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5 2001

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Mittwoch, 19. Dezember, 10.30 Uhr

Der Inspektor beschloss, das Ehepaar nicht zum Ausgang zu begleiten: Er hatte keine Zeit, den perfekten Gastgeber zu spielen. Falls sie nicht von selbst hinausfanden, würde sie jemand durch das Labyrinth aus geschmacklosen und stinkenden Teppichen lotsen, aus denen die Polizeiwache bestand. Als Señora Echegaray aufstand, erhoben sich die drei Männer augenblicklich ebenfalls von ihren Stühlen. Estrático wollte ihnen gerade mit einer galanten Geste bedeuten, dass er sie begleiten würde, aber Alzada machte ihm ein Zeichen, dazubleiben. Sie warteten, bis sie wieder allein waren.

»Okay. Nehmen wir einmal an – rein hypothetisch –, sie wäre …«, Alzada räusperte sich, »verschwunden. Wo könnte sie sein?«

»Señora Echegaray sagte, ihre Schwester habe aufgelegt, um an die Tür zu gehen. Das war gestern Abend gegen einundzwanzig Uhr«, sagte Estrático, den Blick auf seine Notizen geheftet. »Als sie heute Morgen zur Wohnung ihrer Schwester ging, war niemand mehr da. Das gibt ihr einen Vorsprung von … mittlerweile fünfzehn Stunden. Also, um Ihre Frage zu beantworten, Inspektor: überall. Sie könnte in Paris sein.«

»Und wir können sicher davon ausgehen, dass Señora Echegaray die Wohnung gründlich durchsucht hat.« Eine Frau wie sie hätte, ohne zu zögern, die Wohnung ihrer Schwester inspiziert, auch wenn es zweifellos eine ungewöhnliche Reaktion war: Die wenigsten Menschen trauten sich, den Schauplatz eines Verbrechens zu betreten. Dabei war die Angst vor dem, was sie dort antreffen könnten, nicht einmal ihre größte Sorge: Niemand machte sich darüber Gedanken. Die meisten Leute befürchteten, Fingerabdrücke zu hinterlassen, fälschlicherweise von der Polizei beschuldigt zu werden und in einer Justizvollzugsanstalt Urlaub auf Staatskosten zu machen. Die amerikanischen TV-Sendungen hatten seinen Job schwer in Verruf gebracht. »Wenn sie irgendetwas gefunden hätte, hätte sie es erwähnt. Bisher wissen wir also nur, dass ihre Schwester die Wohnung irgendwann zwischen gestern Abend und heute Morgen verlassen hat – aus freien Stücken oder nicht. Haben wir eine Adresse?«

»Castex 2640.« Ein eleganter und dabei diskreter Häuserblock. Gute Wahl für eine wohlhabende alleinstehende Frau in einer Stadt, in der einen das kleinste Anzeichen von Reichtum zur Zielscheibe macht.

»Und die Schwester?«

»Wohnt auch dort.«

»Gehört ihnen das ganze Haus?«, scherzte Alzada.

»Ihnen gehört der ganze Häuserblock, Inspektor. Der Großteil davon steht zu dieser Jahreszeit vermutlich leer. Jeder, der etwas auf sich hält, ist jetzt in Punta«, sagte Estrático in gekünsteltem Tonfall.

Punta, ja? Spar dir die Show, Estrático. Er hatte höchstwahrscheinlich selbst einige Sommer in Punta verbracht, vielleicht sogar einmal Rugby mit den Echegaray-Jungs gespielt. Unglaublich. Seit drei Wochen durfte niemand mehr als zweihundertfünfzig Peso pro Woche von seinem Girokonto abheben, und mit jedem Tag, der verging, bekam man für diese zweihundertfünfzig Peso weniger. Und gleichzeitig hatten ein paar Privilegierte nicht nur ihre Weihnachtseinkäufe zu Ende gebracht, sondern zudem die Bullenhitze in der Stadt gegen ein Strandparadies eingetauscht. Alzada hatten sich die Filmaufnahmen eines Reporters ins Gedächtnis eingebrannt: Er war von einer Gruppe triumphierender Hausfrauen beiseitegedrängt worden, die ihren lokalen Supermarkt geplündert und Reis, Mehl und Bohnen ergattert hatten. »¡Queremos comer!«, lautete ihr Schlachtruf. Wir wollen essen! Ein Verbrechen aus Verzweiflung.

»Ich will wissen, wie viele Eingänge das Haus hat. Und ob irgendjemand sie gesehen hat. Sie haben recht, was die Sommerflaute angeht, aber vielleicht ist der eine oder andere Nachbar noch in der Stadt? Außerdem haben die Gebäude in diesem Viertel bestimmt Sicherheitskameras. Und einen Portier. Mit ihm möchte ich sprechen.«

»Ich kümmere mich darum, Inspektor.« Estrático ging auf die Tür zu. »Und wegen der unbekannten Toten von heute Morgen …«

»Das kann warten«, sagte Alzada.

Estrático blieb stehen.

»Sie wirken überrascht.«

»Unternehmen wir denn gar nichts deswegen?« Vorsicht, Estrático.

»Zunächst einmal meinten Sie bestimmt ›ihretwegen‹, nicht wahr?« Alzada holte tief Luft. Er würde keinen Streit vom Zaun brechen; der Polizeipräsident würde ihn an den Daumen aufhängen. »Ein typischer Fehler, besonders für jemanden, dem es ganz offensichtlich an Erfahrung mangelt. Ich weiß, was Sie andeuten, und Sie werden von mir nie hören, dass manche Fälle wichtiger sind als andere. Aber Sie müssen bedenken, dass einige Familien auf den Punkt genau jede Stunde bei der Wache anrufen, um unsere Fortschritte zu überprüfen, und das sind meist diejenigen, die Freunde in hohen Positionen haben. Andere rufen gar nicht an, weil sie nicht einmal wissen, dass etwas nicht stimmt. Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, diese Sache aus dem Weg schaffen zu wollen.«

»Glauben Sie denn, es steckt mehr dahinter?«

Guter Schachzug. Estrático war eine Nervensäge. Das Einzige, was in Alzadas Augen für ihn sprach, war das aufrichtige Interesse an seinem Beruf.

»Ich hoffe nicht. Eine Frau wie diese …« Paula würde ihn für seine Wortwahl umbringen. Das Problem an Klischees ist nicht, dass sie nicht wahr sind, Joaquín, sondern dass sie nicht die ganze Wahrheit sind. Aber in seinem Arbeitsumfeld war die Wahrheit ein reines Rechenexempel. »Eine Frau wie diese zieht nachts um die Häuser, stört den Frieden, wird vielleicht wegen Drogenbesitzes belangt, was nach Zahlung einer Kaution ihrem diese Woche aktuellen Freund zugeschrieben wird. Vielleicht – vielleicht –, falls sie wirklich vom rechten Weg abkommt, muss sie abtreiben lassen. Sie mag spontan beschließen, in Urlaub zu fahren, und bricht auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Aber ohne der Schwester Bescheid zu geben, obwohl sie weiß, dass sie sich Sorgen macht? Das klingt für mich unwahrscheinlich. Haben Sie Geschwister, Estrático?«

»Nein, Inspektor«, sagte Estrático und wechselte sofort das Thema: »Als sie uns das Foto gezeigt hat, hatten Sie da nicht den Eindruck, sie schon einmal gesehen zu haben?« Da ist aber jemand gar nicht gut auf seine Familie zu sprechen.

»Estrático?«

»Ja, Inspektor?«

»Glauben Sie nicht, ich wüsste nicht, was Sie vorhaben.«

»Was meinen Sie, Inspektor?«

»Wie viele Menschen leben in Buenos Aires?«

»Drei Millionen?«, schätzte Estrático.

»Zwei Millionen achthunderttausend. Aber ja, etwa drei Millionen. Und wie viele davon sind Frauen zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig?«

»Zweihunderttausend?«

»Sehr beeindruckend! Ich bezeichne das mal als wohlinformierte Vermutung. Also, zweihunderttausend. Und wie viele von diesen zweihunderttausend Frauen sind dunkelhaarig und könnten als ›hübsch‹ bezeichnet werden?«

»Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen, Inspektor.«

»Das glaube ich nicht.«

»Ich wollte nur wissen –«

»Natürlich, Sie hatten überhaupt keine Hintergedanken. Ebenso wenig wie bei der Frage nach einem besonderen Merkmal, nicht wahr? Machen Sie ein bisschen mehr hiervon Gebrauch«, sagte Alzada und tippte sich an die Stirn, »bevor Sie eine haarsträubende Theorie aufstellen und sie womöglich jemandem verkünden, der zuhört. Eine Echegaray in einem Müllcontainer. Das hat uns gerade noch gefehlt. Nein. Nicht, bevor wir nicht einen Hinweis haben, den man zumindest halbwegs als gesichert bezeichnen kann.« Er ertappte sich dabei, wie er einen beliebten Ausspruch von Polizeipräsident Galante wiederholte: »Ich möchte, dass diese Angelegenheit mit äußerster Diskretion behandelt wird. Haben wir uns verstanden?«

»Ja, Inspektor«, sagte Estrático. »Ich dachte nur, es wäre perfekt, wenn es sich bei der Frau, die wir heute Morgen gesehen haben, um dieselbe handelt, nach der das Ehepaar sucht.«

»Perfekt? Perfekt?«, wiederholte Alzada im Crescendo. »Perfekt wäre ein Morgen, der nicht mit einer Frauenleiche im Müll beginnt. Im Müll! ›Perfekt‹ nennen Sie das!«

Estrático stand still, versteinert.

»Sie fahren jetzt zur Castex«, bellte Alzada. »Ich will Sie hier erst wieder sehen, wenn Sie den Portier ausfindig gemacht haben. Und wo Sie schon einmal da sind, werfen Sie auch einen Blick in die Wohnung. Befragen Sie die Nachbarn und so weiter.«

»Allein?« In der Stimme des Hilfsinspektors schwangen gleichermaßen Furcht und Stolz mit.

»Ja, Estrático, allein. Ich bin sicher, Sie schaffen das ohne mich: Es ist eine leere Wohnung. Und wenn Sie zurückkommen, möchte ich, dass Sie eine Bestandsaufnahme aller offenen Fälle unbekannter Frauenleichen in der Stadt machen – nein, im Großraum Buenos Aires –«

»Aber das sind eine Menge Fälle, Inspektor, und eigentlich müssen wir doch nur einen Tag zurückgehen …« Jemand muss diesen Jungspund mal auf seinen Platz verweisen.

»Das stimmt. Und doch kann man nie wissen. Sie werden sie einen nach dem anderen durchgehen, um sicherzustellen, dass es sich bei keiner von ihnen um Norma –«

»Echegaray«, half Estrático nach.

»Wie bitte?«

»Selbstverständlich, Inspektor.«

Geht doch.

»Und kümmern Sie sich um la Dolores, ja? Sie sollte längst wieder zu Hause sein.« Ein Gedanke durchzuckte Alzada. »Und sagen Sie ihr, sie soll ihrer ›Arbeit‹ heute einmal nicht nachgehen.«

1981

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