, Menschen, die nicht anders konnten als auf Distanz zu dem zu gehen, was viele aus ihrem Umfeld für selbstverständlich und gewiss hielten und weiterhin halten. Diese Menschen sind für meine Begriffe die Avantgarde der arabischen Welt – auch und gerade darum, weil die toleranten und weiten Räume, die sie in ihren Texten abstecken, noch keine politische Wirklichkeit geworden sind. Vielleicht lässt sich ihre Position – und ebenso die zahlloser anderer Menschen in der arabischen Welt – in den Zeilen des palästinensischen Dichters Mahmoud Darwish (1941–2008) zusammenfassen. Als Kind floh Darwish mit den Eltern aus der Heimatstadt Akko, die nach der Staatsgründung Israels in dessen Territorium überging. Darwish wurde zum unmittelbaren Zeugen und Betroffenen des kompliziertesten und längsten Konflikts der arabischen Welt. Ein Konflikt, der wie alle Konflikte auf die Belange des Einzelnen keine Rücksicht nimmt. Darum konnte Darwish, wie er in seinem Gedicht schreibt, „keine Rolle“ in seinem eigenen Leben spielen: Es ergab sich dazu schlicht nicht die Gelegenheit. Die Psalmen des Lebens aber lernte er sehr wohl. Und um das Leben zu verändern, entzündete er sich „des Lebens Licht“, wie es in dem Gedicht heißt. In wenigen Zeilen umreißt Darwish die Situation von Millionen Menschen in der arabischen Welt, die Situation all jener Männer, Frauen und auch Kinder, die in ihrem eigenen Leben keine oder kaum eine Rolle spielen – und die trotzdem das Licht des Lebens entzünden, und sei es ein noch so flackerndes Flämmchen. Den Willen solcher Menschen und die Situationen, in denen sie dieses Licht vor sich her treiben, habe ich in diesem Buch zu erzählen versucht. Die Geschichte soll dazu beitragen, die Verzweiflung und den Zorn vieler Araber besser zu verstehen. Es soll aber auch den Blick für das schärfen, was falsch gelaufen ist – und was in Zukunft besser laufen muss. Die zusammenwachsende Welt, die in den Millionen arabischer Flüchtlinge drastische Evidenz gewonnen hat, lässt gar keine andere Wahl.

Zum Schluss noch dieses: Man wird in diesem Buch die Frauen vermissen. Ich gebe es unumwunden zu: Dieses Buch wird von Männern bevölkert. Ausgesucht habe ich mir das nicht. Die weitgehende Abwesenheit der Frauen auf den folgenden Seiten spiegelt ihre Abwesenheit im öffentlichen Leben der Region, jedenfalls, was die beiden vorletzten Jahrhunderte, das 19. und das 20., angeht. Natürlich: Auch Frauen beteiligten sich seit jeher am öffentlichen Leben der arabischen Welt, aber sie blieben eher am Rande. Freilich kann man ihre Abwesenheit auch als Kompliment deuten: Wenn eine Welt in vielerlei Hinsicht so aus den Fugen geraten ist wie die arabische – dann hat man allen Grund, zufrieden mit sich zu sein, wenn man sagen kann, man sei für diesen Schlamassel nicht verantwortlich.

Und noch etwas: Eine Geschichte der arabischen Moderne in einem Band kann niemals vollständig sein. Diese Moderne hat unendlich viele Facetten und lässt sich anhand ganz unterschiedlicher Länder, Personen, Ereignisse und Episoden erzählen. Das Buch bietet eine Auswahl, in der Hoffnung, die großen Dramen der Region beispielhaft zum Ausdruck zu bringen. Ich selbst bin mir der Unvollständigkeit des Stoffes schmerzlich bewusst. Es fehlt ein Kapitel über das tödlich zerrissene Syrien, es fehlt eines über den Libanon. Auch der Maghreb kommt bestenfalls am Rande vor. Und es fehlt ein eigenständiges Kapitel über den israelisch-palästinensischen Konflikt. Dazu habe ich mich angesichts des notwendig beschränkten Raums bewusst entschieden. Der Konflikt ist in der europäischen und zumal der deutschen Öffentlichkeit zumindest in seinen groben Linien bekannt, so dass ich darauf verzichtet habe, diese noch einmal nachzuzeichnen. Stattdessen habe ich mich auf Länder und Ereignisse konzentriert, die, wenn ich richtig sehe, weniger bekannt sind.

Den Weg von Mohamed Naghi habe ich in meinem Buch nicht weiter verfolgt, ebenso wenig den anderer Maler. Das Kapitel über die arabische Kunst der Moderne war schon geschrieben, als ich mich gezwungen sah, es wieder herauszunehmen – zu relevant waren andere Phänomene in der Region. Leider auch der Dschihadismus, der die Region derzeit über weite Teile im Griff hält und längst auch auf Europa übergesprungen ist. Mit wem man es zu tun hat, was diese Leute denken: das darzulegen, hielt ich für unverzichtbar. So entschloss ich mich, einige der wesentlichen Vordenker und Akteure des Dschihadismus zu porträtieren. Das ging auf Kosten anderer – Künstler, Musiker, Autoren (und es sei gesagt: auch der Künstlerinnen, Musikerinnen und Autorinnen), die mir – als Persönlichkeiten, die Mut machen – unendlich mehr am Herzen liegen. Katastrophale Realitäten haben sie leider aus dem Buch vertrieben. Das bedauere ich zutiefst.

Fast durchweg präsent ist in diesem Buch die für mich faszinierendste Region überhaupt, der Mittelmeerraum. Seit Jahrzehnten lässt sie mich nicht los, weder in ihrer romanischen Version, die ich mir im Studium der Romanistik erschloss; noch in ihrer arabischen, in die ich auf eigene Faust, begleitet von virtuellen Lehrern, den Autoren der für dieses Buch herangezogenen Arbeiten, erkundet habe. Eine der frühesten, grundlegenden Begegnungen mit der Méditerranée verdanke ich aber meiner Mutter. Sie, die diesen Raum durchaus auch mit der Seele erkundete, gab ihre Faszination an mich weiter. Auch darum widme ich ihr dieses Buch.

Nervöser Orient

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