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2 2001

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Mittwoch, 19. Dezember, 9.05 Uhr

»Wenn das nicht der berühmte Polizeiinspektor Alzada ist!«, rief der Gerichtsmediziner mit der hochtrabendenden Gestik eines Zirkusdirektors. Doch statt eines scharlachroten Fracks mit Goldknöpfen trug er einen weißen Laborkittel mit verschlissenen Ärmeln und dem gestickten Schriftzug »Dr. E. M. Petacchi« auf der Brusttasche. Vermutlich das Werk seiner Mutter. Darunter einen Anzug und eine schwarze Krawatte.

Alzada schüttelte Petacchi die Hand und begann, an ihm vorbei die Stufen hochzugehen, doch Petacchi hielt ihn an der Schulter fest, überraschte den Inspektor mit seiner Energie und mit der Herzlichkeit, die von ihm ausging. Alzada setzte die Sonnenbrille ab und lächelte.

»Was machen Sie denn hier?«, fragte Petacchi.

»Ich versuche, das nicht als Beleidigung aufzufassen, Elías«, sagte Alzada. Er stieg die Stufen wieder hinunter und blieb auf einer Höhe mit Petacchi auf dem Gehweg stehen, der durch schlechte Stadtplanung und übermäßigen Fußgängerverkehr mittlerweile absurd voll war. »Und waren Sie nicht derjenige, der mich angerufen hat?«

»Ich muss sagen, ich war auch überrascht, als ich auf der Wache anrief und man mir sagte, ich solle mich bei Ihnen melden. Ihr letzter Besuch im Leichenschauhaus liegt eine Weile zurück, oder?«

»Ja, ich war nicht mehr hier, seit ich zum Diebstahl versetzt worden bin.«

»Wie lange ist das jetzt her … zwanzig Jahre?«

Alzada ließ sich mit der Antwort einen Moment Zeit. Als wüsste ich das Datum nicht auf den Tag genau. »So um den Dreh. Aber wie es aussieht, ist heute jede Hand gefragt. Man stelle sich das vor: Erst eine Revolution lockt mich vom Schreibtisch weg. Und wie sieht es bei Ihnen aus? Viel zu tun im Moment?«

»Die Ruhe vor dem Sturm. Das wird sich ändern, sobald die Nacht hereinbricht …«

Alzada räusperte sich. Selbst Small Talk ist mit diesem Mann etwas Düsteres.

Das flappende Geräusch von Rotorblättern ließ den Inspektor aufblicken. Das alte Gebäude der medizinischen Fakultät. Trotz seiner beachtlichen Höhe mangelte es ihm an Erhabenheit: Jemand hatte beschlossen, italienischen Renaissancestil mit den nüchternen, klar umrissenen Formen des deutschen Neoklassizismus zu kombinieren. Das Ergebnis wirkte wie ein armer Verwandter der Haussmann’schen Architektur. Es könnte problemlos in einer Pariser Seitenstraße stehen. Im Gegensatz zu dem blühenden Jakarandabaum neben dem Eingang.

»Wie geht es Ihrem Neffen, Inspektor?«

»Sorolla?« Ihn überraschte, dass sich jemand nach seiner Familie erkundigte. »Gut, gut«, sagte er zerstreut.

»Er spielt Schach, oder? Hat er Sie schon geschlagen?«

Alzada musterte Petacchi argwöhnisch. Harmlos. Der Inspektor entspannte die Schultern. »Davon träumt er.«

Worauf warteten sie eigentlich? Je früher sie die Sache hinter sich brachten, desto besser.

Wie aufs Stichwort bog in diesem Moment Hilfsinspektor Estrático um die Ecke und beantwortete damit seine Frage. Mit beschwingtem Schritt kam er auf sie zu. Großartig. Natürlich haben sie ihn ebenfalls hierherbeordert. Was grinst der so blöd? Polizeipräsident Galante glaubte offenbar, dass er nicht einmal einen einfachen Besuch im Leichenschauhaus allein bewältigen konnte. Mag sein, dass ich aufsässig bin, aber ich bin immer noch ein verdammt guter Polizist.

»Guten Morgen. Ich bin Orestes Estrático«, stellte er sich vor und streckte dem Gerichtsmediziner beflissen die Hand entgegen, der sie herzlich schüttelte. Du musst deinen Dienstrang nennen, wenn du dich vorstellst.

»Morgen«, war die einzige Reaktion, die er Alzada entlockte.

»Gut. Wir sind alle da. Sie wissen ja, wo es langgeht«, sagte Petacchi ermutigend. »Ich möchte Ihnen eine Sache zeigen.«

»Eine Person, Elías. Eine Person.«

»Natürlich. Das meinte ich ja.«

Im Flur Fliesen vom Boden bis zur Decke. Wer auch immer mit dem Entwurf des Gebäudes beauftragt worden war, hatte dabei vergessen, dass auch Zivilisten das Leichenschauhaus betraten. Es sah aus wie in einer Tierklinik und roch chemisch-sauber. Heißes Wasser und Bleichmittel. Der Geruch legte sich auf ihren Gaumen, während sie dem Klacken von Petacchis Schuhsohlen über den schummrig beleuchteten Korridor folgten. Sie bogen nach links ab, dann nach rechts und wieder rechts. Mehrere Minuten schienen zu verstreichen. Wenn sie noch länger von diesem Gestank umhüllt wurden, würden sie nie wieder etwas anderes riechen, dachte Alzada.

Steaks auf dem Grill. Eine reife Melone. Paulas Nacken.

Petacchi stieß zwei Schwingtüren mit Bullaugen auf, und sie betraten das Reich des Gerichtsmediziners.

»Treten Sie näher, Inspektor. Sie wollen sich sicher nicht die Details entgehen lassen«, forderte er ihn auf. Seine Stimme hallte in dem Meer aus Kacheln wider. Petacchi war ganz in seinem Element, amüsierte sich beinahe. Er war um die fünfundvierzig, hatte tiefschwarzes Haar und gelte es mit unnötig viel Pomade. Seine Augen glichen denen eines neugierigen Vogels, nie blieb sein Blick länger als einige Sekunden an einem Gegenstand oder einer Person hängen. Und wenn doch, dann blinzelte er hinter seiner dicken Hornbrille hervor, den Kopf zur Seite geneigt. Seltsam, wie dieser Mann aufzublühen scheint, sobald wir die Kathedrale des Todes betreten.

Der bloße Gedanke an das, was er zu sehen bekommen würde, drehte Inspektor Alzada den Magen um. Er hielt Ausschau nach einem Eimer. Kacheln, Kacheln, Kacheln, noch mehr Kacheln, und im Zentrum, wie ein glänzender Thron, ein Opferaltar – der in Flutlicht getauchte Arbeitstisch von der Größe eines Doppelbetts. Daneben ein Metallwagen, auf dem der Gerichtsmediziner gewissenhaft die Instrumente aufgereiht hatte, die er für seine Tätigkeit benötigte; Alzada erkannte flüchtig eine Schere, ein Spekulum, einen Meißel, eine Klammer, einen makabren Zirkel, mehrere Skalpelle und eine Nadel, deren makellose Präsenz darauf hindeutete, dass Petacchi entweder genug Zeit und den Anstand besessen hatte, eine Wunde der toten Person zu vernähen und die Nadel danach zu säubern, oder es gleich tun würde, was bedeutete, dass der Leichnam vor ihnen eine große klaffende Wunde aufwies. Irgendwo.

In der Ecke entdeckte Alzada einen Metalleimer. Der würde ausreichen. Der würde ausreichen müssen. Sein Blick wanderte zurück zum Tisch. Der Leichnam darauf war mit einem weißen Tuch bedeckt. Dein Leben muss ab irgendeinem Punkt schrecklich schiefgelaufen sein, wenn man dich in einem Müllcontainer hinter dem städtischen Leichenschauhaus entsorgt hat. Er versuchte, nicht darüber zu urteilen – erfolglos. Petacchi zog das Laken zurück, legte es sorgsam über dem Oberkörper zusammen und enthüllte den Kopf und die schmalen Schlüsselbeine des Opfers. Alzada wurde augenblicklich schlecht.

»Ein echter Hingucker, wie Sie sehen«, war der erste Kommentar des Gerichtsmediziners. Was zum Teufel stimmt nicht mit dir?

Alzada griff nach dem seidenen Tuch in seiner Tasche. Jetzt war er froh, dass ihm heute keine Zeit für sein übliches Frühstück geblieben war: ein Croissant mit dulce de leche. Das Ergebnis hätte wie der Eintopf ausgesehen, den er damals in der Schulmensa hatte essen müssen – mit Bröckchen darin –, wie die Eintöpfe, die Paquita ihm vor fünfzig Jahren liebevoll auf den Teller geschöpft hatte. Glücklicherweise wäre es heute nur Galle.

Petacchis schroffe Stimme holte ihn zurück in die Gegenwart. Er trug seine Schlussfolgerungen mit der eifrigen Inbrunst eines Kindes vor, das seine lateinischen Verbkonjugationen aufsagt. »Eine weibliche Person. Weiß. Ende zwanzig bis Anfang dreißig. 1,65 Meter. Achtundfünfzig Kilogramm. Keine Ausweispapiere oder persönlichen Gegenstände.« Nicht einmal Kleider? Der Gerichtsmediziner wechselte in einen ungezwungeneren Tonfall: »Wie ich Ihnen schon am Telefon erzählt habe, wurde sie heute Morgen gefunden, Inspektor.«

»Wie genau hat man sie denn gefunden?«, fragte Estrático. Er trug einen zerknitterten billigen Anzug, den einzigen, den er zu besitzen schien, über einem zerknautschten Hemd. Er hatte sich sichtlich bemüht, seine Haare mit Gel zu bändigen, doch bereits zu diesem morgendlichen Zeitpunkt waren seine widerspenstigen blonden Locken entkommen und umrahmten sein Gesicht – durchaus attraktiv, wie Alzada zugeben musste.

»Seltsam, dass Sie das fragen, denn …«

»Elías.« Inspektor Alzada spekulierte nicht gern über die Lebenden und schon gar nicht über die Verstorbenen. Er hielt es für eine ausgesprochen verwerfliche Angewohnheit. Seine Stimme dröhnte ungewollt laut durch den Autopsiesaal: »Hat Ihr Kommentar bezüglich der Bergung dieser unglücklichen Seele irgendeine Bedeutung für diesen Fall?«

»Nein, aber … Es ist so ungewöhnlich. Es ist in meiner beruflichen Laufbahn das erste Mal, dass mir ein Müllcontainer als Fundort unterkommt …« Wir haben schon Schlimmeres gesehen. »Und noch dazu direkt beim Leichenschauhaus …« Petacchi kam in Schwung: »Also, wenn Sie mich fragen …«

»Besser nicht«, sagte Alzada beherrschter als zuvor. »Ich bin der Polizeiinspektor. Sie sind der Gerichtsmediziner. Wir sind beide recht gut in dem, was wir tun, meinen Sie nicht auch?« Petacchi nickte pflichtbewusst. »Und als Polizeiinspektor würde ich empfehlen, sich nicht in Spekulationen und Verschwörungstheorien zu ergehen. Zumindest noch nicht. Und jetzt berichten Sie uns bitte, was Sie entdeckt haben.«

Petacchi räusperte sich und wandte sich wieder seinen Notizen zu: »Das Opfer weist vielfache Spuren von Gewalteinwirkung auf. Gebrochenes Nasenbein. Hämatome im Gesicht, am Hals, an den Armen, am Oberkörper. Mehrere gebrochene Rippen auf beiden Seiten. Linker Knöchel verdreht. Keine Anzeichen für sexuelle Gewalt.«

»Was verrät uns das über die Angreifer, Estrático?«, wandte sich Alzada an den Hilfsinspektor, der wie gebannt war. »Machen Sie sich Notizen, oder muss ich das auch noch tun?«

»Bin schon dabei, Inspektor.« Estrático kramte einen Notizblock aus der Tasche seines Jacketts hervor. »Und um Ihre Frage zu beantworten: Die Angreifer hatten es eilig?«

»Aber nein.« Der Polizeiinspektor wischte den Vorschlag mit einer Handbewegung beiseite. »Es wird eine ganze Weile gedauert haben, all das anzurichten. Meinen Sie nicht auch, Elías?«

Der Gerichtsmediziner nickte wieder.

»Nein. Wir können aus Dr. Petacchis Bericht schließen, dass ein gewisser Widerspruch vorliegt. Auf der einen Seite haben wir Beweise dafür, dass die Täter die deutliche Absicht hatten, sie zu töten, aber gleichzeitig haben sie, auf irgendeine beschissen-verquere Weise – Verzeihung, Elías –, beschlossen, sie mit einem gewissen Respekt zu behandeln. Warum sollten sie das tun?« Anweisungen. Sie haben Anweisungen befolgt.

Estrático notierte fieberhaft.

»Zweifellos eine Menge Gewalt, um sie einer einzelnen Person zuzufügen.« Zum ersten Mal betrachtete Alzada die Frau. Und noch dazu einer so zierlichen. Sie sah entspannt aus, wie sie dort lag, sorgenfrei. Sie hatte ein sehr blasses, sehr sanftes Gesicht. Sie musste hübsch gewesen sein. Sie muss sich nach Leibeskräften gewehrt haben.

»Außerdem weist sie mehrere Prellungen auf, vermutlich alle post mortem«, fuhr Petacchi fort.

»Post mortem? Jemand hat sie geschlagen, nachdem sie bereits tot war?«, fragte Estrático.

»Nein, nein.« Der Gerichtsmediziner schüttelte vehement den Kopf. »Das nicht. Wahrscheinlich rühren sie daher, dass sie in den Müllcontainer geworfen wurde. Als sie bereits tot war.«

»Woran erkennen Sie das?«, fragte Estrático. Estrático wirkte, als wäre er zum ersten Mal in einem Leichenschauhaus: ein Streber im Naturkundemuseum. Wenn du mir schon einen Babysitter aufdrückst, dann such zumindest jemanden aus, der eine echte Hilfe darstellt.

Bevor Petacchi zu einer Erklärung anhob, wartete er auf einen zustimmenden Blick von Alzada. Meinetwegen, erklären wir es ihm.

»Solange ein Mensch lebt, fließt kontinuierlich Blut durch seinen Körper. Das ist offensichtlich. Also: Wir sprechen hier von zwei verschiedenen Arten von Traumata. Auf der einen Seite gibt es die offenen Wunden: Schnitte oder Stiche von unterschiedlicher Größe – Schnittwunden im Prinzip. Ist ein Schnitt so tief, dass er bis in das Gewebe unter der Haut eindringt, blutet die Person. Nach außen. Und dann gibt es das ›stumpfe Trauma‹ – sagen wir, es entsteht, ›wenn man ein Säugetier mit einem stumpfen Gegenstand schlägt‹: Dabei werden die Gefäße verletzt, aber das Blut tritt nicht aus dem Körper aus. Durch die innere Blutung entstehen die Prellungen. An einigen Stellen habe ich zudem Verletzungen der Haut entdeckt – an den Oberschenkeln, den Ellenbogen und am unteren Rücken –, wo kein Blut ausgetreten ist. Das zeigt mir – uns –, dass zum Zeitpunkt ihrer Entstehung kein Blut mehr im Körper zirkulierte. Demnach war sie bereits tot. Das Vorhandensein der Läsionen verrät uns, dass sie äußerst grob behandelt wurde – und zwar sowohl vor ihrem Tod als auch danach.«

»Verstehe.« Alzada schluckte. »Also, um es zusammenzufassen: Erst wird sie ermordet. An irgendeinem ruhigen Ort, wo sich die Mörder Zeit lassen, gründlich vorgehen können. Aber dann werfen sie sie achtlos in einen Müllcontainer, was nahelegt, dass sie es plötzlich eilig hatten.«

»Zwei verschiedene Tätergruppen?«, schlug Estrático vor. Im Ernst? So blöd kann er doch nicht sein. Ruhig Blut, Joaquín.

»Auf mich macht es eher den Eindruck, als wäre etwas Unvorhergesehenes passiert. Etwas, das sie gezwungen hat, ihre Pläne zu ändern und sich der Frau so schnell wie möglich zu entledigen. Der Müllcontainer war als Ablageort nicht vorgesehen: Sie haben den erstbesten Platz genommen, den sie finden konnten.« Alzada sah sich im Raum um. Ein Verlies, von der Außenwelt hermetisch abgeriegelt. So still wie in einem Aquarium. Doch auf den Straßen braute sich ein Sturm zusammen. »Sie dachten, hier wären sie unbeobachtet. In diesem Viertel stehen hauptsächlich Regierungsgebäude.«

»Wenn ich hier rauskomme, bin ich oft der Einzige auf der Straße«, bestätigte Petacchi.

»Sehen Sie?«, wandte sich Alzada an Estrático. »Die Täter sind gar nicht auf die Idee gekommen, dass die Demonstranten über Nacht die Stellung halten könnten. Nicht einmal die Regierung hat das vorausgesehen. Also haben sie ihr Vorhaben in die Tat umgesetzt. Professionell. Methodisch. Damit wäre der erste Teil erklärt. Und plötzlich gibt es Beobachter. Sie werden nervös. Planänderung. Sie sehen den Müllcontainer. Werfen sie hinein. Wie lange ist sie schon …?«

»Mal sehen«, sagte Petacchi und warf einen Blick auf seine Uhr. »Jetzt ist es 9.20 Uhr. Die Totenflecken sind noch nicht vollständig ausgeprägt, aber der Körper ist schon auf Raumtemperatur runtergekühlt.« Alzada würgte. »Irgendwann vor Mitternacht, würde ich sagen. Auf jeden Fall nach dem Abendessen –« Bitte keine weiteren Details.

»Todesursache?«, kam Alzada weiteren Ausführungen zuvor. Er würde seinen Brechreiz nicht länger unterdrücken können, wenn sie dieses Thema vertieften. Und er würde sich ganz sicher nicht vor diesem Grünschnabel übergeben. Er bedeutete Petacchi, den Leichnam zuzudecken.

»Eine perforierende Verletzung am Hinterhauptbein.«

»Übersetzen Sie«, sagte Alzada und deutete auf Estrático, der von seinen Notizen aufsah.

»Nicht nötig. Ich weiß, was das bedeutet«, sagte der Hilfsinspektor. »Ein Kopfschuss, richtig?«

»Eine Nahschussverletzung«, präzisierte Petacchi leicht gereizt. Trotzdem setzte er nach: »Sie wurde in den Hinterkopf geschossen.« Eindeutig ein Auftragsmord.

»Nur ein Mal?«, fragte Estrático.

»Insgesamt drei Mal. Noch dazu aus nächster Nähe, Entfernung maximal zwanzig Zentimeter. Aber wir sprechen nur von einer Verletzung, weil sie von dem zweiten und dritten Schuss wohl nichts mehr mitbekam.«

»Ein Auftragsmord?«, mutmaßte Estrático.

»Möglich …«, antwortete Petacchi zurückhaltend.

»Ich habe die Kugeln extrahiert. Alle drei aus derselben Waffe. Neun Millimeter. Standard.«

»Na wunderbar«, seufzte Estrático, »damit ist die halbe Stadt verdächtig.«

»Nun, man kann es zumindest eingrenzen – der Auftraggeber muss sie gekannt haben«, murmelte Petacchi.

»Was meinen Sie, Elías?«, fragte Alzada interessiert.

»Wir können ziemlich sicher davon ausgehen, dass es kein Unfall war: kein fehlgeschlagener Raubüberfall, keine Halbstarken, die mit einer Pistole herumgespielt haben. Jemand wollte sie um jeden Preis töten. Ich habe selbstverständlich Gewebeproben entnommen, aber ich tippe darauf, dass die Täter es nicht eilig hatten, so wie Sie vermuten«, sagte Petacchi. »Im Gegenteil: Wenn man sich so große Mühe gibt, nimmt man sich die Zeit, alle Spuren zu beseitigen. Daher gehe ich davon aus, dass die Obduktion zu keinem Ergebnis führen wird und wir auch am Müllcontainer nichts finden werden. Sie hat allerdings ein Erkennungsmerkmal …«

»Ein Erkennungsmerkmal?«, fragte Estrático.

»Oder besser gesagt, zwei: Tätowierungen. Zwei identische Schwalben, auf jeder Hüfte eine, die nach innen zeigen. Schwarze Tinte. Leicht verblichen, etwa vier Jahre alt. Vielleicht hilft das, sie zu identifizieren?«

»Warum ist der Kopf intakt?«, platzte Estrático heraus.

Alzada wand sich. Aber er hat recht. Von den Einschüssen war nichts zu sehen, und auch nicht von Petacchis nachträglichem Eingriff, um die Kugeln zu entfernen. Hat er den Zirkel dafür verwendet?

Der Gerichtsmediziner sah Alzada an und lächelte. »Da ist aber jemand wissbegierig, Inspektor …«

»Was soll ich sagen, Elías«, entgegnete er gespielt resigniert, »die Jugend von heute.«

Alzada sah, wie Estráticos Blick während ihres freundlichen Geplänkels vom einen zum anderen schoss. Du wunderst dich, dass wir uns so gut kennen, stimmt’s? »Wir kennen uns aus einem früheren Leben«, war die einzige Erklärung, die beide je dazu abgaben. Als hätten sie sich darauf geeinigt. Niemand wagte es, weiter nachzufragen. Näher darauf einzugehen wäre für Alzada schmerzhaft gewesen und für den Gerichtsmediziner beschämend, wie er annahm.

Trotzdem entging Alzada nicht, dass ihr Schweigen erst recht weitere Fragen aufwarf, besonders bei jüngeren Leuten. Aber natürlich hatte auch er sich vor langer Zeit gefragt, wie die Welt vor seiner Zeit ausgesehen haben mochte. Nicht die altertümliche Welt, angefüllt mit den Artefakten der Höhlenmenschen bis zu denen der Konquistadoren – ironischerweise war diese Welt leichter zu verstehen: Sie hatte ein zeremonielles Begräbnis erfahren und ruhte im geschlossenen Sarg der Geschichtsbücher. Nein, den Leuten fiel es schwerer, sich eine Version der Vergangenheit auszumalen, die ihnen näher war, eine Vergangenheit, in der Alzada und Petacchi jung gewesen waren, sich kennengelernt und irgendwie angefreundet hatten. Das war für sie kaum zu erfassen. Das war ihnen unbehaglicher. Weil die Vergangenheit in denen weiterlebte, die noch zugegen waren. Weil sie bedrohlich in die Gegenwart hineinsickerte.

»Also, im Gegensatz zu dem, was man im Kino sieht, was, nebenbei bemerkt, sowieso meist Unfug ist« – der Gerichtsmediziner schüttelte missbilligend den Kopf –, »wird der Kopf nicht immer von einem Schuss ›weggeblasen‹, um einen Ausdruck zu verwenden, der Ihnen geläufig sein dürfte. Es hängt weitgehend von der Projektilbreite ab, vom Abstand zur Zielperson, vom Eintrittswinkel und so weiter.« Überraschend sanft nahm Petacchi den Kopf der Frau in beide Hände, drehte ihn ein Stück zur Seite und offenbarte eine saubere Wunde, nicht größer als ein Hemdsknopf. »Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Kugel das Gewebe durchdringt und selbst den Knochen, ohne großen Schaden an der Struktur zu verursachen.« Mit demselben Fingerspitzengefühl brachte er den Kopf wieder in seine Ausgangsposition zurück.

»Danke, Elías. Tadellose Arbeit.« Akribisch wie immer.

»Keine Ursache. Ich rufe Sie an, sobald mir der toxikologische Bericht vorliegt, und schicke Ihnen alle Fotos und die Analyse der Fingerabdrücke vom Müllcontainer für Ihre Unterlagen zu.«

Inspektor Alzada schüttelte ihm die Hand und eilte nach draußen. Er hörte kaum noch, wie Petacchi ihm nachrief: »Einen schönen Tag noch, Inspektor.«

Hinter ihm versuchte Estrático, mit ihm Schritt zu halten. Hier auf der Straße war es ruhig, aber sie hörten das Lärmen einer Menschenmenge, das ein paar Straßen weiter anschwoll. Nach Westen. Zur Casa Rosada. Wie sollte irgendjemand dieses Land ernst nehmen, wenn das Regierungsgebäude »das Rosa Haus« hieß?

»Estrático.«

»Ja, Inspektor.«

Alzada hörte die Anspannung in der Stimme des Hilfsinspektors, drehte sich aber nicht um. »Ich muss mich um ein paar Dinge kümmern.« Als Erstes um Kaffee. Es ist ja nicht so, als stünde dieser Fall auf unserer Prioritätenliste ganz oben. »Schaffen Sie es allein zur Wache?«

»Natürlich, Inspektor.«

Estrático verschwand auf die gleiche verstohlene Art, wie er zuvor aufgetaucht war. Alzada sah sich suchend nach einem Café um. Mist! Seine neuen Schuhe in einer dunklen Pfütze. Bitte kein Regen. Wobei – wäre Schmutzwasser doch nur sein größtes Problem.

1981

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