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Die Ankunft

Der Zug hatte schon längere Zeit seine Geschwindigkeit spürbar verringert und hielt schließlich mit quietschenden Bremsen an. Seit sie in Bad Segeberg eingestiegen waren, wo sie aus Stettin kommend, eine Nacht in dem englischen Lager übernachten durften, hatte es nur kurze abrupte Halts auf offener Strecke gegeben. Jetzt spürten alle, dies war die Endstation. Sie waren am Ziel.

Auf einem sichtbar werdenden Stationsschild konnte man trotz der abgeblätterten Farbe, den Namen Süderbrarup entziffern. Wie aber die Sprechübungen der Mitreisenden es bezeugten, bereitete der Name pommerschen Zungen einige Probleme.

Ihr erstes Quartier

Es war nur ein kleiner Bahnhof mit einem grünen Sperrenhäuschen, durch dessen schmalen Durchlass sich nun die Flüchtlinge mit ihren Rucksäcken und Bündeln quetschten. Vor dem aus gelben Ziegeln bestehenden Gebäude verlief eine ungepflasterte aber saubere Straße. Überhaupt wirkte hier alles sauberer, als alles was die ankommenden seit Langem gewohnt waren. Oma sagte auf seine staunenden Blicke hin, so sah es bei uns in Friedenszeiten auch aus, so als wollte sie ihn ermahnen nicht zu vergessen, dass es zuhause auch schön gewesen war.

Der Bahnhofsvorplatz war ungepflastert aber mit einer losen wie glatt gewalzten Steinschicht belegt. Ein Blick auf diese Steine ließ Klaus stutzen und er hob einige auf und besah sie gründlich. Sie wirkten wie zersplittert, mit Farbnuancen auf den glasigen Bruchflächen von Grünlich bis Gelblich. Zuerst dachte er, es wäre Horn oder Bernstein, aber er verwarf es bald.

Es waren die dort sehr häufig vorkommenden Flintsteine, die ihm aufgefallen waren, aber Mutti bedrängte ihn mit der Spielerei aufzuhören, wie sie es nannte, da sich jetzt alle in Bewegung gesetzt hatten, weil sie offenbar ihrer neuen Bleibe zugeführt werden sollten.

Die familieninterne Marschordnung ging üblicherweise so, dass Klaus zwischen Mutti und Oma ging und außen die beiden Tanten, denn häufig war von der Miliz eine Fünferreihe vorgeschrieben worden, da diese von ihnen leichter zu kontrollieren war.

Aber eine Miliz gab es hier nicht. Deshalb hielt er diese Regelung für mehr als unnötig. Jetzt brauchte Mutti nicht mehr Angst haben, dass er verloren geht oder dass ihm was passiert, dachte er. Deshalb schob er sich langsam aus der Mitte der Marschkolonne an deren Rand vor und ging schließlich ohne Einwand oder Protest, fröhlich gestimmt an der Seite mit.

Sie gingen eine stille und beidseitig mit hohen Bäumen bestandene Straße entlang. Fahrzeugverkehr war hier anscheinend nicht zu erwarten und der dahin strömende Zug der Flüchtlinge füllte die ganze Straßenbreite aus.

Er wusste nicht, was es für ein Wochentag war, die Bürgersteige waren mit einem Muster im Boden sauber geharkt und der Blick in die Vorgärten mit in den Haustüren stehenden Menschen versetzte ihn in eine sonntägliche Stimmung, obwohl die Distanz mit der sie zu ihnen herüberblickten, spürbar war. Es war friedlich, beinahe so wie früher in Stolp und es hätte gepasst, wenn ihn Oma jetzt plötzlich zum Essen reingerufen hätte.

Es roch hier sogar wie früher, also kein Brandgeruch und keine Moderluft aus den Kellern der Ruinen, dafür frische Landluft und der unverkennbare Geruch von in Betrieb befindlichen Küchenherden. Er stellte sich vor, dass auf den Tischen jetzt eine Schüssel mit dampfenden Stampfkartoffeln und mit Speck durchsetzter Einbrenne stand und er wäre dabei beinahe gestolpert. Ein Blick zur Seite, wo die anderen die Straße entlang trotteten, beendete seine Träumerei und konfrontierte ihn wieder mit der Wirklichkeit.

Und dann war man plötzlich am Ziel angekommen, es war eine Schule.

Auf dem Platz davor versammelt sich alle und hörten wie ein kleiner gemütlich aussehender älterer Herr, der ihnen als Bürgermeister vorgestellt wurde, eine längere Rede hielt, die Klaus zum größten Teil nicht verstand. Er wies eindringlich darauf hin, dass die Familien zusammenbleiben müssten, damit sie bei der gleich erfolgenden Zuweisung der Schlafplätze nicht getrennt würden, und danach würden Essensmarken für die Volksküche ausgegeben. Das machte ihn munter, zumal ihn Mutti mit dem Ellbogen anstieß, um ihn zum Zuhören zu animieren und am Einschlafen zu hindern, denn dass konnte er auch im Stehen, wenn er sich bei Mutti oder Oma anlehnte.

Man wies ihnen Klassenzimmer zu, in denen schon portionierte Strohhaufen bereitlagen, auf denen sie sich niederlassen konnten. Ans Kopfende kam wie üblich das Gepäck.

In jedem Raum gab es Platz für ungefähr dreißig Personen. Klaus bekam mit Mutti einen Schlafplatz in der Nähe der Tür, neben einem Waschbecken zugewiesen. Dieses war allerdings ohne Funktion, sodass eine feuchte Überraschung nicht zu erwarten war, denn man hatte in der Schule das Wasser abgestellt. Der Grund waren die kleinen Trinkbrunnen, die überall auf den Fluren installiert waren. Diese waren sofort von allen Kindern ausprobiert worden, auch von Klaus. Sie hatten sich mit Wasser bespritzt und der Fußboden war etwas nass geworden. Die Reaktion darauf war das sofortige Abstellen des Wassers, begleitet von einem strengen Verweis in einer gestelzt klingenden Sprache, der sie etwas erschrecken ließ.

Der Schaumlöffel

In der Nähe der Mittelschule, der derzeitigen Behausung der Flüchtlinge, befand sich der Marktplatz.

Dieser war bei den baldigen Erkundungen der Kinder, an den sich Klaus natürlich sofort beteiligte, bald entdeckt. Der Platz stellte sich ihnen als eine riesige rechteckige und ungleichmäßig begrünte Fläche dar. Eine Seite entsprach der Länge von mindestens zwei Fußballfeldern. In der Mitte, etwas abseits eines Trampelpfades, der offenbar schon seit Generationen als Abkürzung über den Platz genutzt wurde und bereits vollkommen ausgetreten war, befand sich in einer Baumgruppe eine großzügige Toilettenanlage, wodurch klar wurde, dass hier auch wichtige Veranstaltungen stattfanden.

Wie ihnen die Leute im Dorf später erzählten, hätten hier früher die Bauern der Umgebung ihre Kartoffeln, Gemüse, Butter, Eier, Käse, Speck verkauft. Das hörte sich für Klaus zu fantastisch an, obwohl er aus Erzählungen von den Omas schon gehört hatte, dass so etwas früher durchaus üblich war. Jetzt, in der letzten Juliwoche des Jahres, fand hier etwas ganz besonderes statt und das war wie schon seit hunderten von Jahren, der Brarupmarkt. Mitteilsame Einheimische, die das Erstaunen der Kinder bemerkt hatten, erzählten ihnen, dass dies in Friedenszeiten der größte ländliche Jahrmarkt von ganz Schleswig-Holstein wäre. Auf dem Platz seien früher noch viel mehr Buden, Karussells gewesen und in Festzelten hätte Musik gespielt und dort wäre gefeiert worden. Das war für die Kinder eine sehr sympathische Neuigkeit, welche ihnen ihre neue Heimat sofort in ein erfreuliches Licht rückte.

Die ganze Größe des Marktplatzes war für die Kinder nicht deutlich erkennbar, denn selbst die wenigen Buden und Karussells verhinderten den Überblick. Alle waren begeistert und sie wanderten lange wie betäubt und ratlos zwischen den Buden und Fahrgeschäften umher. Solche Karussells und diese Losbuden mit den merkwürdigen und leider völlig unpraktischen, weil ungewohnten Spielsachen, und diese Stände mit den unbekannten Süßigkeiten hatten, sie zuvor noch nie gesehen und auch noch nie davon gehört. Für sie war das wie ein Schaufenster, an denen man sich beim Betrachten der dahinter ausgebreiteten Herrlichkeiten, die Nase plattdrückt und dann ob des unerreichbaren, seufzend weitergeht. Ermüdet von den Eindrücken gab Klaus schließlich auf. Es zog ihn zurück, dahin wo Mutti auf ihn warten würde und wo auch Oma und die Tanten waren.

Vor der Schule spielten ein paar Mädchen auf dem Bürgersteig Himmel und Hölle und eine auffallend gut aussehende Frau stand in der Nähe und sah ihnen zu. Sie schien auf etwas zu warten. Klaus bemerkte sie, als er mit den anderen Jungen vom Brarupmarkt kommend den Schulhof betreten wollte. Er erschrak, als sie ihn ansprach und fragte, ob er auch zu den Flüchtlingen gehören würde.

Seine Mutter und auch alle anderen Frauen seiner Umgebung hatten bei ihm immer einen unauffälligen Eindruck hinterlassen, sodass sie leicht zu übersehen waren. Er wusste, dass dies notwendig gewesen war, um gegenüber den Russen so wenig wie möglich aufzufallen, was aber manchmal auch nichts genutzt hatte. Diese Frau wirkte dagegen so ganz anders und er wagte sich entschlossen vor und bejahte ihre Frage, während die anderen wie hypnotisiert stehen geblieben waren.

Sie erklärte, dass sie auf dem Brarupmarkt an einigen Losbuden Verschiedenes gewonnen hätte, dass sie sehr gerne den Flüchtlingen übergeben würde, und drückte ihnen verschiedene Sachen in die Hand. Für ihn blieb ein Stück Seife und ein ihm unbekanntes Küchennutensiel übrig, dass er unschlüssig anstarrte.

Sie bemerkte seine Unsicherheit und erklärte, dass sie verstehe, dass ihm als Jungen, Derartiges unbekannt sei, aber er solle es mal seiner Mutter geben, die wisse sicher was damit anzufangen und schob die Erklärung hinterher, es wäre ein Schaumlöffel, den sie beim Kochen sicher dringend benötigen würde.

Die Unkenntnis dieser Frau, was ihre Lebensverhältnisse betraf, berührte ihn, aber er genierte sich ihr zu erklären, dass sie weder was zu essen hätten, bei dem man einen Schaumlöffel gebrauchen könne, noch überhaupt eine Küche besaßen.

Er überlegte angestrengt, ob er so einen Schaumlöffel schon früher bei den Omas in Stolp gesehen hatte, konnte sich aber im Augenblick an rein gar nichts mehr entsinnen. Aus reiner Verlegenheit betrachtete er den Schaumlöffel weiter ganz genau, obwohl an diesem simplen Teil nichts gab, was noch neu zu entdecken wäre. Die anderen Jungs hatten sich längst verdrückt, aber er stand noch immer neben dieser Frau, die auch noch äußerst angenehm roch.

Ihr schien durch die zögernde Entgegennahme der Geschenke mittlerweile bewusstzuwerden, dass sie offenbar in eine andere Welt eingetaucht war. Das schien sie zu überfordern, sodass sie auf einmal etwas murmelnd und den überraschten über den Kopf streichend zu erst langsam und dann immer schneller werdend davon ging. Er hörte ihre sich entfernenden Schritte genau, wagte aber nicht aufzusehen.

Jetzt wo sie weg war, fiel ihm wieder ein, an was ihn an dem Teil, das sie Schaumlöffel nannte, erinnerte. Es war nichts aus einer Küche, sondern es erinnerte ihn an die Gasmaske der Soldaten. Schon oft hatte er mit anderen Jungs eine auseinandergenommen und auch aufgesetzt um die Mädchen zu erschrecken. Und die Filter dieser Gasmasken sahen genau so aus wie der Schaumlöffel, denn aus so einem war er gemacht worden, das war für ihn jetzt klar.

Er setzte sich auf die kleine Mauer vor der Schule und hielt sich den Schaumlöffel vor den Mund und blies dadurch und stellte sich vor, es wäre eine Gasmaske und er wäre ein Soldat. Nachdem er eine Weile so vor sich hin gespielt hatte, nahm er den Schaumlöffel und ließ ihn über seinen Kopf kreisen und schmetterte ihn dann mit Schwung über den Zahn in den dahinter stehenden Apfelbaum, sodass die unter ihm im Gras kratzenden Hühner mit empörten Gegacker davon stoben. Danach fühlte er sich bedeutend besser. Das Stück Seife steckte er in die Hosentasche. Er nahm sich vor, es bei nächster Gelegenheit vielleicht zu benutzen.

Zwischen Baum und Borke

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