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POSTENGESCHACHER UND POLITISCHE ARBEIT

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Vorurteil Nummer eins, mit dem ich aufräumen möchte, ist also, dass Politiker ständig reden. Vorurteil Nummer zwei: Angeblich wollen wir, während wir vor der Kamera immer vom „Vorrang der Sachfragen“ sprechen, in Wahrheit nur einen Posten ergattern. Auch wenn ich seit Jahren keinen „Posten“ mehr anstrebe – ich finde es immer noch reichlich wohlfeil, wenn sich über so etwas erregt wird. Warum wird in einer Demokratie gewählt? Damit die Bürgerinnen und Bürger entlang politischer Grundhaltungen (von denen es zum Glück verschiedene gibt) und mehr oder minder konkreter Programme oder Projektvorschläge (bei denen es zumindest nicht schadet, wenn man sie vorher gelesen hat) eine Tendenzentscheidung für die nächsten Jahre treffen können. Da soll’s langgehen!

Und dafür muss dann auch jemand sorgen. Nämlich Parlamente, die Gesetze machen, und Verwaltungen, die diese Gesetze in die Praxis umsetzen. Warum aber sollten sich Parlamente, Regierungen und Verwaltungen von anderen sozialen Organisationen unterscheiden? Auch da gibt es Menschen, die sich um die Details kümmern, und solche, die mehr das Ganze im Blick haben. Das Tolle in der Politik: Hier werden die Vorturner von allen Bürgern gewählt – zumindest indirekt. Und lediglich auf Zeit. Kehrseite der Medaille: Für jeden „Posten“ muss es jemanden geben, der ihn haben will. Und der die anderen das rechtzeitig wissen lässt. Wer sich über die Karriereambitionen von Politikern (und vermutlich ähnlich oft über die von Arbeitskollegen) erregt, der ist in der Demokratie herzlich eingeladen, selbst einmal den Hut in den Ring zu werfen.

Damit es funktioniert, ist es im Vorfeld von Wahlen sehr wohl erforderlich, dass alle über „Inhalte“ reden. Und nachdem die Wähler entschieden haben? Keine Sorge, auch da gibt es jeden Tag viele inhaltliche Fragen, über die geredet werden muss. Bisweilen grundsätzliche, meist recht detaillierte, häufig auch äußerst verzwickte Inhalte. Weswegen es zwar artig ist, dass auch nach den ersten Hochrechnungen alle nur „Inhalte umsetzen“, „die Probleme der Menschen lösen“ und um Himmels willen keinen „Posten“ haben wollen. Was aber nichts daran ändert, dass die Arbeit verteilt werden muss, wenn die Wähler prinzipiell geklärt haben, wohin die Reise geht.

Wer diesen in Unternehmen oder Kaninchenzüchtervereinen normalen Vorgang „Postengeschacher“ nennt, mag sich damit besser fühlen. Aber der glaubt nach meinem Eindruck nicht wirklich an den Sinn von Wahlen. Regierungen lassen sich nun mal nur aus Menschen bilden, nicht aus Strategiepapieren.

Ist dann ein besagter politischer Posten mit jemandem besetzt, besteht dieser Job hauptsächlich aus vier Tätigkeiten: zuhören, reden, lesen, schreiben. Letzteres bedeutet umso mehr „unterschreiben“, je höher das Amt ist, welches man oder frau bekleidet. Zur Strafe für die Entlastung bei der Produktion von Texten muss man dafür an der Spitze umso mehr Texte lesen. Und zwar ganz überwiegend Texte, die leider weder durch Hochspannung noch durch ihre literarischen Qualitäten bestechen.

Warum lesen Sie zum Beispiel keine molekularbiologischen Fachaufsätze? Klar, weil Sie – wie ich – keine Ahnung von Molekularbiologie haben. Und weil Sie das Fachgebiet wohl auch nicht interessiert. Dennoch ist ebenso klar: Für einen Molekularbiologen – ein höchst sinnvoller Beruf – ist das echte Arbeit, kein Feierabendvergnügen. Und warum lesen Sie keine Verwaltungsverordnungen? Keine Haushaltsentwürfe? Oder wenigstens sozialpolitische Thesenpapiere? Eben.

Jetzt mögen Sie Politik im Gegensatz zu Molekularbiologie für keinen sinnvollen Beruf halten. Aber einen Haushalt zu lesen ist schon Arbeit. Das aktuelle Budget des Landes Berlin für die Jahre 2018/2019 füllt elf Bände. Jeder Band hat so zwischen 200 und 500 Seiten. Neben enorm vielen Zahlen enthält ein Haushaltsplan packende Passagen wie: „Die Ausgaben des Titels 66356 sind mit den Ausgaben aller anderen Titel des Kapitels 1295 gegenseitig deckungsfähig. Sie sind auch gegenseitig deckungsfähig mit den Ausgaben bei Kapitel 1240, Titel 54010, 54021, (…); gegenüber Ausgaben anderer Kapitel des Einzelplans 12 sind sie nur deckungsberechtigt.“ Es geht da um „Zinszuschüsse für die Modernisierung und Instandsetzung von Wohngebäuden“. Immerhin fast 12 Millionen Euro. Ich glaube nicht, dass es viele Menschen in Berlin gibt, die zwecks Entscheidung über diese Summe eine Volksabstimmung abhalten möchten.

Das Volumen des gesamten Berliner Haushalts liegt bei 28,6 Milliarden Euro für 2018 und bei 29,3 Milliarden für 2019. Diese Summe setzt sich aus abertausenden Positionen wie der soeben zitierten zusammen. Sie zusammenzustellen erfordert die Arbeit Hunderter qualifizierter Mitarbeiter in der Finanzverwaltung. Sie im Einzelnen zu überblicken, erfordert die Arbeit vieler qualifizierter Fachpolitiker. Sie alle in ihrem Zusammenhang und ihren Folgen für die Entwicklung einer Stadt zu verstehen, erfordert – unter anderem – die Arbeit von Fraktionsspitzen, Staatssekretären, Senatoren, Bezirksbürgermeistern – und von einem Regierenden Bürgermeister. Als solcher habe ich zwar nie alle elf Bände komplett studiert. Aber ich wusste stets, wie die Politik bei welchen Ausgaben an welchen Rädchen drehen kann und drehen sollte. Und das halte ich, mit Verlaub, für echte und sinnvolle Arbeit.

Außerdem: Die Idee einer Volksabstimmung über Zinszuschüsse für die Modernisierung von Wohngebäuden mag zwar lächerlich klingen. Immerhin wäre sie – vertieftes Interesse der Bürger an dieser Detailfrage vorausgesetzt – mit etwas Aufwand wohl durchführbar. Aber eine Volksabstimmung über den gesamten Landeshaushalt? Diesen im Abgeordnetenhaus mit seinen derzeit 160 Mitgliedern zu beraten, dauert schon drei volle Monate! Obwohl sich nicht alle Abgeordneten in den Ausschuss- und Plenarsitzungen zu Wort melden. Was im Umkehrschluss nur bedeuten kann: Bei den Haushaltsberatungen aller 2,5 Millionen wahlberechtigten Berliner könnte sich außer den hartnäckigsten Vertretern von Einzelinteressen tatsächlich niemand vernünftig Gehör verschaffen. Fast niemand wüsste, worum es geht, weder im Einzelnen noch im Ganzen. Und wenn es solche sachkundigen Bürger doch gäbe? Tja, dann wären die wohl – tut mir leid – Politiker.

Nun gilt das Budgetrecht in allen Demokratien nicht umsonst als das „Königsrecht“ der Parlamente. Weshalb es für mich zugleich der beste Beweis ist, dass in bestimmten Einzelfragen Volksabstimmungen sinnvoll sein mögen, dass es aber im Ganzen keine Alternative zur repräsentativen parlamentarischen Demokratie gibt. Ich stelle schließlich selbst auch keinen Joghurt her und repariere mein Auto nicht selbst, sondern delegiere das an qualifizierte Experten.

Sexy, aber nicht mehr so arm: mein Berlin

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