Читать книгу Sexy, aber nicht mehr so arm: mein Berlin - Klaus Wowereit - Страница 15

„BERLIN IST ARM, ABER SEXY“

Оглавление

Das ist wohl mein zweitberühmtestes Zitat. Ich glaube, ich habe es das erste Mal kurz nach meiner Wahl in einer Rede vor Wirtschaftsvertretern in London verwendet. So ähnlich habe ich es dann im November 2003 noch mal in einem Interview mit Focus Money gesagt – von wo aus der Spruch seine Rundreise durch den deutschen Blätterwald antrat. Die Schelte folgte auf dem Fuße. Ich fände Armut anscheinend sexy, hieß es vonseiten der Opposition – absichtlich missverstanden.

Dass in Berlin die Durchschnittseinkommen im Bundesvergleich niedrig sind, ist eine Tatsache. Aber erstens eine, an der ein Senat kurzfristig nur wenig ändern kann. Zweitens wurde das durch vergleichsweise moderate Lebenshaltungskosten, vor allem bei den Mieten, lange abgemildert. Aber selbst wenn die Berliner Mieten seit einigen Jahren spürbar anziehen: Neben Stadtvierteln mit Frankfurter oder Düsseldorfer Preisen gibt es immer noch solche mit Quadratmeterpreisen unter 7, teilweise auch unter 6 Euro. Ebenso richtig ist, dass in Berlin zu viele Menschen auf Transferleistungen angewiesen sind. 2015 bezogen 11,8 Prozent aller Einwohner Arbeitslosengeld II, während es im Bundesschnitt nur 7,5 Prozent waren. Ja, liebe CSU: In München sind es nur 4,4 Prozent. Aber München ist eben nicht nur wohlhabend, sondern auch ein extrem teures Pflaster. Studien haben gezeigt: Wer weniger als 10 Euro die Stunde verdient, findet im gesamten Stadtgebiet Münchens keine bezahlbare Wohnung. Kein Wunder, dass in der Landeshauptstadt kaum Geringverdiener und Transferempfänger wohnen.

Insgesamt bezieht jeder fünfte Berliner staatliche Transferleistungen – darunter ein hoher Anteil von „Aufstockern“, deren Minilöhne zum Leben nicht reichen. Aber auch diese Misere ist – sieht man eine Sekunde vom Skandal ab, dass Unternehmen derart miese Löhne zahlen dürfen – ein Symptom der historisch bedingten ökonomischen Strukturdefizite Berlins. Ebenso wie in Berlin ein Drittel (im Bundesdurchschnitt: ein Fünftel) aller Haushalte solche von Alleinerziehenden sind – auch die sind überdurchschnittlich häufig auf Transferleistungen angewiesen. Solcherlei Befunde ließen sich noch weit differenzierter analysieren. Ebenso gut lassen sie sich auf die denkbar einfachste Formel bringen: dass Berlin „arm“ ist.

Gleichwohl strömen jedes Jahr weit mehr Menschen in die Stadt, als Menschen Berlin verlassen. Und das tun sie sicher nicht, weil ihnen die Karriere in München, Stuttgart oder Frankfurt zu langweilig geworden ist. Weil Barcelona, Kopenhagen oder Tel Aviv verschnarchte Kaffs wären. Oder, weil sie in Berlin nicht automatisch die Hälfte ihres Einkommens an den Vermieter weiterleiten müssen. Tatsache ist: Wirtschaftlicher Wohlstand allein macht eine Stadt nicht attraktiv. Und schon gar nicht „sexy“.

Wenn ich das damals ganz bewusst so salopp formuliert habe, dann um deutlich zu machen, dass Menschen nicht nur aufgrund vernünftiger Kosten-Nutzen-Abwägungen nach Berlin ziehen. Sondern weil sie schlicht und einfach Lust darauf haben, in einer quirligen Stadt zu leben, in der es, unter vielem anderen, auch Kneipen mit „Frühstück ab 21 Uhr“ gibt. Was ja nur geht, weil die Stadt den verschiedenen Lebensrhythmen Raum gibt. Als Mitglied der ältesten Arbeiterpartei Europas habe ich grundsätzlich starke Sympathien für Frühaufsteher wie mich selbst. Aber als Berliner musste ich eben auch lernen, dass Menschen später am Tag ebenfalls sehr viele sinnvolle Dinge vollbringen können.

Städte, vor allem Großstädte, leben davon, dass sie Raum für die unterschiedlichsten Lebensentwürfe bieten – auch solche, die andere Menschen so nicht wählen würden, ja vielleicht sogar ablehnen. Die meisten dieser Nischen bieten Freiräume für Vielfalt und Kreativität, sind Labore wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Zukunftsentwicklungen. Menschen, die sich abseits eingetretener Pfade ausprobieren wollen, ziehen genau darum so gerne in Städte wie Berlin. Man könnte ganz simpel sagen: Hier findet jeder Topf, selbst ein zeitweise verbeulter, seinen passenden Deckel.

Noch etwas zeichnet Berlin aus: Diese Stadt hat es immer wieder geschafft mit einem unheimlichen Überlebenswillen allen Widrigkeiten der Zeitläufte zu trotzen. Es gibt hier eine sehr spezielle Mischung von Menschen und Erfahrungen: alte Berliner, die noch den Krieg und die Nazidiktatur überlebt haben; die Teilung, Mauerbau und Blockkonfrontation kennen; andere, die die Erfahrungen erst des Überlistens, dann des geduldigen und friedlichen Niederringens der SED-Diktatur einbringen können. Waschechte Berliner sind nicht unbedingt Fatalisten. Aber es eignet ihnen etwas, das ich als „humorige Gefasstheit“ bezeichnen würde. Die unaufgeregte Lässigkeit trifft auch auf all jene zu, die heute aus den verschiedensten Ecken der Welt mit neuen Ideen, Inspirationen, Träumen und Plänen nach Berlin kommen. Das ist wohl wirklich eine einmalige Situation, die man so auf der Welt nicht noch mal findet. Und die wirklich sexy ist.

Im ersten Nachwende-Jahrzehnt hatte der Charme Berlins auch etwas mit den Wunden im Stadtbild zu tun. Beziehungsweise mit jenen Freiräumen und Experimentierflächen, von denen es in Ruinen und auf Brachen nun mal mehr gibt als in malerischen Gassen mit alten Fachwerkhäusern. Was im West-Berlin der 1970er Kreuzberg war, das war in den 1990ern Mitte, Friedrichshain oder der Prenzlauer Berg.

Eine der letzten Bastionen dieser Blüte im Verfall war bis 2012 das „Tacheles“, ein alternatives Künstlerhaus in den Resten einer ehemaligen Einkaufspassage an der Oranienburger Straße. Heute planen Investoren auf diesem Areal Wohn- und Geschäftshäuser mit einer Gesamtfläche von 85.000 Quadratmetern. Nun gibt es Leute, die solche Refugien der sehr speziellen Berliner Morbidität gerne erhalten würden. Ich gehöre nicht zu ihnen. Die Entwicklung einer Stadt kann man nicht einfrieren. Wer das versucht, endet bestenfalls in einer Art alternativem Spießertum, aus dem dann auch nichts Neues, Ungewöhnliches, gar Gewagtes mehr entsteht. Vor allem aber nimmt er der Stadt die Luft zum Atmen. Auch alles Alte war mal ein Neubau. Und wenn eine Ruine irgendwann eine Ruine ist, muss halt jemand etwas Neues aufbauen. Was immer auch bedeutet: Es sollte wirtschaftlich wenigstens annähernd so sinnvoll sein wie sozial, kulturell und städtebaulich. Berlin hat zum Glück – noch! – Platz genug für beides: für Investoren, die immer eine Mall oder 100 Luxus-Lofts zu viel bauen, bis sie merken, dass die entsprechenden Märkte übersättigt sind. Und Platz für Künstler und Lebenskünstler, die Hinterhöfe beleben, wo sie entweder arrivieren – oder die sie irgendwann für den nächsten Trend räumen.

Arm hin, sexy her – auch diese etwas schräge Formulierung hat uns im Ergebnis sehr viele Türen geöffnet. Versuchen Sie mal, als Provinzpolitiker mit einem reflektierten Grundsatzreferat zur Regionalentwicklung international Aufmerksamkeit zu erregen. Oder mit einem der handelsüblichen Statements über „Wachstum und Wohlstand“, die „weltoffene Metropole“ oder eine „dynamische Bürgergesellschaft“ bekannt zu werden. Das wird nicht funktionieren. Dank „poor but sexy“ hatten wir bei Reisen nie Schwierigkeiten, Gesprächstermine zu bekommen. Nicht nur bei Amtskollegen oder bei zuständigen Ministern, sondern auch bis hinauf zum Staatspräsidenten. Natürlich wussten alle: Berlin, das ist die Hauptstadt eines der führenden Industrieländer. Da muss man hin, da könnte man investieren, da sollte man also auch wissen, wer in diesem Berlin regiert. Aber alle wollten eben auch mal den angeblich so lustigen Regierenden Bürgermeister kennenlernen.

Es gab mal eine Ausgabe des Time Magazine, für deren Cover die fünf wichtigsten Hauptstadt-Bürgermeister Europas zu einem Gruppenfoto montiert wurden. Einige mussten danach grübeln, warum auf ihm ausgerechnet der Regierende Bürgermeister von Berlin in der Mitte stand. Okay, mir hat das natürlich schon ein bisschen geschmeichelt. Doch vor allem habe ich darin ein schönes Kompliment für Berlin gesehen. Ich war dreizehneinhalb Jahre der oberste Repräsentant der Stadt. Und ich glaube, ich habe das ganz gut hinbekommen. Aber ich verdanke meine relative Popularität zu einem großen Teil eben auch meiner großartigen Stadt.

Sexy, aber nicht mehr so arm: mein Berlin

Подняться наверх