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1 2001

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Mittwoch, 19. Dezember, 8.30 Uhr

In jedem anderen Land wäre ein Krieg ausgebrochen.

Aber dies war nicht jedes andere Land. Dies war Argentinien. Polizeiinspektor Alzada schoss die Avenida Belgrano hinunter, den rechten Fuß aufs Gaspedal gedrückt, als ihm schummrig vor Augen wurde. Wann hatte er zum letzten Mal etwas gegessen? Oder richtig geschlafen? Du bist nicht mehr der junge Mann von früher, Joaquín, hörte er Paulas Stimme so deutlich, als säße sie auf dem Beifahrersitz. Er rückte seine Pilotensonnenbrille auf der Nase zurecht und seufzte.

Sie hatte recht. Er brauchte eine Pause. Erst letzte Woche war er freundlich in die Personalabteilung zitiert worden, wo man ihm die »Sachlage« erläutert hatte. Der Inspektor hatte sehr genau verstanden, was ihm der vielsagende Blick der geradezu provozierend höflichen Dame mit der Katzenaugenbrille sagen wollte. Trotzdem hatte er sie dazu gebracht, es laut auszusprechen: Er war zwar im pensionsberechtigten Alter, aber leider ließ die Pensionskasse der Polizei es momentan nicht zu, ihn in Rente zu schicken. Sein Traum, dem er jahrzehntelang entgegengefiebert hatte, würde warten müssen. »Bestimmt ist es bald so weit«, hatte die Dame ohne echte Überzeugung gesagt. Selbstverständlich könne er seinen Dienst jederzeit quittieren, hatte sie nachgesetzt, aber das würde sie ihm angesichts des derzeitigen politischen Klimas nicht empfehlen. Interessante Wortwahl, »politisches Klima« – Sturm der Entrüstung traf es wohl eher.

Alzada beugte sich vor und stützte sich aufs Lenkrad. Zu dieser Zeit im Sommer sollte der Himmel unverschämt lapislazuliblau leuchten; stattdessen umhüllte ein klebriger Staubschleier Buenos Aires und färbte die Luft gleichmäßig trüb grau. Definitiv kein normales Klima. Ein matt schimmernder Metalldeckel auf einem Dampfkochtopf. Am Horizont, vor den turbulenten Gewässern des Río de la Plata – dem Fluss von der Farbe eines Löwen, wie die Konquistadoren einst sagten –, standen alle Ampeln auf Grün. Alzada schaltete in den dritten Gang.

Er war mit dem falschen Fuß aufgestanden: Nachts hatte er sich im Bett hin und her gewälzt und dann verschlafen, was ihn genötigt hatte, in der knappen Zeit, die ihm noch blieb, eine schwerwiegende Entscheidung zu treffen: frühstücken oder duschen. Letztlich hatte er keins von beidem getan, sondern war direkt in ein kompliziertes Gespräch mit seiner Frau hineingeraten. Wo er schon so offensichtlich vom Pech verfolgt war, hatte er beschlossen, zumindest sein Lieblingshemd anzuziehen, das hellblaue mit dem weißen Kragen, doch selbst diese kleine Freude war ihm verwehrt geblieben: Das Hemd war nicht gebügelt. Stattdessen trug Alzada jetzt ein graues, ein Impulskauf, den er fast augenblicklich bereut hatte, und er hätte bei Gott schwören können – sofern der fromme Katholik in ihm es je gewagt hätte, etwas Derartiges zu tun –, dass das Hemd in dem sengenden Dunst glitzerte.

Und dann der Anruf des Gerichtsmediziners. Alzada hatte Dr. Petacchis Stimme sofort erkannt, als das Telefon früher am Tag geklingelt hatte – wie könnte er die Stimme dieses Mannes je vergessen. Er hatte sein Bestes gegeben, um einen Besuch im Leichenschauhaus zu vermeiden, und den Gerichtsmediziner gebeten, ihm die Details am Telefon zu erläutern. Dr. Petacchi hatte sich geräuspert. »Ich weiß nicht, Inspektor. Es ist besser, Sie machen sich selbst ein Bild.« Alzada hatte geschwiegen, woraufhin der Gerichtsmediziner nachgesetzt hatte: »Aber natürlich bin ich da, um Ihnen zu helfen. Wenn es Ihnen zu große Umstände bereitet, lasse ich Ihnen den Bericht auf die Wache schicken.«

Na schön.

Anstatt also in seinem Garten Kaffee zu trinken, befand er sich gerade auf dem Weg zu dem Ort, den er in Buenos Aires am wenigsten mochte. Gut, am zweitwenigsten.

Alzada bog links ab und bewunderte die breite Avenida 9 de Julio. Ein Schlachtfeld. Der letzte Rest von Normalität war von den Straßen gewaschen worden, die jetzt vor der nervösen Energie eines unausweichlichen Kampfes vibrierten. Menschen. Überall, wo er hinsah, Menschen. Man erkannte diejenigen, die so schnell wie möglich in eine der Seitenstraßen einscheren und entkommen wollten: Sie liefen dicht an den Gebäuden entlang, an den verschlossenen Fensterläden der Geschäfte vorbei, hinter denen sich leere Regale verbargen. Sie eilten voran, die Köpfe gesenkt.

Zusätzlich zu den ausdauernden wöchentlichen Protesten der Madres de Plaza de Mayo hatte es in der Stadt in letzter Zeit zahllose Demonstrationen gegeben: Buenos Aires’ Straßen waren unablässig von Wut erfüllt. Trotzdem war heute etwas eindeutig anders. Alzada konnte nur nicht sagen, was.

Er schaltete das Radio ein. Die Regierung hielt eine weitere Krisensitzung ab, um neue Sparmaßnahmen zu beschließen. Deshalb hat die Polizei einige Straßen für den Verkehr gesperrt. Sie rechnen mit einer Revolte. Alzada sah hinter dem Meer der Autos Menschenströme ineinanderfließen. Er wusste, dass jeglicher Versuch, die Massen aufzuhalten, zum Scheitern verurteilt war: Die Blockaden würden den zähen Mob nicht davon abhalten können, langsam, aber stetig bis zur Casa Rosada vorzudringen. Die Demonstranten setzten den Strategien der Beamten ihre eigene entgegen: Sie liefen in den Verkehr hinein, wo es schwieriger war, sie unter Kontrolle zu halten, und fast unmöglich, sie zu fassen zu kriegen – insbesondere diejenigen, die so schlau waren, kein Hemd zu tragen, an dem man sie packen könnte. Im Prinzip war es ein Häuserkampf: Die Demonstranten blockierten die Verkehrsadern der Stadt, nahmen den Polizisten den Platz zum Manövrieren und machten somit deren Vorteil zunichte. Kein Zufall, sondern Absicht.

Alzada kratzte sich an der spärlichen Gesichtsbehaarung, die er zu einem Bart zu verweben versuchte. An welchem Punkt war eine Tragödie unausweichlich geworden? Er setzte seine Brille ab und drückte zwei Finger gegen den Nasenrücken. Nicht einmal die Sirene hilft mir hier raus. Er würde zu spät kommen.

Warum war es nicht zu einer Revolution gekommen? Seit Präsident Fernando de la Rúa beschlossen hatte, die Wirtschaft souverän Richtung Abgrund zu steuern, hatten die Argentinier seinen ganz speziellen Stil der Inkompetenz in mehreren qualvollen Stadien durchlitten: Zunächst war ihnen der Zugriff auf ihre Sparkonten verwehrt worden; dann hatten sie mit ansehen müssen, wie die ungezügelte Inflation das Leben beinahe über Nacht um ein Vielfaches teurer gemacht hatte; jetzt mussten sie damit leben, dass sie immer weniger Geld von ihrem Girokonto abheben durften – in einem Land, in dem man fast ausschließlich mit Bargeld bezahlte. Und bei alldem hatten die Menschen eine stoische Gelassenheit an den Tag gelegt. In Lebensmittelgeschäften und an Tankstellen war es zwar zu Plünderungen gekommen, aber es waren Einzelfälle – zurückhaltend verstreut in den ärmeren Provinzen, weit weg von der Hauptstadt. Als sie in den Abendnachrichten die Bilder gesehen hatten, hatte Paula verkündet: »Gott legt eine Schlinge um unseren Hals, aber er zieht sie nicht ganz zu.« Doch wie hatten sie es überlebt, wo man ihnen über so lange Zeit schon die Luft zum Atmen geraubt hatte? »Wir haben Schlimmeres gesehen« war ein häufig geäußerter Trostspruch, dessen Ursprung sicherlich die kollektive Erinnerung an mehrere aufeinanderfolgende Militärputsche war. Ist das der Grund dafür, dass die Leute nicht aufbegehren? Weil sie dem Militär keinen Vorwand liefern wollen, erneut die Macht an sich zu reißen?

Alzada hielt an einer roten Ampel. Es bestand kein wirklicher Grund zur Eile: Der Leichnam war bereits erkaltet. Dem Inspektor fielen zwei Jungen auf, die an der Ampel standen, direkt links von seinem Auto, und als Einzige nicht die Straße überquerten. Der Ältere der beiden war mitten im Teenageralter, der Jüngere war seinen Babyspeck noch nicht ganz losgeworden – ungefähr acht? Sie ähnelten sich wie ein Ei dem anderen. Brüder. Träumer in Maradona-T-Shirts. Alzada kannte diese Art von Jungen: Sie glaubten, vor ihnen habe noch nie jemand versucht, die Welt zu verändern. Sie glaubten, Entrüstung sei ihre Erfindung, sie glaubten, sie wären zum Kampf bereit. Sie glauben, sie könnten ihn gewinnen. Sie waren belogen worden – von grauhaarigen, seriös wirkenden Männern, die predigten, wie die Dinge sein könnten, Männer, die sich in ihren Ledersesseln zurücklehnten und blauäugige Jungen die Drecksarbeit machen ließen. Hungrige Jungen, die mit Reis, Brot und Bohnen entlohnt wurden – und gelegentlich mit Schokolade und Zigaretten. Die Jüngeren unter ihnen standen besonders hoch im Kurs: Ihr Strafregister war noch unbefleckt, und, was noch wichtiger war, sie schnüffelten noch keinen Klebstoff, deshalb galt ihre Loyalität ausschließlich dem Höchstbietenden. Ihnen fielen Botendienste unterschiedlicher Bedeutsamkeit zu, im Dienst der Sache – welcher verfluchten Sache –, vom Nachrichtenüberbringen bis zum Waffenverteilen. Zunächst wurde ihr Potenzial auf die Probe gestellt – ein Initiationsritual an einer Straßenkreuzung: Sie sollten die Ohren offen halten, über alle ungewöhnlichen Vorkommnisse berichten. Und an Tagen wie diesen hatten sie eine konkretere Mission: herauszufinden, welche Straßen verbarrikadiert waren und von wem, wie viele Polizisten im Einsatz waren.

Die beiden sind eindeutig Anfänger. Sie hatten noch nicht gelernt, wie man beobachtet, ohne zu beobachten, und schenkten einer Polizeieinheit, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite einem Mannschaftswagen entstieg, definitiv zu viel Beachtung. Der Inspektor sah, wie der Ältere der beiden die Lippen bewegte – er zählte die Polizisten. Zehn. Es sind zehn. Alzada musste sich beherrschen, nicht laut zu schreien. Im Laufe seines Lebens hatte er eine Menge Dinge gezählt: seine Auseinandersetzungen mit Paula; die Dollar, die ihnen bis zum Monatsende blieben; die Toten, die er im Leichenschauhaus – und auf der Straße – gesehen hatte; die Tage, dann Wochen, dann Monate und schließlich Jahre, die sein Neffe ohne seinen Vater aufwuchs. Im Gegensatz zu anderen Argentiniern hatte er nie Polizisten zählen müssen. Das sagte mehr über ihn aus, als sich Alzada eingestehen mochte.

Er wandte den Blick nach rechts. Der Mannschaftswagen der Polizei, der an der Ecke parkte, bot Platz für insgesamt vierundzwanzig blutrünstige Bestien, wenn man sechs in jede Sitzreihe pferchte. Doch wenn man den aktuellen Nachrichten des Radio Nacional glauben durfte, rotteten sich zeitgleich in mehreren Teilen der Stadt große Gruppen von Demonstranten zusammen, was bedeutete, dass die Polizeieinheiten aus weniger Einsatzkräften bestehen würden, weniger, als jedem Polizeipräsidenten lieb war. Die Mindestanzahl lag bei zehn Männern, also waren es zehn.

Bei der Bereitschaftspolizei machte es ohnehin keinen Unterschied, zu wissen, wie viele es waren, wenn sie erst einmal ihre Viking-Visiere herunterklappten und »Angriff!« brüllten. Nicht einmal die goldenen Boca-Juniors-Streifen auf ihrer Brust würden die Jungen schützen.

Alzada kurbelte das Fenster herunter. Es klemmte. Er kämpfte mit dem Griff und schraubte es schließlich bis zur Hälfte hinunter.

»¡Hijo!« Er bedeutete dem älteren der Jungen, sich dem Auto zu nähern.

Der Teenager rührte sich nicht vom Fleck. Kluger Junge.

»¡Hijo!«, rief er noch einmal.

Der Junge wandte Alzada nur den Kopf zu. Er musterte den Polizeiinspektor, als wollte er sich sein Gesicht einprägen, das gleiche rebellische Funkeln in den Augen wie Jorge, wann immer man ihn herausgefordert hatte. Jeder Versuch, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, wäre zum Scheitern verurteilt.

»Warum bringst du deinen Bruder nicht nach Hause?«

Der Jüngere aß ein Eis. Ein Luxus in diesen Zeiten. Diese Straßenecke scheint für sie von strategischer Bedeutung zu sein. Alzada nahm die Kreuzung in Augenschein. Tatsächlich ermöglichte ihnen die außergewöhnlich lange Ampelphase, ihre Truppen in Stellung zu bringen und sich unbemerkt unter die Menschenmenge zu mischen. Bauern in einem menschlichen Schachspiel.

Ohne mit der Wimper zu zucken, sagte der ältere Junge: »Verpiss dich, Alter.«

Auch eine Art, um jemandes ungeteilte Aufmerksamkeit zu erlangen. Alzadas hatte er jetzt jedenfalls. Er war um die sechzehn, sein durchdringender, angriffslustiger Blick passte nicht zu seiner schlaksigen Statur, wegen der ihn seine Altersgenossen zweifellos verspottet hatten. Er sollte in der Schule sein. Daran erkennst du, dass du alt wirst: Revolutionäre machen dich rührselig. Um seine schmächtige Gestalt wettzumachen, plusterte der Junge seinen Brustkorb auf wie eine Taube. Sein linker Arm lag auf der Schulter seines Bruders – zwei Otter, die sich aneinanderklammerten, damit das Hochwasser sie nicht auseinanderriss. Sein rechter Arm hing schlaff herunter, die weiße Hand umklammerte rachedurstig einen Pflasterstein. So lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut, dachte Alzada und schmunzelte.

Moment mal – ein Pflasterstein? Offenbar eine Ablenkung von … Da ist sie. Eine nicht besonders gut getarnte Ausbeulung am Bund seiner lässig weiten Jeans. Du musst sie hinten reinstecken, boludo. Wahrscheinlich hatte er das in einem Film gesehen. Deshalb rührst du dich nicht vom Fleck: Du hast Angst, dass sie rausrutscht.

Vor zwanzig Jahren hätte Alzada nicht gezögert. Er wäre aus dem Wagen gestiegen, hätte selbstgefällig den Schlüssel in der Zündung stecken lassen, dem Jungen am Laternenpfahl den Kopf aufgeschlagen, die Pistole konfisziert und wäre weitergefahren. Das Eis wäre auf dem Straßenpflaster zerronnen.

Die Ampel sprang auf Grün.

1981

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