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Das Große Spiel

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Tatsächlich hatte Napoleon die Expedition energisch vorangetrieben. Alle nur denkbaren Mittel hatte er mobilisiert, um seine Vormachtstellung gegenüber den großen europäischen Rivalen zu behaupten. Ein paar Jahre war es erst her, dass die Franzosen 1789 das Ancien Régime, die alte Ordnung, gestürzt hatten. Der absolutistisch regierende König Ludwig XVI. war vom Thron gestoßen und mit der Guillotine hingerichtet worden. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ hatten sich die Revolutionäre auf ihre Fahnen geschrieben, und unter dieser Parole waren sie angetreten, einen neuen Staat zu gründen. Der republikanische Aufbruch sorgte für Entsetzen unter den europäischen Monarchien. Umgehend sprachen sie dem gestürzten französischen König ihre Solidarität aus und setzten alles in Bewegung, um ihn zurück an die Macht zu bringen. Auf den wachsenden Druck reagierten die Revolutionäre, indem sie zunächst Österreich den Krieg erklärten: der Auftakt zu einer jahrelangen Reihe von Auseinandersetzungen, in die 1793 dann auch Frankreichs größter Rivale, Großbritannien, eintrat. Die Konkurrenz der beiden Mächte beschränkte sich nicht auf Europa. Kurz zuvor, 1763, hatten die Franzosen im Siebenjährigen Krieg ihre Herrschaft über das in Nordamerika gelegene „Neufrankreich“ an die Briten verloren, ein gewaltiges Gebiet, das sich vom Sankt-Lorenz-Strom im heutigen Kanada bis zum Golf von Mexiko erstreckte. Dass die Amerikaner ein paar Jahre später ihre Unabhängigkeit erklärten und die Briten ihrerseits aus der Neuen Welt vertrieben, konnte diese Schmach nur bedingt gut machen. Dies galt umso mehr, als die Franzosen auch anderswo herbe Verluste hinnehmen mussten. Ab 1673 hatten sie einige Niederlassungen im Süden Indiens gegründet, so dass ihre englischen Rivalen, die bereits weite Teile des Landes erobert hatten, wieder weichen mussten. Seitdem rangen die beiden Mächte um diese Vorposten in Südostasien – die Vorrunde zu jenem Great Game, wie der britische Dichter Rudyard Kipling es später nennen sollte, in dem die beiden Kolonialmächte offen um die Vorherrschaft in Asien und Nahost rivalisierten.

Eines war den Franzosen klar: Aus einmal verlorenen Gebieten würden sie die Briten nicht mehr so leicht vertreiben können. Zu tief hatten diese sich dort festgesetzt, ein politisches, wirtschaftliches und eben auch militärisches Netz gespannt, das die Franzosen kaum mehr zerreißen konnten. Der einzige Weg, ihnen trotzdem die Vorherrschaft zu nehmen, bestand darin, die kürzeste Route zwischen London und seiner wichtigsten Kolonie, Indien, zu kappen. Zwar versorgten die Briten ihre indischen Territorien in aller Regel über den langen Weg um Kap Horn. Wenn es aber eilte, etwa dringliche Nachrichten zu überbringen waren, schickten sie ihre Boten auf den kürzeren Weg über Ägypten: über das Mittelmeer bis an die Küste bei Alexandria, von dort auf dem Landweg über den Sinai bis zum Ufer des Roten Meeres, von wo aus es per Schiff weiter Richtung Asien ging. Unterbräche man diese Route, so Napoleons Idee, würde das britische Überseegebiet bald stürzen. „Hätten sich die Franzosen erst einmal in Ägypten niedergelassen“, schrieb er in seinen Erinnerungen, „wäre es den Briten unmöglich, sich in Indien zu halten. Mit unseren Schwadronen am Ufer des Roten Meeres, versorgt mit den Gütern dieses Landes, würden wir dank jener Truppen unweigerlich auch zu den Herren über Indien – und zwar genau in jenem Moment, in dem England es am wenigsten erwarten würde.“4 Würde Frankreich Ägypten tatsächlich unterwerfen, hätte das noch einen Vorteil: „Das Land böte unseren Manufakturen einen gewaltigen Absatzmarkt; unsere Industrie gewönne zusätzlichen Schwung. Sehr bald würde man uns rufen, um die Menschen in Afrika, Abessinien, Arabien und großen Teilen Syriens zu versorgen. Den Menschen dort mangelt es an allem. Was sind Santo Domingo und alle anderen Kolonien im Vergleich zu den riesigen Regionen im Nahen Osten?“5

Doch Briten und Franzosen waren nicht die einzigen, die an diesem Spiel teilnahmen. Die stärksten Karten in der Region hatte ein anderer in der Hand: Selim III., der Sultan des Osmanischen Reiches. Der Herrscher in Konstantinopel regierte ein Imperium, das in den Jahrhunderten zuvor ungeheure Ausmaße angenommen hatte. Osmanische Truppen hatten im Süden ein Terrain erobert, das sich von der Arabischen Halbinsel bis hin zum Gebiet des heutigen Algeriens erstreckte. Im Westen hatten sie weite Teile des Balkans erobert. 1529 und noch einmal 1683 versetzten sie Europa in Angst und Schrecken, als sie kurz davor standen, Wien zu erobern und von dort weiter Richtung Westen auszugreifen. Im späten 18. Jahrhundert zeigte das Reich dann aber unübersehbare Ermüdungserscheinungen. Immer weniger brachten die Osmanen die Kraft auf, ein solch riesiges Gebiet zusammenzuhalten und einer Zentralgewalt zu unterwerfen. Die Paschas, die in die einzelnen Provinzen entsandten Staathalter, kümmerten sich mehr um ihre eigenen Interessen und entzogen sich der Kontrolle durch der Hauptstadt am Bosporus. Deren Finanzbedarf und die damit einhergehenden hohen Steuern lähmten die Produktivität der Provinzen und damit zuletzt die des gesamten Reichs. Militärisch hatte das alsbald Konsequenzen: Der russisch-osmanische Krieg 1768–1774 endete für den Sultan mit herben Verlusten; die Krim und Teile des Kaukasus gingen an Russland. Außerdem sicherte sich das Zarenreich das Recht auf freien Schiffsverkehr auf dem Schwarzen Meer sowie die ungehinderte Durchfahrt durch den Bosporus.

In Frankreich regte die Schwäche des Osmanischen Reiches zu nüchternen strategischen Überlegungen an. Zwei Alternativen standen zur Debatte: Entweder man baute die bewährten und umfassenden Beziehungen zwischen Paris und Konstantinopel weiter aus, vertiefte die militärischen und vor allem ökonomischen Bande, so dass der Partner am Bosporus Schwung und neue Stärke gewänne. Oder man setzte auf die gegenteilige Option und stieße Konstantinopel endgültig in den Abgrund. Langfristig, argumentierten die Anhänger dieser Möglichkeit, sei das Osmanische Reich ohnehin verloren. Also gelte es, seine immer deutlicher zutage tretende Schwäche dazu zu nutzen, ihm mit Ägypten eine seiner zentralen Provinzen zu entreißen. Gelänge dies, hätte man nicht nur den Osmanen, sondern auch und vor allen den Briten einen entscheidenden Schlag zugefügt. Eine ihrer wichtigsten Routen nach Indien wäre gekappt, die weitere Existenz des Weltreichs gefährdet. Frankreich hingegen hätte die Möglichkeit, sich zum Herrn der Meere aufzuschwingen. Der Umweg über Ägypten erschien erheblich plausibler als der ebenfalls diskutierte Vorschlag, Großbritannien direkt anzugreifen. Dass sich die Mitglieder des Direktoriums, wie die französische Regierung damals hieß, für die erstgenannte Möglichkeit entschieden, verdankte sich dann fast aber einem Zufall: Als die französische Flotte aus dem Krieg mit Italien zurückkehrte, segelte sie nicht, wie ursprünglich geplant, zurück in den Heimathafen nach Brest an der französischen Atlantikküste, sondern beendete ihre Fahrt bereits im Mittelmeerhafen von Toulon. Von da ist es nach England zwar weit. Umso näher jedoch liegt Ägypten.

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