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Freitag, 4. Dezember, 17.30 Uhr

Sie hatten so viel Wein getrunken, dass es Nachmittag geworden war, ohne dass sie zu Mittag gegessen hatten.

Der Grill stand am Rand von Jorges Terrasse, gegenüber einem kleinen Gartentisch aus Holz, an dem Joaquín, Paula und Adela bequem saßen, Bier und Oliven in Reichweite, und darauf warteten, dass die parrilla die perfekte Temperatur erreichte, um das Fleisch aufzulegen. Grillmeister Jorge trug eine Schürze im Flamenco-Stil und drehte die Steaks schwungvoll von einer Seite auf die andere.

»Seht ihr?« Er stützte eine Hand auf die linke Hüfte, schwenkte mit der anderen nachdrücklich die Grillzange, Fettspritzer landeten auf den Fliesen der Terrasse. »So schlecht ist die Diktatur gar nicht.«

Joaquín hatte Paula auf dem Weg hierher versprochen, keine Szene zu machen und auch kein Thema anzuschneiden, das der Stimmung einen Dämpfer versetzen könnte – es war Freitag, der Sommer stand vor der Tür, und sie hatten sich eine Weile nicht gesehen; aber wenn man in Jorges Gegenwart den Frieden wahren wollte, musste man eine Menge Themen umschiffen. Joaquín blickte zu Paula hinüber, die ihr Weinglas etwas fester als nötig umklammerte, aber schwieg.

»Weißt du noch, wie wir dachten, wir müssten ins Exil gehen?«, fuhr Jorge fort.

Das war vor fünf Jahren gewesen, und der Großteil der argentinischen Linken war zu jener Zeit bereits abgetaucht, entweder ins Ausland oder in den Untergrund. Jorge und Adela hatten mit dem Gedanken gespielt, nach Rio de Janeiro oder Paris zu gehen. Joaquín stand der Moment noch deutlich vor Augen: Ihn hatte gefröstelt, als ginge nach einem langen Tag am Strand die Sonne unter. Letzten Endes hatte sein Bruder beschlossen, dazubleiben und zu kämpfen – was immer das bedeuten mochte.

»Und seht uns jetzt an« – Jorge als betrunken zu bezeichnen wäre eine maßlose Untertreibung gewesen –, »wie wir uns in den Dienst der Sache stellen, indem wir eine neue Generation gottverlassener Argentinier in die Welt setzen. Was für eine Welt hinterlassen wir Sorolla?«

»Pscht«, machte Adela.

Joaquín wusste, dass es nicht wegen des Babys war. »Hat eure Nachbarin aufgegeben?«

»Nun ja, sie kommt immer noch jedes Mal zur selben Zeit aus der Tür wie wir«, sagte Adela.

»Sie hält uns offenbar für gefährliche Intellektuelle, die überwacht werden müssen«, fügte Jorge hinzu.

Joaquín hörte in der scherzhaften Bemerkung eine Spur von Angst mitschwingen.

»Spar dir deinen Kommentar, Joaco …«

»Was? Ich habe gar nichts gesagt!«

»Nein, aber du hast mich so angesehen.« Jorge kannte ihn zu gut.

»Wie wär’s, Paula«, ging Adela dazwischen, »wenn du mir hilfst, das Gemüse rauszutragen? Bei diesem Tempo haben wir sonst an Weihnachten noch nichts gegessen. Noch ein Quilmes, Joaquín?«

»Ja, bitte.«

Als Joaquín mit seinem Bruder allein auf der Terrasse war, stand er auf und ging zu Jorge an den Grill.

»Du brätst die entraña immer zu lange«, neckte er ihn und versuchte, ihm die Grillzange zu entwinden.

»Und du willst sie roh servieren!«, gab sein Bruder zurück.

Joaquín ließ ihn in Frieden. »Also, wie ist es dir ergangen, hermanito

Er wusste genau, wie es Jorge ergangen war: Gerade als er gedacht hatte, sein Bruder sei nach dem Schrecken über eine drohende Verhaftung, die sie hatten verhindern können, zur Besinnung gekommen, da war Jorges Name in der Art Gespräch gefallen, in dem niemand jemals genannt werden wollte. Leute endeten wegen weitaus weniger in einem Graben.

»Gut, gut. Wir haben in letzter Zeit gute Arbeit geleistet.«

»In der Gewerkschaft?«

»Ja, Joaquín, in der Gewerkschaft.« Jorge drückte prüfend ein Steak, das keinen Gartest mehr benötigte.

»Du passt aber auf dich auf?« Er wusste, ihn ganz davon abzubringen war unmöglich. Jorge hatte es ihm ein ums andere Mal versprochen, eine Woche lang die Füße stillgehalten und dann wieder angefangen.

»Halt dich nur von malas compañías fern, ja?«, drängte Joaquín. »Und bleib eine Weile im Hintergrund, damit es nicht zu Missverständnissen kommt. Du hast so viel erreicht.«

»›Schlechte Gesellschaft‹, Joaco? ›Missverständnisse‹?« Jorge lachte. »Du sprichst schon genau wie sie!«

»Ich bin keiner von ihnen«, erwiderte Joaquín verärgert.

»Schon gut, du hast ja recht. Tut mir leid«, entschuldigte sich Jorge. »Aber das Gleiche gilt für uns. Wir gehören nicht zur Stadtguerilla der Montoneros. Wir patrouillieren nicht mit Maschinengewehren im Anschlag in Jeeps durch die Straßen, um wahllos Soldaten zu erschießen. Wir legen keine Bomben. Wir sind Universitätsprofessoren, keine Terroristen. Wir mögen die gleichen politischen Überzeugungen haben, aber der Zweck heiligt nicht die Mittel. Und das gilt auch für deine Seite.«

»Meine Seite?«

»Du musst zugeben, manchmal klingt es, als hättest du dich ihrer Sache verschrieben.«

»Ich wünsche mir nur Ordnung«, protestierte Joaquín.

Jorge schnaubte verächtlich.

»Was?«

»Ordnung? Ist das deine Bezeichnung für das, was hier passiert?«

»Hör zu, ich sage nicht, dass ich mit allem einverstanden bin, was sie tun. Aber wir wussten schließlich, dass wir einige Zugeständnisse würden machen müssen …«

1976 hatten alle Tageszeitungen auf ihrer Titelseite den sogenannten Prozess der Nationalen Reorganisation gefeiert und das Ende aller Staatsgefährdung, Korruption und Anarchie verkündet. Schließlich hatte das Hauptmotiv für den Militärputsch darin bestanden, den bürgerkriegsähnlichen Zuständen ein Ende zu bereiten, die das Land zu zerreißen drohten. Also ja, eine gewisse Härte war zu erwarten gewesen, um den Entführungen, Raubüberfällen, Ermordungen und Schießereien Einhalt zu gebieten. Wenn das hieß, dass Joaquín nicht mehr jedes Mal, wenn Paula einen Nachmittag in der Stadt verbringen wollte, befürchten musste, dass dort eine Bombe hochging, umso besser.

»Zugeständnisse? Joaquín, ich erkenne dich nicht mehr wieder! Wo ist der Joaquín, der mich ermutigt hat, Marx und Galeano zu lesen? Der Joaquín, der mir Carlos Mugica ans Herz gelegt und mir seine Bücher über die Revolution ausgeliehen hat? Der selbst Teil der Bewegung war? Früher hast du einmal an etwas geglaubt!«

»Ich bin erwachsen geworden. Und ich habe eine Arbeit.« Joaquín war fest entschlossen, sich nicht mit Jorge zu streiten. Zumindest nicht vor dem Nachtisch. »Und es ist ein Job wie jeder andere auch.«

»Ach, tatsächlich?«

Schweigen.

»Also mal ehrlich, Joaco. Anfangs mag es das gewesen sein, aber jetzt? Nach all dem, was wir mittlerweile wissen?«

Joaquín hasste es, wenn ihn jemand in die Enge trieb und von ihm erwartete, ein Regime zu rechtfertigen, hinter dem er selbst nicht einmal stand. Außerdem hatte er keine Lust, seine Entscheidungen vor Jorge verteidigen zu müssen: Er hatte sein Leben in geordnete Bahnen gelenkt und sich eine seriöse Arbeit gesucht, fernab der Probleme, zumindest größtenteils. Schließlich sagte er: »Ich gehöre nicht dazu.«

»Das sagst du immer wieder. Warum kann ich dann nicht aufhören, mir Sorgen um dich zu machen?«

»Und dabei wollte ich dir sagen, dass ich mir Sorgen um dich mache!«, sagte Joaquín halb im Scherz. »Jedenfalls freut es mich zu hören, dass dir die Revolution des Proletariats noch die Zeit lässt, dir Gedanken um mich zu machen«, setzte er sarkastisch nach. »Und bleibt dir neben dem Pläneschmieden, wie wir uns vom Joch der kapitalistischen Ausbeuter befreien, und den Sorgen um deinen Polizeiinspektor-Bruder noch Zeit, dir Gedanken um deinen Sohn zu machen?«

»Ja.«

Joaquín war aufgefallen, dass sich der Gesichtsausdruck seines Bruders in letzter Zeit verändert hatte; seine typische Unbeschwertheit wirkte gedämpft. »Ich mache mir ständig Sorgen um ihn. Ich bete, dass er kein Faschist wird, so wie sein Onkel.«

»Jetzt bin ich also ein Faschist?«, fragte Joaquín gespielt entrüstet. »Das ist ja immerhin eine Beförderung. Was war ich vorher noch mal? Ach ja: ein lethargischer Mitläufer. Du hast mir letztes Jahr an Weihnachten sogar dieses Buch geschenkt, über die Banalität des Bösen. Wie hieß die Autorin noch mal? Einen Moment – habe ich das gerade richtig gehört? Hast du gesagt, du betest? Du?«

Jorge lächelte. »Die Sache ist ernst, Joaco. Wir befinden uns im Krieg.«

Im Krieg. Joaquín konnte sich kaum noch an die Zeit erinnern, in der ihre Unterhaltungen nicht derartig polarisiert gewesen waren. Deshalb bin ich ihm aus dem Weg gegangen. Irgendwann hatte es keinen Sinn mehr gehabt, mit Jorge über Politik zu diskutieren. Oder über jede beliebige andere Sache: Er besaß ein seltsames Talent dafür, das Gespräch immer wieder auf sein Terrain zu lenken.

Man mochte dem jüngeren Alzada eine Menge vorwerfen, aber dumm war er nicht. Warum ritt er dann so auf dem Thema herum? Die Montoneros waren als terroristische Organisation so gut wie zerschlagen: Ihre Mitglieder waren dezimiert worden, ihre Waffen konfisziert, ihre finanziellen Ressourcen versiegt. Und vermutlich bekam Jorge auch innerhalb der Organisation Druck zu spüren. Die Tatsache, dass er zu den wenigen zählte, die man nicht hatte verschwinden lassen, musste in seinen eigenen Reihen Misstrauen erregen. Was, wenn sie ihn für einen Kollaborateur hielten? Er wäre nicht der erste Montonero, der von seinen Kameraden zum Verräter erklärt und erschossen wurde. Fühlt es sich so an, einer echten Überzeugung zu folgen? Joaquín hatte nie so fest an etwas geglaubt wie Jorge an seine Sache.

»Und wenn wir aufgeben – wenn ich aufgebe –, werden sie gewinnen«, fuhr Jorge fort.

Genau da – da begriff Joaquín. Natürlich, die abgedroschenen Phrasen und der unablässig defensive Tonfall, weil er es leid war, sich seinem »verantwortungsvollen« Bruder gegenüber rechtfertigen zu müssen. Aber auf der anderen Seite die Möglichkeit, sich eine viel zu schwere Last von der Seele zu reden. Er wollte ihm mehr erzählen. Jorge Rodolfo öffnete schweigend den Mund, wie ein Fisch, der nach Luft schnappt. Dann sagte er ruhiger: »Jetzt ist nicht der Augenblick, um den Kampf aufzugeben. Ich glaube mehr als je zuvor, dass wir wirklich einen Wandel herbeiführen können. Und dafür muss ich nahe am Geschehen sein.«

»Du meinst, nahe an den Problemen«, sagte Joaquín.

Jorges Gesicht verfinsterte sich, doch dann schmunzelte er. »Ja, das auch.«

Alles, was Joaquín wollte, war, dass Jorge diese verfluchte Militärdiktatur lebend überstand. Ihm war nach Schreien zumute. Mir gehen allmählich die Gefallen aus, Jorge! Er atmete tief ein, dann sagte er: »Hör zu, ich möchte nur wissen, dass du in Sicherheit bist. Oder zumindest vorsichtig.«

Jorge wischte sich die fettigen Hände an der Schürze ab und umarmte ihn. »Das bin ich.«

»Bitte pass auf dich auf«, raunte ihm Joaquín ins Ohr. Es fühlte sich an wie ein Flehen.

»Weißt du«, flüsterte sein Bruder, »ich sage das alles aus Liebe.«

»Ach ja?«, neckte Joaquín ihn und beugte den Kopf zurück, um ihm in die Augen zu sehen.

»Ja, immer«, bestätigte Jorge und drückte ihn fester. Keine Spur von Sarkasmus. »Und mach dir um mich keine Sorgen. Ich bin in Sicherheit.« Joaquín wollte ihm gern glauben. Schrecklich gern. »Weißt du, warum ich in Sicherheit bin?«

»Warum?«

»Weil ich mich für eine Seite entschieden habe.«

Joaquín schaute verdutzt.

»Man steht immer auf irgendeiner Seite, Joaco, vergiss das nicht. Man steht immer auf irgendeiner Seite.«

»Ich verstehe nicht …« Joaquin konnte der Logik seines Bruders nicht folgen.

»Manche Leute versuchen, auf beiden Seiten mitzumischen. Das ist ein riskantes Spiel. Kennst du den Satz: ›Ich habe eiserne Prinzipien – wenn sie dir nicht gefallen, habe ich auch noch andere.‹ Das hat Marx gesagt.«

»Karl?«

»Groucho«, sagte Jorge, zog die Augenbrauen hoch und lächelte, seine typische Geste, mit der er noch jeden für sich eingenommen hatte. »Er lag daneben, vollkommen daneben: Wir haben nur die eine Art eiserne Prinzipien. Und an die müssen wir uns halten. Und so, hermano, bleiben wir in Sicherheit.«

1981

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